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Forscher erklärt: Warum AfD-Rhetorik aus dem Munde der CDU noch mehr Wirkung hat
VonFlorian Naumann
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„Man darf ja nichts mehr sagen“ – ein Experte erkennt hinter diesem Satz ein Muster. Wenn andere Parteien AfD-Narrative übernehmen, habe es besondere Wirkung.
Wie konnten AfD, FPÖ und Co. so stark werden? Der Politikwissenschaftler Vicente Valentim versucht diese Frage in seinem neuen Buch „The Normalization of the Radical Right“ zu beantworten. In mehreren europäischen Staaten hat er einen mehrstufigen Prozess ausgemacht: Eine (gefühlte) Krise als Trigger, ein Moment der verbalen Regellosigkeit und ein Spiel von plötzlich erkennbarer politischer Nachfrage und Angebot stehen im Zentrum. Am Ende erodieren soziale Normen.
Welche Rolle aber spielen Parteien der Mitte, die sich auf scharfe Rhetoriken einlassen? Warum scheint der Prozess mancherorts noch weiter fortgeschritten? Und wieso ist trotz der offenbar bröckelnden Tabus gerade von Rechtsaußen immer wieder die These zu hören, man dürfe nichts mehr sagen? Im Interview mit FR.de von IPPEN.MEDIA erklärt Valentim weitere Erkenntnisse aus seiner Forschung.
AfD und das „Man darf ja nicht sagen...“: „Das ist eine Mobilisierungstechnik“
Herr Valentim, „man darf ja nicht mehr sagen, dass ...“ – dieser Satz begegnet einem in Deutschland regelmäßig. Warum ist er – auch, aber nicht nur – für das extreme Lager so zentral?
Das ist tatsächlich nicht nur in Deutschland, sondern über ganz Europa hinweg zu hören. Rechtsradikale nutzen diese Wendungen immer wieder. Oder sie verweisen auf „political correctness“ – was eine andere Art ist, dasselbe zu sagen. Ich denke, sie nutzen dieses Muster bewusst, weil es eine gewisse Anzahl von Menschen in der Gesellschaft gibt, die diesen Eindruck haben.
Obgleich der Satz paradox ist, denn im selben Atemzug ist die vermeintlich verbotene Haltung ja ausgesprochen. Sie sind zum Schluss gekommen, dass rechtsradikale Parteien soziale Normen der Gesellschaft erfolgreich schleifen; geächtete, oft menschenfeindliche Haltungen werden sagbar. Wie passt dieser Standardsatz da hinein?
In gewisser Weise geben diese Politiker Meinungen eine Stimme, die bereits als Gedanken in den Köpfen von Wählerinnen und Wählern existieren, aber nicht in der Öffentlichkeit ausgesprochen werden. Mehr noch: Sie betonen den Umstand, dass es soziale Normen gegen diese Haltungen gibt. Und sie sagen typischerweise implizit oder explizit, dass diese Normen verschwinden sollten. Die betreffenden Wählenden sollen zum Schluss kommen, dass sie diese Politiker wählen sollten, wenn sie diese Normen satthaben. Unter dem Strich ist das eine Mobilisierungstechnik.
FPÖ, AfD, Nachahmer und die Folgen: „Hat definitiv eine Auswirkung auf die Gesellschaft“
Mir scheint, es gibt zwei Arten dieser „Man darf nicht sagen, dass ...“: In Deutschland gibt es Standpunkte, die stets verpönt waren, an denen die AfD nun rüttelt. Etwa, wenn es um das Gedenken an den Holocaust geht. Andere sprachliche „Normen“ sind neuer, beispielsweise wenn es um Rücksichtnahme auf die Gefühle von Minderheiten geht.
Ich denke, Sie haben recht, dass sich soziale Normen über die Zeit verändern und von Ort zu Ort unterschiedlich sein können. Es gibt sehr alte Regeln – einige Standpunkte wurden über Jahrzehnte hinweg als No-Go bewertet. Andere sind mit der Entwicklung der Gesellschaft, mit dem Wechsel der Generationen, erst entstanden. Schlussendlich geht es in beiden Fällen aber um soziale Normen. Und ein Spezifikum rechtsradikaler Parteien ist, dass sie dazu tendieren, bewusst und explizit alle erdenklichen Regeln ihres jeweiligen Landes zu brechen.
Im Buch beschäftige ich mich vor allem mit dem Moment, in dem Parteien in Institutionen und Parlamente eintreten. Das ist aus meiner Sicht ein Schlüsselmoment der Normalisierung – nach dem Einzug ins Parlament werden Parteien als wesentlich normaler oder akzeptabler empfunden. Aber das heißt nicht, dass das das Ende der Entwicklung ist.
Sondern?
Es gibt Raum für eine weitere „Normalisierung“: Eine Partei, die so lange Teil der Politik ist wie die FPÖ, über alle Schwellen der Normalisierung hinweg, bis zu Koalitionsbeteiligungen und nun sogar Wahlsiegen, kann als „noch normaler” wahrgenommen werden. Aber ich denke, da geht es eher um das Überschreiten solcher Schwellen als nur um verstreichende Zeit. Der Unterschied zwischen FPÖ und AfD ist weniger, dass eine Partei älter ist als die andere. Sondern, dass die FPÖ bereits Teil der Regierung war und jetzt die Wahl in Österreich gewonnen hat.
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Wirkt das Verschieben dieser verbalen Grenzen nachhaltig auf die Gesellschaft?
Das hat definitiv eine Auswirkung auf die Gesellschaft hat. Das ist eines der Kernargumente meines Buches: Wenn Parteien und Politiker Erfolg haben, obwohl sie diese Ansichten äußern, halten Wähler diese Standpunkte für akzeptabler, als sie selbst zuvor dachten. Wenn Sie Deutschland und Österreich vergleichen: Der Fakt, dass in Österreich gewisse Äußerungen möglich sind, die in Deutschland noch undenkbar sind, kann mit der langen Existenz und den Erfolgen der FPÖ zu tun haben. Sie konnte die Grenzen über die Zeit weiter verschieben. Und eine Hauptfrage für die Gesellschaft ist, was Menschen in ihrem Alltag, in ihren Gesprächen mit Freunden, Familie, Kollegen für sagbar halten.
AfD-Rhetorik bei der CDU „erodiert Normen sogar noch mehr“
Arbeiten von meinem Kollegen Tarik Abou-Chadi und mir zeigen tatsächlich, dass sich – grob gesprochen – nach Erfolgen der radikalen Rechten alle Parteien im politischen Spektrum diesen rechtsradikalen Positionen annähern. Das ist ein Muster, das sich in vielen Ländern zeigt. Für ein Paper habe ich mit Kollegen in Deutschland untersucht, welchen Einfluss das auf soziale Normen hat: Wir haben Antimigrations-Statements der AfD mit sehr ähnlichen Äußerungen der CDU verglichen.
Was wir herausgefunden haben: Wenn die CDU Rhetoriken annimmt, die typisch für Rechtsradikale sind, erodiert sie die Normen sogar noch mehr, als es die AfD tut. Dafür gibt es natürlich mehrere Erklärungsansätze. Einer ist, dass in einem Moment des Erfolgs der AfD alle denkbaren Erosionen schon geschehen sind. Unsere These ist aber, dass Mainstreamparteien wie die CDU stärker als Teil des politischen Systems angesehen werden. Sie haben viel mehr Macht, der Gesellschaft zu zeigen, was akzeptabel ist. Wie andere Parteien auf den Erfolg Rechtsradikaler reagieren, ob sie Rhetoriken übernehmen oder nicht, ist entscheidend dafür, wie sich die Wahrnehmung des Akzeptablen und Inakzeptablen auf längere Sicht in der Gesellschaft entwickelt.
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Das sind erstmal nüchterne Befunde. Aber es stecken ja größere Fragen des „Richtig und Falsch“ dahinter.
Ich betreibe empirische Arbeit, ich bin kein normativer Philosoph. Ich denke, dass die Erkenntnisse in meinem Buch mit zwei verschiedenen normativen Standpunkten vereinbar sind. Einer lautet, dass diese Entwicklungen gut sind, weil Menschen Sichtweisen hatten, die sich nicht in die politische Diskussion übersetzten. Nun tun sie das. Das kann man als etwas sehen, worum sich Demokratien bemühen sollten.
Und die andere?
Der andere Standpunkt ist, dass das eine schlechte Entwicklung ist – denn wenn sich Individuen mit rechtsradikalen Sichtweisen stärker berechtigt fühlen auf Grundlage ihrer Haltungen zu agieren, kann das allerhand negative Effekte haben, etwa mit Blick auf Gängelung von oder sogar Gewalt gegen Minderheiten.
Ich ganz persönlich, als Bürger, teile diese Meinung. Ich denke, selbst wenn man in Sachen Repräsentation etwas gewinnt – die einhergehenden Verluste, mit Blick auf Minderheiten und unterprivilegierte Gruppen, die sich weniger sicher als zuvor fühlen, sind das nicht wert. Natürlich habe ich mein Buch auch vor Leuten präsentiert, die es mit ersterer Variante halten. Ich verstehe das und es ist mit den Erkenntnissen des Buches kompatibel. Aber als Bürger, nicht so sehr als Wissenschaftler, habe ich eine andere Meinung. (Interview: Florian Naumann)