Grenzkonflikt

Nordkoreas schmutziger Krieg gegen den Süden

  • Sven Hauberg
    VonSven Hauberg
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Unaufhörlich schickt Nordkorea seine Müllballons in den Süden des geteilten Landes, die Regierung in Seoul sieht hilflos dabei zu. Zeit für einen Besuch an der Grenze, wo sie besorgt nach Norden blicken.

Park Chong-min hat einen Arbeitsplatz mit beneidenswerter Aussicht. Vor ihm erstrecken sich sanfte Hügelketten und saftig grüne Täler, der schmale Fluss Imjin schlängelt sich gemächlich durch die Landschaft. Aber Park hat keine Augen für die Schönheit vor seinen Füßen. Denn hinter den Hügeln ist für ihn Feindesland. Da drüben liegt Nordkorea.

„Manchmal sieht man dort Menschen“, sagt der 21-jährige Militärpolizist. Er steht auf einer Aussichtsplattform und zeigt hinüber in den Norden. „Mal Zivilisten, mal Soldaten.“ Die Zivilisten, das seien vor allem Bauern, die sich nur nachts auf ihre Felder trauten, um nicht von den Soldaten auf der anderen Seite entdeckt zu werden. Keine Gefahr für ihn und seine Kameraden. Die nordkoreanischen Soldaten würden ebenfalls meist unauffällig bleiben, zuletzt habe vor fünf Jahren einer versucht, hier die Grenze zu überqueren. Und dass der Außenposten zuletzt beschossen wurde, liege noch länger zurück.

Auf der Südseite der Grenze erinnern Mahnmale an den Koreakrieg.

Auch an diesem schwül-heißen Nachmittag Ende Juli ist es ruhig im Grenzgebiet, weder Soldaten noch Bauern wagen sich aus der Deckung. „Zum Glück“, stöhnt Park. Denn die letzten Wochen waren stressig für ihn und die anderen Soldaten, die Wache schieben an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea. Seit das Regime von Diktator Kim Jong-un Hunderte mit Müll beladene Ballons Richtung Süden treiben lässt, herrscht Anspannung auf dem kleinen Militärposten, rund anderthalb Autostunden nordöstlich von Seoul. Die Müllballons, das bedeutet für Park und seine Kameraden: beobachten, Meldung machen, Bericht schreiben.

Müllballon vor Büro von Südkoreas Präsidenten

Alleine in den vergangenen Tagen sind laut der südkoreanischen Nachrichtenagentur Yonhap fast 500 mit Müll gefüllte Ballons auf Seoul und eine nördlich der Hauptstadt gelegene Provinz niedergegangen. Einer der Ballons fiel sogar vor dem Büro von Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol zu Boden und platzte auf. Begonnen hatten die Müll-Attacken Ende Mai, nachdem zuvor Aktivisten aus Südkorea Ballons mit Flugblättern und USB-Sticks, bespielt mit K-Pop und Fernsehserien, in den Norden geschickt hatten. „Das hat Nordkorea wütend gemacht“, sagt Kim Kyung-jin. „Das Regime sieht die Ballons als Bedrohung an, weil das Material in den Ballons den Menschen im Norden zeigt, wie es im Süden wirklich aussieht.“ Nicht verarmt und rückständig, wie es die nordkoreanische Propaganda weismachen will. Sondern wohlhabend und modern.

Kim Kyung-jin beobachtet fürs südkoreanische Verteidigungsministerium die Grenze zum Norden.

Kim arbeitet fürs südkoreanische Verteidigungsministerium, er ist zuständig für die Demilitarisierte Zone und begleitet die kleine Gruppe von Journalisten ins streng abgeriegelte Grenzgebiet. Vorbei an Straßensperren und einem Checkpoint geht es über Serpentinen immer weiter Richtung Norden. Rechts und links der Straße spannt sich Stacheldraht, dahinter liegen Minen im hohen Gras. Menschen leben hier nicht, nur tagsüber und nur für ein paar Stunden dürften Bauern aus den umliegenden Dörfern ihre Felder bestellen.

Nicht zu unterschätzende Provokation Nordkoreas

Als Reaktion auf die Müllballons hat das südkoreanische Verteidigungsministerium alte Lautsprecheranlagen entlang der Grenze wieder in Betrieb genommen, Tag und Nacht beschallt der Süden den Norden mit K-Pop und mit Informationen über das Leben jenseits der Grenze. Auch jetzt sind die Lautsprecher aktiv, jedoch kaum zu hören. Angeblich aber, so erzählt es zumindest Kim Kyung-jin, kann man die Botschaften noch in 30 Kilometern Entfernung verstehen, bis hinein in die nordkoreanische Großstadt Kaesong. 

Nordkorea – Kim Jong-uns abgeschottete Diktatur

Menschen an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea
Nordkorea ist das wohl geheimnisvollste Land der Erde: eine totalitäre Diktatur, in der der Einzelne nichts zählt, ohne Freiheiten und Menschenrechte, abgeschottet vom Rest der Welt. Schätzungsweise 26 Millionen Menschen leben in dem Land, das im Norden an China und Russland grenzt und im Süden an das freiheitliche, demokratische Südkorea. Nordkoreas Grenzen sind für die meisten Menschen unüberwindbar – kaum einer kommt rein, noch weniger Menschen kommen raus.  © Ed Jones/afp
Die Skyline von Pjöngjang
Hauptstadt sowie kulturelles und wirtschaftliches Zentrum des Landes ist Pjöngjang. Rund drei Millionen Menschen leben in der nordkoreanischen Metropole, die so anders ist als die anderen Mega-Städte Asiens. Pjöngjang ist grau, geprägt von Hochhäusern, gesichtslosen Wohnblöcken und gigantischen Monumenten, die der herrschenden Kim-Familie huldigen sollen. Wer in der Hauptstadt leben darf, ist privilegiert: Hier ist die Stromversorgung besser als auf dem Land, die Regale der Geschäfte sind voller, es gibt Freizeitparks, Kinos, Theater. © Olaf Schuelke/Imago
Kim Jong-un auf einem Pferd
Beherrscht wird Nordkorea seit 2011 von Kim Jong-un, einem Diktator, der skrupellos vor allem ein Ziel verfolgt: den eigenen Machterhalt und den seiner Sippe. Nordkorea ist das einzige kommunistische Land der Welt mit einer Erb-Monarchie, in der die politische Macht vom Vater auf den Sohn übergeht. Die sogenannte „Paektu-Blutlinie“ kontrolliert das Land seit dessen Gründung im Jahr 1948. Die Macht der Kims ist unanfechtbar, Aufstände gab es nie, dafür sorgt die lückenlose Überwachung und Kontrolle der gesamten Gesellschaft. © KCNA via KNS/afp
Sowjetische Soldaten in Pjöngjang
Korea war über Jahrhunderte ein geeintes Land. Die Geschichte der Teilung beginnt erst im 20. Jahrhundert: Von 1910 bis 1945 ist Korea eine japanische Kolonie, nach der Niederlage der Japaner besetzen sowjetische Truppen den Norden des Landes, der Süden wird von amerikanischen Truppen besetzt. Weil Verhandlungen über eine Vereinigung der beiden Landesteile scheitern, gründen sich 1948 auf der koreanischen Halbinsel zwei Staaten. © Jacob Gudkov/Imago
Szene des Koreakriegs
Zwei Jahre später dann die Tragödie: Der Korea-Krieg bricht aus. Kim Il-sung, Machthaber im Norden, schickt seine Truppen in den Südteil des Landes, um Korea mit Gewalt zu vereinen. Wenige Wochen später greifen die UN-Truppen unter Führung der USA den Norden an, stoßen bis an die chinesische Grenze vor. Das beunruhigt Peking – das nun auf der Seite von Nordkorea in den Krieg eingreift. 1953 wird ein Waffenstillstand verhandelt, das Land bleibt entlang des 38. Breitengrades geteilt. Ein Friedensvertrag wurde bis heute nicht unterzeichnet. © Imago
Familie Kim
Kim Il-sung, der Gründer und erste Präsident Nordkoreas, ist ein Machthaber von Stalins Gnaden. Geboren 1912, ist er als junger Mann im Widerstand gegen die japanische Besatzungsmacht aktiv. 1940 geht er ins Exil in die Sowjetunion, wo er schließlich zum späteren Machthaber Nordkoreas aufgebaut wird. Ab 1948 etabliert Kim einen auf ihn zugeschnittenen Personenkult. Mit brutalen Säuberungsaktionen entledigt er sich seiner Gegner. Politisch pendelt sein Land zwischen China und der Sowjetunion, vor allem, nachdem sich die beiden kommunistischen Führungsmächte ab Ende der 50er-Jahre zunehmend voneinander entfremden. © Imago
Kim Il-sung und Kim Jong-il
Schon in den 1970ern beginnt Kim Il-sung, seinen Sohn Jong-il zu seinem Nachfolger aufzubauen. Als er 1994 stirbt, übergibt er Kim Jong-il ein verarmtes Land. Mit dem Untergang der Sowjetunion wenige Jahre zuvor hat Nordkorea seinen wichtigsten und engsten Partner verloren, es stürzt in eine wirtschaftliche Krise, auf die eine fatale Hungersnot folgt. Hunderttausende Menschen verhungern. Unter Kim Jong-il, der 1941 oder 1942 geboren wurde, verschlechtern sich die Beziehungen zwischen Nordkorea und dem Rest der Welt, das Land schottet sich immer mehr ab. Vor allem die USA sowie Südkorea – das sich seit den 80ern zur Demokratie gewandelt hat – werden zu Feindbildern. © KCNA via KNS/afp
Fernsehbilder vom ersten nordkoreanischen Atomtest 2006
Unter Kim Jong-il beginnt die beispiellose Aufrüstung des bettelarmen Landes. Wichtigstes Ziel Kims ist es, Nordkorea zur Atommacht zu machen. 2006 gelingt ihm das, Nordkorea testet erstmals eine Atombombe. Die Welt ist geschockt, die Vereinten Nationen erlassen Strafmaßnahmen, denen insgesamt neun weitere Sanktionsrunden folgen. Heute ist Nordkorea eine Atommacht, die wohl Dutzende Sprengkörper besitzt. © Jung Yeon-Je/afp
Kim Jong-un beobachtet einen Raketentest
Zudem testet das Land regelmäßig ballistische Raketen, auf denen die nuklearen Sprengköpfe montiert werden können. So kann das Regime mit seinen Atomwaffen sogar die USA erreichen – zumindest in der Theorie, denn noch ist unklar, wie leistungsfähig die Raketen tatsächlich sind. © KCNA via KNS/afp
Donald Trump und Kim Jong-un an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea
Kim Jong-il stirbt 2011. Ihm folgt einer seiner Söhne nach: Kim Jong-un. Der treibt das Raketen- und Nuklearprogramm seines Vaters weiter voran. Als Hauptfeinde hat er Südkorea und die USA ausgemacht, die sein Regime regelmäßig mit drastischen Beleidigungen überzieht. Unter US-Präsident Donald Trump sieht es für einen kurzen Moment so aus, als könnten sich die Spannungen zwischen Nordkorea und dem Westen abkühlen – dreimal treffen sich Kim und Trump, auch Südkoreas damaliger Präsident kommt mit Kim zu einem Gipfeltreffen zusammen. © Brendan Smialowski/afp
Passanten in Pjöngjang währen der Corona-Pandemie
Doch die diplomatischen Initiativen scheitern 2019. Ein Jahr später sucht die Corona-Pandemie die Welt heim. Auch Nordkorea schließt seine Grenzen – und schottet sich gegen das Virus so hermetisch ab wie kein anderer Staat weltweit. Trotzdem meldet das Regime im Mai 2022 erste Corona-Fälle. Auch nach dem Ende der Pandemie bleibt Nordkorea ein international isoliertes Land. © Imago
Putin und Kim in Russland
Enge Beziehungen unterhält das Regime in Pjöngjang heute vor allem zu seinen beiden nördlichen Nachbarn China und Russland. Zu Wladimir Putin pflegt Kim ein besonders gutes Verhältnis, denn Russlands Präsident benötigt Nordkoreas Unterstützung für seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine – als Lieferant von Waffen und Munition. Im Herbst 2023 treffen Putin und Kim in Russlands Fernem Osten zusammen, es ist Kims erste Auslandsreise seit der Pandemie. © KCNA via KNS/afp
Kim Jong-un und seine Tochter Ju-ae
Kim Jong-un wurde 1982, 1983 oder 1984 geboren, hat also möglicherweise noch viele Jahre vor sich. Nordkoreas Diktator ist allerdings bei schlechter Gesundheit. Er gilt als Kettenraucher und Alkoholiker und ist sichtbar übergewichtig. Was, wenn er stirbt? Experten glauben, dass Kim seine Tochter Ju-ae zu seiner Nachfolgerin aufbauen will. Seit November 2022 zeigen Staatsmedien das Mädchen, das wohl 2012 oder 2013 zur Welt gekommen ist, regelmäßig an der Seite ihres mächtigen Vaters. © KCNA via KNS/afp
Kim Yo-jong
Aber auch Kims Schwester Kim Yo-jong gilt als mögliche Erbin auf den Thron. Die Macht, die die Kims seit bald 80 Jahren innehaben, dürften sie jedenfalls so schnell nicht aus der Hand geben. © Jorge Silva/afp

Der Militärpolizist Park Chong-min ist eigentlich Student, in Seoul ist er für Umweltingenieurwesen eingeschrieben. Wie alle jungen Männer in Südkorea muss er einen mindestens 18-monatigen Wehrdienst leisten, die Hälfte hat er schon hinter sich. Verschlagen hat es ihn in die Demilitarisierte Zone, das hoch gesicherte Grenzgebiet zwischen den beiden Koreas. „Eigentlich ein guter Job“, sagt er. Sein Kamerad Lee San-ho, genauso jung wie er und seit vier Monaten als Wehrdienstleistender an der Grenze, nickt. „Wirklich gefährlich sind die Ballons sowieso nicht“, sagt er.

Kim Kyung-jin sieht das anders. Man dürfe die „Provokationen“ des Nordens nicht unterschätzen, sagt der Mann vom Verteidigungsministerium. „Wir haben in dem Müll auch Parasiten gefunden.“ Wenn die Ballons mal wieder Richtung Süden fliegen, dann ploppen in der Hauptstadt Seoul die Alarmmeldungen auf den Smartphones der zehn Millionen Bewohner der Riesenstadt auf. „Extreme Gefahr: Es werden weiterhin nordkoreanische Müllballons über Seoul gesichtet“, steht dann beispielsweise auf dem Handy. „Bitte seien Sie vorsichtig, wenn Sie sich im Freien aufhalten oder nachts Auto fahren, und rufen Sie das Militär oder die Polizei an, wenn Sie sie sehen.“ 

Wieso Südkorea die Ballons nicht abschießt

Doch wer auf den Straßen von Seoul mit den Menschen über die Ballons spricht, erhält als Reaktion meist nur ein Schulterzucken. Von Kim Jong-un ist man ganz andere Provokationen gewohnt. Anfang des Jahres erst nahm Nordkorea eine kleine Insel unter Beschuss, die vom Süden verwaltet wird, aber unmittelbar vor der Küste des Nordens liegt. Was sind da schon ein paar Ballons, gefüllt mit Unrat?

Nach dem Absturz eines Müllballons in Seoul wird die Straße gereinigt.

Ein Ärgernis sind die schmutzigen Botschaften aus dem Norden dennoch. Weil das reiche, mächtige Südkorea auf einmal ganz hilflos wirkt. Kann man die Ballons also nicht einfach schon an der Grenze vom Himmel holen, noch bevor sie in Richtung Süden fliegen? „Natürlich könnten wir sie abschießen“, sagt Kim Kyung-jin. „Aber was, wenn wir einen Ballon verfehlen? Dann könnte Nordkorea das als Angriff deuten. Und das wäre katastrophal.“

Vorerst bleibt den Behörden deswegen nur eins, wenn mal wieder ein Ballon in den Süden segelt: beobachten, Meldung machen, Bericht schreiben – und dann den Müll von der Straße kehren.

Rubriklistenbild: © IMAGO/Gavriil Grigorov