Familien-Ratgeber

Typische Schwierigkeiten, die Einzelkinder ihrem Therapeuten im späteren Leben offenbaren

Belastung durch den Drang zur Perfektion, die alleinige Verantwortung für die Elternpflege und der ständige Druck: All das sind Herausforderungen, mit denen Einzelkinder im Erwachsenenalter oft konfrontiert sind.

So sehr die Geschwister in der Kindheit und Jugend manchmal nerven können, am Ende des Tages sind viele doch froh, sie zu haben. Ein Gefühl, dass Einzelkinder nicht kennen – und das in Therapiesitzungen im Erwachsenenalter auf den Tisch kommen kann. Der Wunsch nach Geschwistern ist nur eines der Themen, die aufgearbeitet werden, wenn man allein aufwächst.

Familien mit Einzelkindern: Ein Trend, der wächst

In den letzten Jahrzehnten hat die Anzahl der Familien mit einem Kind deutlich zugenommen. Immer mehr Paare entscheiden sich bewusst gegen ein zweites Kind. Laut dem Statistischen Bundesamt liegt die Geburtenrate in Deutschland aktuell bei 1,35 Kindern pro Frau. Das ist ein deutlicher Rückgang im Vergleich zu früheren Generationen, in denen es üblich war, mindestens zwei oder drei Kinder zu bekommen. So sind Ein-Kind-Familien heutzutage auch die häufigste Familienform (etwa die Hälfte aller Familien). Zwei-Kind-Familien mit rund 37 Prozent die zweithäufigste, Familien mit drei oder mehr Kindern mit nur 13 Prozent die dritthäufigste Familienkonstellation.

Aufwachsen ohne Geschwister: Für Kinder kann das Vor- als auch Nachteile haben. (Symbolbild)

Dieser Trend wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Laut Zeit.de entschieden sich viele Paare aus finanziellen Gründen gegen weitere Kinder. Die steigenden Lebenshaltungskosten und die Herausforderung, Beruf und Familie zu vereinen, tragen ebenfalls dazu bei. Manche Eltern befürchten, dass sie nicht genügend Zeit und Ressourcen haben, um mehreren Kindern gerecht zu werden. Dabei spielt auch die persönliche Lebensplanung eine Rolle, denn oft wird die Familienplanung nach hinten verschoben. Der Wunsch nach weiteren Kindern bleibt dann möglicherweise unerfüllt.

Ob bewusst entschieden oder höhere Gewalt: Es kursieren immer noch viele Vorurteile gegenüber Einzelkindern. Die Meinung, dass Einzelkinder verwöhnt, egoistisch oder sozial benachteiligt sein könnten, hält sich hartnäckig. Doch wie wirkt sich das Aufwachsen ohne Geschwister wirklich auf Kinder aus?

Aufwachsen ohne Geschwister: Vorteile und Nachteile

Einzelkinder erleben ihre Kindheit in vielerlei Hinsicht anders als Kinder mit Geschwistern. Möglicherweise haben sie eine besonders enge Beziehung zu ihren Eltern, da sie deren ungeteilte Aufmerksamkeit genießen. Dies kann sich positiv auf die emotionale Entwicklung auswirken. Zudem lernen Einzelkinder oft, sich eigenständig zu beschäftigen und kreativ zu sein, da sie keine Geschwister haben, mit denen sie spielen können.

Auf der anderen Seite können Einzelkinder auch Herausforderungen erleben. So müssen sie soziale Kompetenzen häufiger in der Schule oder im Kindergarten erwerben, wie Erziehungsexperten der AOK erklären. Dabei müssen sie oft erst lernen, Konflikte zu lösen, Kompromisse einzugehen und zu teilen – Fähigkeiten, die Geschwisterkinder bereits im familiären Umfeld entwickeln.

Ein weiterer potenzieller Nachteil ist die Tatsache, dass Einzelkinder von ihren Eltern manchmal übermäßig gefördert oder sogar überbehütet werden. Laut Huffpost.com fühlen sich manche Einzelkinder unter Druck gesetzt, da sie die Erwartungen ihrer Eltern allein tragen müssen. Wenn Eltern all ihre Hoffnungen und Wünsche auf ein Kind projizieren, kann das zu einem Gefühl von Überforderung führen. Einzelkinder haben dann oft das Gefühl, immer perfekt sein zu müssen, um ihre Eltern nicht zu enttäuschen.

Einzelkinder beim Therapeuten: Diese Dinge werden am häufigsten aufgearbeitet

Familientherapeutin Priya Tahim betont gegenüber Huffpost.com, dass alle Geschwister-Konstellationen ihre Vor- und Nachteile haben – Einzelkinder eingeschlossen. Menschen, die ohne Geschwister aufwachsen, bringen diese oder ähnliche Themen später in die Therapie ein, die eng mit ihrer Kindheit ohne Geschwister verknüpft sein kann.

Die Ohrfeige war bis in die 80er verbreitet: Wie sich die Erziehung verändert hat

Schulklasse, die gemeinsam etwas erarbeitet.
Stillsitzen – das wurde früher noch regelmäßig in der Schule gefordert. Beim Kirchenbesuch oder den Großeltern lief es ähnlich ab. Hibbeln oder wippeln, immer etwas in den Händen zu haben war selten irgendwo gern gesehen. Heute ist das anders. Studien zeigen, dass Bewegung zwischendurch das Lernen unterstützt und auch insgesamt sind sich Experten einig: Mehr Bewegung, auch über die Schule hinaus, wäre wünschenswert. Das bedeutet aber nicht, dass Kinder in der Kirche oder einem feinen Restaurant umherrennen sollten – das wann und wo ist auch heute noch wichtig. (Symbolbild) © Wavebreak Media Ltd/Imago
Ein Kind balanciert auf einem Stamm am Meer.
Balancieren, auf einem Bein stehen, rückwärts gehen – bei Vorschuluntersuchungen fällt immer wieder auf, dass Fünfjährige immer öfter Probleme bei diesen Aufgaben haben. Besonders in größeren Städten sind bis zu 40 Prozent der Kinder motorisch etwas unterentwickelt. In der Grundschule selbst werden Seil- oder Stangenklettern im Sportunterricht seltener, weil immer weniger Kinder dies können. Aber das ist in der Regel kein Grund zur Besorgnis, denn in dem Alter kann viel aufgeholt werden. (Symbolbild) © Cavan Images/Imago
Ein Kind bindet seinen Schuh mit einer Schleife.
Wissen Sie noch, wie alt Sie waren, als Sie das Schleife binden lernten? Vor gut 20 Jahren wetteiferte man im Kindergarten darum, wer das noch vor der Einschulung fertigbringt. Heute kann sich gerade mal die Hälfte der Vier- bis Fünfjährigen ohne Hilfe anziehen, inklusive Schuhe binden. Einige Grundschulen haben darauf reagiert – und verbieten Schnürsenkel. Die Lehrenden haben einfach Besseres zu tun, als den ganzen Tag Schleifen an Kinderschuhen zu binden. (Symbolbild) © eyevisto/Imago
Ein Junge wäscht ab.
Wussten Sie, dass nur 23,5 Prozent der Haushalte 1983 Spülmaschinen besaßen? Heute sind es knapp 72 Prozent. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Kinder heute nicht mehr überall beim Abwasch helfen müssen. Auch beim Staubsaugen wird immer weniger Unterstützung gefordert, schließlich gibt es in immer mehr Familien Saugroboter. Trotzdem: Kinder können – und sollen – durchaus im Haushalt helfen. Das steht sogar im Gesetz (§ 1619 BGB). In welchem Maße bleibt natürlich den Eltern überlassen, aber häufig sind Hilfe beim Tischdecken/-abräumen oder das Einräumen der Spülmaschine üblich, auch für Kinder ab drei Jahren. (Symbolbild) © Valentina Barreto/Imago
Junge versteckt sich ängstlich unter einem Tisch.
Prügel, Schläge, Angst – früher war der Rohstock im Klassenzimmer weit verbreitet. In der DDR wurde er (und damit die Prügelstrafe) 1949 aus der Schule verbannt. Langsam folgte auch der Rest Deutschlands, in Teilen von Bayern wurde aber bis Anfang der 1980er Jahre immer noch auf diese Art durchgegriffen. Und erst seit 2000 gilt, laut Gesetz, endlich auch zu Hause: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (§ 1631 BGB, Abs. 2) (Symbolbild) © Vasily Pindyurin/Imago
Ein Kind versteckt sich, es sind nur die Augen und die Mütze zu sehen.
„Gib‘ der Tante mal die Hand, Kind“ – der Spruch klingt nicht nur verstaubt, er ist es zum Glück auch. Da heute mehr auf die Kinder und ihre Bedürfnisse eingegangen wird, muss keiner mehr irgendwem die Hand oder ein Küsschen geben, wenn er oder sie das nicht möchte. Eine Wohltat, vor allem für schüchterne Sprösslinge. (Symbolbild) © Pawel Opaska/Imago
Junge allein im winterlichen Wald.
Mittagessen für die Geschwister machen, alleine zu Hause oder draußen sein: Viele Kinder mussten vor einigen Jahrzehnten diese Erfahrungen früh machen. Auch, wenn sie dafür vielleicht noch zu jung und von der Verantwortung überfordert waren. Heute haben Eltern mehr Zeit für ihre Kinder oder sorgen für entsprechende Betreuung und das Alleinsein kommt vergleichsweise spät. Das ist auf der einen Seite sehr löblich und gut, passierten doch früher auch oft Unfälle. Aber ein bisschen traurig ist es auf der anderen Seite auch, denn manchmal birgt ein kleiner Waldabschnitt viel mehr Möglichkeiten für Fantasie und Abenteuer als der moderne Spielplatz um die Ecke. (Symbolbild) © Frank van Delft/Imago

Einzelkinder sprechen in der Therapie oft darüber, dass sie sich stigmatisiert fühlen, weil sie in einer Gesellschaft aufwachsen, in der Geschwister die Norm sind. Negative Darstellungen in den Medien verstärken diesen Druck. Viele Einzelkinder leiden zudem unter Perfektionismus, da sie sich beobachtet und oft als einzige Ansprechperson der Eltern fühlen. Sie glauben, keine Fehler machen zu dürfen, um die elterlichen Erwartungen zu erfüllen.

Einzelkinder: Pflege der Eltern

Ein weiteres Thema ist die Sehnsucht nach Geschwistern, besonders in einsamen Momenten, etwa an Feiertagen. Verantwortung ist ebenfalls ein wiederkehrendes Thema, da Einzelkinder häufig die Last der Pflege ihrer alternden Eltern allein tragen müssen. Das kann zu Überforderung führen, besonders wenn die Eltern weit weg wohnen. Außerdem wird ihre Unabhängigkeit häufig thematisiert. Einzelkinder sind oft selbstständig und führungsstark, aber diese Eigenschaften können auch dazu führen, dass sie als zu dominant oder als „typische Einzelkinder“ wahrgenommen werden. Dieses Verhalten kann ihre zwischenmenschlichen Beziehungen belasten, da sie sich oft schwertun, Unterstützung anzunehmen oder Aufgaben zu delegieren.

Laut Tahim helfe es Einzelkindern in der Therapie häufig, diese Herausforderungen zu erkennen und zu verstehen. Und dass es in Ordnung ist, Schwächen zu haben und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Aufarbeiten dieser Themen kann ihnen helfen, ein gesünderes Verhältnis zu sich selbst und ihren Mitmenschen zu entwickeln und den Druck, der durch ihr Einzelkind-Dasein entsteht, zu mindern.

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