Gemeinsames Europäisches Asylrecht

Merz-Gesetz hätte „EU-Recht widersprochen“: So will die EU mit GEAS die Migration steuern

  • VonJan-Frederik Wendt
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Die Migration ist das am stärksten diskutierte Thema vor der Bundestagswahl. Aber: Die EU hat bereits eine neue Asyl-Reform ab 2026 beschlossen.

Straßburg – Als Friedrich Merz (CDU) für den Asyl-Antrag seiner Fraktion im Bundestag die Unterstützung der AfD in Kauf nahm, löste der Unions-Kanzlerkandidat ein politisches Beben in Deutschland und Europa aus. Seit 1945 gab es in der Bundesrepublik eine Abmachung unter demokratischen Parteien: keine Abstimmungen mit Rechtsextremen. Aber: Welche Konsequenzen hat Merz‘ erfolgreicher Antrag? Und welche Folgen hätte der Erfolg des gescheiterten Zustrombegrenzungsgesetzes gehabt?

Die EU-Abgeordnete Birgit Sippel (SPD) sagt: Das Vorhaben der Union hätte eindeutig dem EU-Recht widersprochen. Ab 2026 soll das neue Gemeinsame Europäische Asylrecht (GEAS) die Migrationspolitik in der EU besser und gerechter gestalten. Sippel hat an dem neuen Asylrecht selbst mitgearbeitet.

Was haben Sie gedacht, als sie vom Asyl-Antrag von Friedrich Merz‘ (CDU) und der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag gehört haben?
Ich habe von Anfang an gedacht, dass sie die Stimmen der AfD nicht nur in Kauf genommen haben. Der Union war klar, dass die AfD ihr selbstverständlich zustimmt. Diese Unterstützung haben CDU und CSU also bewusst eingerechnet. Es war auch absehbar, dass keine andere Partei sie unterstützt. Insofern war das kein Zufall, sondern orchestriert. Womöglich auch in dem Glauben, dass man der AfD den Rang abläuft, wenn man selbst starke Sprüche ablässt. Das hat noch nie funktioniert.
Weil Wählerinnen und Wähler trotzdem das Original wählen, heißt es zumindest oft.
Genau. Das Problem ist dabei: Mit diesen Manövern machen demokratische Parteien die Rechtsextremen salonfähig. Das ist ein gefährliches Spiel.
Glauben Sie, dass diese zunehmende Salonfähigkeit das politische Kalkül der Union war? Dass Merz eine Zusammenarbeit mit der AfD stückweise vorbereitet? Tatsächlich verabschiedet wurde ja nur ein Antrag, der höchstwahrscheinlich in der Realität nicht viel verändern wird.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Herr Merz dachte: Jetzt haue ich ein paar markige Sprüche raus, damit die Leute denken, ‚Ach guck mal, der will wirklich etwas tun.‘ Das wird im Kopf dann übersetzt in ‚Der tut ja was‘ und das verfängt dann. Technisch hatte das zwar keine Auswirkungen. Aber es war das klare Signal: Herr Merz und seine CDU setzen auch auf die Stimmen einer Partei, mit denen man niemals zusammenarbeiten wollte – und die im Übrigen alles Mögliche vertritt, nur nicht die Interessen der Beschäftigten und der breiten Mehrheit.

Wandel in Europa: Die Geschichte der EU in Bildern

Karte der Europäische Union
Die Europäische Union ist eine wirtschaftliche und politische Vereinigung von 27 europäischen Ländern. Insgesamt leben etwa 450 Millionen Menschen im Gebiet der EU. Ursprünglich als Wirtschaftsverbund gegründet, hat sie sich zu einer Organisation entwickelt, die eine Vielzahl von Feldern abdeckt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist der europäische Binnenmarkt der größte gemeinsame Markt weltweit. Er ermöglicht die freie Bewegung der meisten Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen. © PantherMedia (Montage)
Römischen Verträge EU
Der Grundstein für die heutige EU wurde am 25. März 1957 gelegt. Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg unterzeichneten damals die Römischen Verträge. Für Deutschland setzten Kanzler Konrad Adenauer (links) und Walter Hallstein, der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, ihre Unterschriften unter das Dokument. Damit waren die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) besiegelt. © dpa
Margaret Thatcher und François Mitterrand
Am 1. Januar 1973 traten Dänemark, die Republik Irland und das Vereinigte Königreich der EG bei. Einfach war das Verhältnis zwischen Großbritannien und Europa nie. Auch Premierministerin Margaret Thatcher (links) war keine Freundin Europas. Mit der Forderung „We want our money back“ setzte die Eiserne Lady 1984 beim Gipfel in Fontainebleau einen Rabatt bei den Zahlungen Großbritanniens in die Gemeinschaftskasse durch. Verhandlungspartner wie der französische Präsident François Mitterrand (rechts) waren machtlos. © Daniel Janin, Gabriel Duval/afp
Militärjunta in Griechenland
Zum 1. Januar 1981 trat Griechenland der Europäischen Gemeinschaft bei. Die Aufnahme des Landes war heftig umstritten. Europa befürchtete, sich einen unangenehmen Partner ins Nest zu holen. So sorgte zum einen das konfliktreiche Verhältnis Griechenlands zur Türkei für Unbehagen. Noch schwerer wog die Diktatur der rechtsextremen Militärjunta, die erst im Juli 1974 zu Ende gegangen war. Ein interner Machtwechsel am 25. November 1973, als Panzer im Athener Zentrum auffuhren (im Bild), konnte den Wandel nicht mehr aufhalten. © Imago
Von wegen grenzenlos - Ärger in Schengen über Grenzkontrollen
1985 unterzeichneten Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten das „Schengener Abkommen“ über den schrittweisen Abbau der Personenkontrollen an ihren gemeinsamen Grenzen. Die weitgehende Reisefreiheit erleichterte das Leben und Arbeiten in anderen europäischen Ländern erheblich. Alle Bürgerinnen und Bürger der EU haben das Recht und die Freiheit, selbst zu entscheiden, in welchem EU-Land sie arbeiten, studieren oder ihren Ruhestand verbringen möchten.  © Harald Tittel/dpa
Franco und Juan Ćarlos
1986 nahm die EG zwei neue Mitglieder auf: Portugal und Spanien. Damit konnten beide Staaten ihre Isolation auf dem Kontinent beenden. Vor allem für Spanien war der Beitritt in die EG ein markanter Wendepunkt, um die Folgen der jahrzehntelangen Diktatur unter Francisco Franco (rechts) zu überwinden. Juan Carlos (links), der zwei Tage nach Francos Tod am 20. November 1975 zum König proklamiert worden war, spielte eine entscheidende Rolle bei der Überwindung der Diktatur. Bei der Aufnahme des Bildes im Jahr 1971 hatte er noch im Schatten Francos gestanden. © afp
Silvester 1989 am Brandenburger Tor
Eine Erweiterung im eigentlichen Sinne war es nicht. Doch als am 3. Oktober 1990 die Länder der DDR der Bundesrepublik Deutschland beitraten, wurde die EG automatisch um ein gutes Stück größer. Mit der Wiedervereinigung erstreckte sich das gesamte Gemeinschaftsrecht nun auch auf das Beitrittsgebiet. Mit einer Bevölkerungszahl von mehr als 80 Millionen Menschen ist Deutschland seitdem der bevölkerungsreichste Mitgliedsstaat. © Wolfgang Kumm/dpa
Genscher und Waigel unterzeichnen Maastrichter Vertrag
Anfang der Neunziger war die Zeit reif für einen Wandel. Die Römischen Verträge hatten ausgedient. Am 7. Februar 1992 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der EU ein neues Vertragswerk. Für Deutschland unterzeichneten Außenminister Hans-Dietrich Genscher (links) und Finanzminister Theo Waigel (rechts) das Dokument. Der Vertrag von Maastricht zur Gründung der Europäischen Union trat am 1. November 1993 in Kraft. Mit dem EU-Vertrag entwickelte sich die europäische Gemeinschaft zu einer politischen Union. © dpa
Volksabstimmung zum EU-Beitritt in Norwegen 1994
1995 nahm die EU drei neue Länder auf. In Österreich, Schweden und Finnland hatten zuvor die Menschen in Volksentscheiden dem Beitritt zugestimmt. Auch Norwegen ließ das Volk in einem Referendum darüber abstimmen. Doch hier sah das Ergebnis anders aus. 52,2 Prozent der Wahlberechtigten in Norwegen votierten in einer Volksabstimmung gegen einen Beitritt.  © Berit Roald/Imago
Tschechien feiert EU-Beitritt
Neun Jahre später kam es zur ersten Osterweiterung. Am 1. Mai 2004 traten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und die Republik Zypern der EU bei. Die neuen EU-Länder feierten den Beitritt, in Prag (hier im Bild) und anderen Hauptstädten freuten sich die Menschen über eine Zukunft unter dem Dach der EU. Die Europäische Union setzte sich somit aus 25 Mitgliedstaaten zusammen. © Michal Svacek/afp
Rumänien - EU
Der zweite Teil der Osterweiterung ließ nicht lange auf sich warten. Am 25. April 2005 unterzeichneten Rumänien und Bulgarien den Beitrittsvertrag zur EU. Beide Länder wurden zum 1. Januar 2007 in die Europäische Union aufgenommen. Für die Menschen in Bukarest (hier im Bild) gab es also mehr als nur einen Grund, die Nacht zum Tage zu machen. Die Fläche der EU wuchs mit dieser Erweiterung auf etwas mehr als 4,3 Millionen Quadratkilometer.  © Robert Ghement/dpa
Kroatien wird EU-Mitglied
Schon im Juni 2004 war Kroatien der Status eines offiziellen Beitrittskandidaten verliehen worden. Doch die Verhandlungen verzögerten sich mehrmals, erst sieben Jahre später konnten sie erfolgreich abgeschlossen werden. Kurz danach stimmten 66,3 Prozent der Wahlberechtigten bei einem Referendum für den Beitritt in die EU. Am 1. Juli 2013 war schließlich der Zeitpunkt gekommen, um vor dem Europäischen Parlament in Straßburg die Flagge Kroatiens zu hissen. Die EU bestand damit aus 28 Mitgliedsstaaten. © Frederick Florin/afp
EU Parlament Straßburg
Jeder europäische Staat hat laut Artikel 49 des EU-Vertrags das Recht, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen. Wichtig dabei: „Europäisch“ wird politisch-kulturell verstanden und schließt die Mitglieder des Europarats mit ein. Das betrifft zum Beispiel die Republik Zypern. Eine wichtige Rolle spielt im Beitrittsverfahren das EU-Parlament in Straßburg (im Bild). Verschiedene Delegationen verfolgen die Fortschritte in den Beitrittsländern und weisen auf mögliche Probleme hin. Zudem müssen die Abgeordneten dem EU-Beitritt eines Landes im Parlament zustimmen. Derzeit gibt es neun Beitrittskandidaten und einen Bewerberstaat. © PantherMedia
Edi Rama Albanian EU
Albanien reichte 2009 den formellen EU-Mitgliedschaftsantrag ein – vier Jahre, bevor Edi Rama (im Bild) das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Es dauerte aber noch eine lange Zeit, bis die Verhandlungen beginnen konnten. Grund war ein Einspruch der Niederlande, die sich zusätzlich zu den EU-Kriterien auch die Sicherstellung der Funktion des Verfassungsgerichts und die Umsetzung eines Mediengesetzes wünschte. Im Juli 2022 konnte die Blockade beendet werden und die EU startete die Beitrittsverhandlungen. © John Thys/afp
Bosnien und Herzegowina EU
Auch Bosnien und Herzegowina drängt in die EU. Gut erkennen konnte man das zum Beispiel am Europatag 2021, als die Vijećnica in der Hauptstadt Sarajevo mit den Farben der Flaggen der Europäischen Union und Bosnien und Herzegowinas beleuchtet war. EU-Botschafter Johann Sattler nutzte sofort die Gelegenheit, um das alte Rathaus zu fotografieren. Vor den geplanten Beitrittsverhandlungen muss das Balkanland noch einige Reformen umsetzen. Dabei geht es unter anderem um Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen.  © Elvis Barukcic/afp
Georgien EU
Zum Kreis der EU-Beitrittskandidaten gehört auch das an Russland grenzende Georgien. Das Land, in dem rund 3,7 Millionen Menschen leben, hatte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs die Aufnahme in die EU beantragt. Auf schnelle Fortschritte im Beitrittsprozess kann Georgien allerdings nicht hoffen. Dabei spielt auch ein ungelöster Territorialkonflikt mit Russland eine Rolle. Nach einem Krieg 2008 erkannte Moskau die abtrünnigen georgischen Gebiete Südossetien (im Bild) und Abchasien als unabhängige Staaten an und stationierte Tausende Soldaten in der Region. © Dimitry Kostyukov/afp
Moldau EU
Seit Juni 2022 gehört auch Moldau offiziell zu den EU-Beitrittskandidaten. Das Land, das an Rumänien und die Ukraine grenzt, reichte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs das Beitrittsgesuch ein. Am 21. Mai 2023 demonstrierten 80.000 Menschen in der Hauptstadt Chișinău für einen Beitritt Moldaus in die Europäische Union. Die damalige Innenministerin Ana Revenco (Mitte) mischte sich damals ebenfalls unters Volk. © Elena Covalenco/afp
Montenegro EU
Das am kleine Balkanland Montenegro will beim EU-Beitritt zügig vorankommen. Direkt nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten Ende Oktober 2023 verkündete Milojko Spajic (im Bild), dass er den Beitritt Montenegros zur EU vorantreiben und die Justiz im Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen stärken wolle. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) hörte es damals sicher gerne. Montenegro verhandelt seit 2012 über einen Beitritt, hatte sich aber vor der Wahl nicht mehr ausgiebig um Reformen bemüht.  © Savo Prelevic/afp
Scholz Westbalkan-Gipfel Nordmazedonien EU
Nordmazedonien kämpft schon seit langer Zeit für den Beitritt in die EU. Leicht ist das nicht. So hat das kleine Land in Südosteuropa aufgrund eines Streits mit Griechenland sogar schon eine Namensänderung hinter sich. Seit 2019 firmiert der Binnenstaat amtlich unter dem Namen Republik Nordmazedonien. Auch Bulgarien blockierte lange den Beginn von Verhandlungen. Bei einem Gipfeltreffen im Oktober 2023 drängte Kanzler Olaf Scholz dann aber auf eine möglichst schnelle Aufnahme der Balkanstaaten in die EU. Nordmazedoniens Ministerpräsident Dimitar Kovacevski (rechts) war sichtlich erfreut. © Michael Kappeler/dpa
Serbien EU
Auch Serbien strebt in die EU. Wann es zu einem Beitritt kommt, scheint derzeit aber völlig offen. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat sich die serbische Regierung geweigert, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Damit ist Serbien der einzige Staat in Europa, der keine Sanktionen verhängt hat. Offen bleibt, welche Auswirkungen das auf die seit 2014 laufenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt Serbiens hat. Die politische Führung in Belgrad, die seit 2012 von Präsident Aleksandar Vučić (im Bild) dominiert wird, zeigt zudem wenig Willen zu Reformen. Demokratie und Medienpluralismus höhlt sie zunehmend aus. © Andrej Isakovic/afp
Türkei EU
Die Türkei ist bereits seit 1999 Beitrittskandidat. Die Verhandlungen selbst haben im Oktober 2005 begonnen. Inzwischen hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Beziehungen wieder auszubauen, sofern sich die Regierung in Ankara unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan (im Bild) in einigen Punkten bewegt. Zuvor waren Projekte wie die geplante Modernisierung der Zollunion und eine Visaliberalisierung wegen Rückschritten bei Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit in der Türkei auf Eis gelegt worden. Ein EU-Beitritt scheint aktuell weiter entfernt denn je. © Adem Altan/afp
Ukraine EU
Im Dezember 2023 wurde der Beginn von Verhandlungen mit der Ukraine grundsätzlich beschlossen. Allerdings muss die Ukraine sämtliche Reformauflagen erfüllen. So waren nach dem letzten Kommissionsbericht manche Reformen zur Korruptionsbekämpfung, zum Minderheitenschutz und zum Einfluss von Oligarchen im Land nicht vollständig umgesetzt. Ohnehin gilt es als ausgeschlossen, dass die Ukraine vor dem Ende des Ukraine-Kriegs EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew laut EU-Vertrag militärischen Beistand einfordern – und die EU wäre offiziell Kriegspartei. © Roman Pilipey/afp
Kosovo EU
Kosovo hat einen Mitgliedsantrag eingereicht, jedoch noch nicht den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Das Land hat 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Die Freude darüber war damals bei den Menschen riesengroß. Das Bild macht auch deutlich, dass vor allem Menschen albanischer Herkunft im Kosovo beheimatet sind. Die Flagge Albaniens (links) ist ebenso zu sehen wie die des neuen Landes (hinten). Mehr als 100 Länder, darunter auch Deutschland, erkennen den neuen Staat an. Russland, China, Serbien und einige EU-Staaten tun dies aber nicht. Ohne die Anerkennung durch alle EU-Länder ist eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aber nicht möglich.  © Dimitar Dilkoff/afp
Banksy-Kunstwerk zu EU und Brexit
Seit dem 31. Januar 2020 besteht die EU nur noch aus 27 Staaten. Nach 47 Jahren verließ das Vereinigte Königreich als erstes Mitgliedsland die Europäische Union. Im Juni 2016 hatte eine knappe Mehrheit in einem Referendum für den Abschied aus der EU gestimmt. Der britische Street-Art-Künstler Banksy kommentierte den Brexit auf seine Art. In der Hafenstadt Dover malte er eine riesige EU-Flagge an eine Hauswand – zusammen mit einem Handwerker, der einen der Sterne entfernt. © Glyn Kirk/afp
Friedensnobelpreis für EU.
2012 wurde die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Herman Van Rompuy, José Manuel Barroso und Martin Schulz (von links nach rechts) nahmen den Preis bei der Verleihung im Osloer Rathaus am 10. Dezember 2012 in Empfang. © Cornelius Poppe/afp

Asyl-Debatte in Deutschland: EU-Abgeordnete wünscht sich mir Sachlichkeit

Mit diesem impulsiven Verhalten hatten viele auch im ersten TV-Duell zwischen Merz und Olaf Scholz gerechnet, aber viele Emotionen zeigten beide Kandidaten nicht. Im Nachgang haben zahlreiche Kommentatoren die sachliche Debatte gelobt. Ist das nicht bitter, wenn ein Rededuell zwischen den aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten für die größtenteils sachliche Auseinandersetzung gelobt wird?
Ich würde mir sehr viel mehr sachliche Debatten wünschen. Ich verstehe aber auch, dass Menschen sehen wollen, dass den Politikern Themen wirklich wichtig sind – und diese Leidenschaft kann durch Sprache und völlig ohne Hetze transportiert werden. Wenn wir zunehmend markige Sprüche und das Schüren von Ängsten sehen wollen – statt Sachlichkeit und Fakten – dann wäre das eine gefährliche Entwicklung.
Birgit Sippel (SPD) sitzt seit 2009 im Europäischen Parlament und hat am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) mitgearbeitet.
Beschreiben Sie gerade das Kernproblem ihres Kanzlerkandidaten? Das wohl häufigste Attribut, mit dem Scholz tituliert wird, ist unnahbar.
Er ist nach außen eher ein trockener Mensch, eben trocken hanseatisch. So ist er eben. Nach meiner Erfahrung ist er viel nahbarer, wenn er nicht vor großem Publikum steht, sondern sich mit Menschen unterhält. Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges hatte ich den Eindruck, dass viele Leute glücklich über einen – in Anführungszeichen – langweiligen Kanzler waren. Viele schätzten, dass Scholz einen kühlen Kopf bewahrt, nach Fakten urteilt und sich nicht treiben lässt. Dass seine Art jetzt negativer rüberkommt, hat vermutlich mit dem sehr kurzen Wahlkampf vor der Bundestagswahl zu tun. Alles ist hektisch und es gibt keine Zeit, damit sich eine Kampagne entfalten kann. Aber wie gesagt: Ich würde mich freuen, wenn sich alle stärker um vermeintlich langweilige und eben sachliche Debatten bemühen.

Asyl-Debatte nach Aschaffenburg: Hätten Merz und AfD das EU-Recht gebrochen?

Apropos Wahlkampf: Spätestens seit Magdeburg und Aschaffenburg ist die Migrationspolitik das bestimmende Thema. Wenn das Zustrombegrenzungsgesetz der Union nicht gescheitert wäre und das Land seine Grenzen quasi geschlossen hätte: Würde Deutschland nicht EU-Recht brechen?
Tatsächlich würde das dem EU-Recht widersprechen. Ich möchte an dieser Stelle betonen: Wenn wir tatsächlich jede Person und jedes Fahrzeug an allen Grenzen kontrollieren wollten, wäre das ein enormer Aufwand. Es führt letztlich zu langen Staus und Wartezeiten an den Grenzen, was sich negativ auf unsere Wirtschaft, aber auch die Menschen auswirkt, die als Pendler täglich eine Grenze überqueren.
Was wären die rechtlichen Konsequenzen?
Die EU kann Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Wenn ein Land nach einer festgelegten Frist Regeln immer noch nicht einhält, kann die Kommission den Mitgliedstaat vor den Europäischen Gerichtshof bringen. Dieser kann dann Bußgelder festsetzen.
Mehrere Migranten sitzen in einem Boot im Mittelmeer während Rettungskräfte versuchen ihnen zu helfen.
Wie hoch wären diese?
Das können durchaus hohe Summen sein. Der Gerichtshof hat 2022 beispielsweise Ungarn ein Bußgeld von über 200 Millionen Euro auferlegt, weil es eine Rechtsprechung nicht umgesetzt hat. Zuzüglich einer Strafzahlung von einer Million Euro, für jeden Tag, den Ungarn hier nicht tätig wird.

EU will Migrations-Politik mit GEAS verbessern

Wären Bußgelder das einzige Rechtsmittel?
Über Vertragsverletzungsverfahren gibt es bei anhaltenden und ernsthaften Verletzungen der EU-Grundsätze noch ein Verfahren, um einem Mitgliedstaat die Stimmrechte auszusetzen. Der wirkliche Schaden wäre, dass ein großes Land wie Deutschland damit auch ein Signal an andere EU-Länder sendet, eben keine sachliche Antwort auf Fragen von Asyl und Migration zu finden, sondern auch für besonders schutzbedürftige Menschen schlicht die Grenzen zu schließen. Damit wird die Axt an das gerade erst beschlossene europäische Asylsystem gelegt, womöglich auch bewusst jetzt im Wahlkampf. Denn die Einigung kam auch mit deutscher Unterstützung und einer sozialdemokratischen Innenministerin zustande.
Das zuletzt so häufig zitierte Gemeinsame Europäische Asylsystem – kurz GEAS – soll die Migrationsprobleme innerhalb der EU lösen. Wie?
Zuvor will ich auf eine Problematik hindeuten. Ich bin immer irritiert, wenn Leute sagen: Wir wollen keine Migranten mehr, aber wir brauchen viele Menschen, die bei uns arbeiten und die Wirtschaft am Laufen halten. Dann denke ich immer: Diese Migranten, die als Geflüchtete kommen, sind in der großen Mehrheit mit etwas Zeit diejenigen, die in Deutschland unsere Busse fahren, die in Handwerksbetrieben arbeiten und uns als Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte versorgen. Allerdings habe ich für einen Punkt Verständnis: Die Menschen wollen wissen, wer ankommt. Und hier setzt GEAS an. Menschen, die an den europäischen Grenzen ankommen, werden systematisch identifiziert und registriert. Es wird geprüft, ob sie früher schon einmal in der EU waren oder ob sie schon einmal wegen einer Straftat verurteilt wurden.
Was geschieht dann?
Die Registrierung und ersten Prüfungen dauern maximal sieben Tage. Und weil wir dann wissen, wer kommt, können wir direkt danach die Zuständigkeiten für die EU-Staaten feststellen. Wer etwa in Italien ankommt, aber Verwandte mit Asylstatus in Frankreich hat, würde dort das Asylverfahren durchlaufen.

Wie Ungarn und andere Staaten keine Migranten aufnehmen müssten

Klingt nach einem einfachen und theoretisch reibungslosen Ablauf. Werden alle Mitgliedsstaaten so unproblematisch kooperieren? Beispielsweise Ungarn?
Für diese Staaten gibt es leider eine kleine Ausflucht. Viktor Orbán könnte sagen: Ich will niemanden aufnehmen. Dafür bin ich bereit, anderen Ländern Geld zu zahlen und ihnen ungarisches Personal und notwendige Technik zu schicken.
Verschiedene Nichtregierungs-Organisationen äußern den Vorwurf: Diese Einrichtungslager entsprechen nicht humanitären Kriterien – vor allem, weil dort auch Kinder untergebracht werden sollen.
Natürlich ist es schwer, wenn Kinder in geschlossene Einrichtungen kommen. Leider ist es uns nicht gelungen, für Kinder und Familien eine Ausnahme durchzusetzen. Umso wichtiger ist es, auf Einhaltung des Gesetzes über die Aufnahmebedingungen zu achten. Kinder brauchen Spielmöglichkeiten, unbegleitete Minderjährige brauchen eine Vertretung und müssen getrennt von Erwachsenen untergebracht werden. Und während des Asylverfahrens muss auch ein Schulbesuch ermöglicht werden.
Dürfen die Bewohner auch mal etwas frische Luft schnuppern?
Es geht ja nicht um Einrichtungen mit Zellen, sondern es geht oft um Gebäude oder Container auf einem umschlossenen Gelände, das man verlassen kann. Ich würde mir aber wünschen, dass, wenn sich die neuen Regeln eingespielt haben, mehr Bewegungsfreiheit möglich wird.

GEAS soll EU-Verteilung von Flüchtlingen gerechter gestalten

GEAS verspricht eine gerechtere Verteilung der Migranten. Wie sieht diese aus?
Die Kommission wird regelmäßig prognostizieren, wie viele Menschen nach Europa flüchten werden. Dann erstellt sie Prognosen, welche Mitgliedstaaten gegebenenfalls unter Migrationsdruck geraten könnten und welche Solidaritätsmaßnahmen aus den anderen Mitgliedstaaten in solchen Fällen benötigt werden – zum Beispiel, wie viele Personen in andere Länder verteilt werden sollten. Dazu erstellt die Kommission einen Schlüssel zur Verteilung. Und dann entscheiden die Mitgliedsstaaten, wie viele sie aufnehmen.
Wenn Länder wie Ungarn – oder Merz es für Deutschland geplant hatte – niemanden aufnehmen: Was passiert dann?
Den Mitgliedstaaten steht es frei, ihre Solidaritätsmaßnahmen aus drei Optionen zu wählen: Aufnahme von Personen, finanzielle Unterstützung oder materielle Unterstützung. Aber für eine dieser Optionen müssen sie sich entscheiden. Sollte dies nicht geschehen, dann kann die EU die betreffenden Staaten sanktionieren oder verklagen. In einem weiteren Schritt sollte die EU den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus nutzen, um EU-Hilfen einzufrieren. Das wäre nicht meine Wunschlösung, aber im Einzelfall sollten wir diesen Druck ausüben. 

EU-Abgeordnete sieht Gefahr für Erstarken der Rechtsextremen in Europa

Warum tritt GEAS erst 2026 in Kraft?
Aufgrund der weitreichenden Änderungen haben die Mitgliedsstaaten auf einer Phase von zwei Jahren für die Umsetzung bestanden.
Werden die rechtsextremen Kräfte durch diese Verzögerung nur weiter gestärkt?
Die Gefahr besteht, aber umso wichtiger ist jetzt die Konzentration auf die Umsetzung dessen, was beschlossen wurde. Die Beschlussfassung hat gerade im Rat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Dafür sollten sie jetzt alle Beschlüsse des Asylpaketes zügig umsetzen. (Interview: Jan-Frederik Wendt)

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