Risikante Manöver auf heiklem Feld

Merz‘ „all in“ mit der AfD entsetzt Historiker: „Parlamentarische Demokratie ist kein Pokerspiel!“

  • VonBettina Menzel
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  • Florian Naumann
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Was bleibt vom Streit um Migration und AfD-Stimmen im Bundestag? Ein Historiker warnt bei FR.de eindringlich vor „Pokerspielen“ mit der Demokratie.

Berlin – Der Bundestag hat am Freitag eine so turbulente wie umkämpfte Debatte erlebt: Der von Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) angeführten Unionsfraktion fehlten am Ende zwölf Stimmen, um ein „Gesetz des illegalen Zustroms von Drittstaatsangehörigen“ durch das Parlament zu bringen. Für den Vorschlag votierten auch 75 AfD-Abgeordnete – ihre Stimmen hätten im Erfolgsfalle eine entscheidende Rolle gespielt.

Im Plenum hatten Politikerinnen und Politiker von SPD, Grünen und Linken auf einen drohenden Dammbruch hingewiesen; größer noch als am Mittwoch, als Union, FDP, AfD und Fraktionslose einen nicht-bindenden „Fünf-Punkte-Plan“ Merz‘ zur Migration beschlossen.

Über Merz‘ Motivation – inhaltlich oder strategisch, etwa im Griff nach einer absoluten Mehrheit – lässt sich spekulieren. Der Historiker Dr. Jonas Stephan erklärt der Frankfurter Rundschau indes: „Wenn es Friedrich Merz in der letzten Woche um die Sache ging, hat er ihr einen Bärendienst erwiesen.“

Merz entsetzt Historiker: „Verdammt nochmal kein Pokerspiel“

„Er wollte mit seinem Vorstoß in die Migrationspolitik ‚All In‘ gehen, wie er sagt. Doch die parlamentarische Demokratie ist verdammt nochmal kein Pokerspiel.“ Stephan verwies auf möglich Parallelen zur Weimarer Republik – und in letzter Instanz zur Machtergreifung der Nationalsozialisten.

„1933 ging alles blitzschnell. Innerhalb von Wochen wurde der Rechtsstaat ausgehebelt, das Parlament entmachtet, zahllose Menschen auf offener Straße verschleppt, gefoltert, ermordet“, fügte der Wissenschaftler der Ruhr-Uni Bochum und Betreiber des Podcasts „Deutschland 33/45“ hinzu. „Ein Jahr zuvor hätte das niemand für möglich gehalten.“

Den bürgerlichen Parteien sei die Zusammenarbeit mit der NSDAP vor 1933 als „notwendiges Übel“ oder „kalkuliertes Risiko“ erschienen. „Indem man Hitlers Ernennung zum Kanzler tolerierte, wenn nicht sogar unterstützte, wollte man ‚All In‘ gehen. Was folgte, war die Bankrotterklärung der parlamentarischen Demokratie.“

Historiker warnt Merz vor „bloßer Übernahme von Talking Points der AfD“

Mahnende Worte hatte bereits nach dem Mittwoch auch der Historiker Dominik Rigoll an die CDU gerichtet. Angesichts der Wahlerfolge der AfD in Deutschland und der neuen Amtszeit des „Nationalisten“ Donald Trump in den USA eine „Kurswende“ zu vollziehen, erscheine ihm „historisch blind“, sagte er dem Portal web.de.

Rigoll schloss nicht aus, dass es sich bei der zurückliegenden Bundestagswoche um eine „Zäsur“ gehandelt haben könnte. Entweder im Sinne einer Zusammenarbeit von CDU und AfD – oder aber eines „Weckrufs“ für die Christdemokraten. Rigoll riet Merz‘ Partei dazu, eine demokratische konservative oder auch rechte Politik zu formulieren, die aber keine „bloße Übernahme von Talking Points der AfD ist“. Letztere könnte auch aktueller Forschung zufolge die AfD „normalisieren“.

„Zustromgesetz“ im Bundestag: Mitte wird sich nicht einig – „Chance verpasst“

Die politischen Folgen des Freitags bleiben abzuwarten. Versuche der inhaltlichen Annäherung zwischen SPD und Grünen einerseits sowie Union und FDP andererseits waren trotz langer Unterbrechung der Sitzung erfolglos geblieben – teils wohl auch wegen eines Taktierens über den zeitlichen Ablauf der parlamentarischen Schritte, gerade angesichts der nahenden Bundestagswahl. Grüne und SPD monierten, Merz wolle mit der Drohung einer Abstimmung mit der AfD maximale Zugeständnisse „erpressen“.

Dass am Ende keine Mehrheit für Merz‘ Vorstoß zustande kam – trotz Zustimmung nunmehr auch weiter Teile der BSW-Gruppe – hing mit mehreren Enthaltungen und Absenzen bei der FDP zusammen. „Für mich persönlich ist es unvorstellbar, unter bewusster Inkaufnahme von AfD-Stimmen zu stimmen”, sagte die Liberale Kristine Lütke unserer Redaktion. Man habe aber „durch parteipolitisches Taktieren eine große Chance verpasst“, fügte sie hinzu. Die FDP sei sehr kompromissbereit gewesen.

„Wenn wir unser Gemeinwesen auch an einem christlichen Menschenbild orientieren, kann es kein Zusammenwirken mit einer schon jetzt in Teilen gesichert rechtsextremen Parteien wie der AfD geben (...).“

Monika Grütters in einem offenen Brief

Aber auch der CDU fehlten mehrere Abgeordnete bei der Abstimmung. Bemerkenswert viele davon mit Verbindungen zur alten Merkel-CDU: Etwa Ex-Kanzleramtschef Helge Braun, der einstige Ostbeauftragte Marco Wanderwitz oder die früheren Staatsministerinnen Annette Widmann-Mauz und Monika Grütters. Letztere hatte ihr Fernbleiben bereits vorab angekündigt.

Migrations-Streit im Bundestag – Kritik auch an Rot-Grün

SPD und Grüne können sich ebenfalls kaum als Sieger fühlen – wie auch das teils betretene Schweigen im Plenum nach Bekanntgabe des Ergebnisses der Abstimmung andeutete. In der Debatte mussten sich die Parteien mehrfach von Union und FDP vorhalten lassen, einzig und allein auf die Abstimmungsarithmetik statt auf Gesetzesinhalte einzugehen. Am Mikrofon des Sender Phoenix verwies der Grüne Anton Hofreiter später auf potenziell zerrüttende Wirkung des Gesetzes für die europäische Kooperation – und auf positive Integrationseffekte durch Familiennachzug.

Merz erklärte nach der Abstimmung, er fühle sich trotz der Niederlage in der Abstimmung „gestärkt“. AfD-Chefin Alice Weidel höhnte indes, Merz sei als Tiger gestartet und „als Bettvorleger gelandet“. Möglich scheint auch, dass SPD und Grüne, die mutmaßlichen potenziellen Koalitionspartner Merz‘ nach der Wahl den 69-Jährigen nun nicht mehr als Kanzler akzeptieren. Ein Politologe hatte schon vor dem Freitag aber eine Gefahr ins Blickfeld gerückt: Das gescheiterte Manöver könnte ein „Beitrag zur Aufwertung der AfD“ gewesen sein. (fn/bme)

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