Seltene Einblicke

Überläufer aus Nordkorea packt aus: „Als Person ist Kim Jong-un ein ganz normaler Mensch“

  • Sven Hauberg
    VonSven Hauberg
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Jahrelang diente Ri Il-gyu dem Kim-Regime als Diplomat. Nun hat er die Seiten gewechselt – und rechnet in einem Interview mit Nordkorea ab.

Der nordkoreanische Diplomat Ri Il-gyu hatte offenbar schon länger gebrochen mit dem Regime von Diktator Kim Jong-un. Schlecht behandelt habe man ihn, weil er aus einer unbedeutenden Familie stammte, schimpft Ri in einem Anfang der Woche veröffentlichen Interview mit Chosun Ilbo, einer großen konservativen Tageszeitung aus Südkorea. „Das nordkoreanische Außenministerium ist voll von Personen aus einflussreichen Familien.“ Für einen wie ihn sei da kaum Platz gewesen.

Zum Überlaufen entscheidet er sich aber erst, als ihn ein Rückenleiden plagte. Ri, 52 Jahre alt, war an der nordkoreanischen Botschaft in Kuba stationiert, als er im vergangenen Jahr aufgrund einer Verletzung der Halswirbelsäule einen Nervenschaden erlitt. „Ich beantragte beim Ministerium die Erlaubnis, mich in Mexiko behandeln zu lassen, da Kuba aufgrund der Sanktionen über keine medizinische Ausrüstung verfügt“, erzählt er in dem Interview. „Weniger als 24 Stunden später wurde mein Antrag abgelehnt.“ Kurz darauf, so sagt er es, entscheidet er sich zur Flucht, besteigt ein Flugzeug – und landet schließlich in Südkorea.

Nordkorea-Überläufer: Kim Jong-un hat „Millionen Menschen in die moderne Sklaverei getrieben“

Acht Monate ist das jetzt her. Würde Ri Il-gyu nicht mit Pjöngjang-Akzent sprechen, so schreiben die Journalisten von Chosun Ilbo, man könnte kaum glauben, dass er erst vor Kurzem übergelaufen sei. Mitgenommen in den Süden hat Ri nicht nur seine Art zu reden, sondern auch seinen ganzen Zorn auf das Kim-Regime. Dass Kim Jong-un Unsummen in Nordkoreas Raketen- und Nuklearprogramm stecke, habe „die Wirtschaft des Landes lahmgelegt und 25 Millionen Menschen in die moderne Sklaverei getrieben“, sagt er. Der Stolz auf die vielen erfolgreichen Raketentests, den die Menschen in Nordkorea einst verspürt hätten, sei heute verschwunden.

Die extreme Armut in dem abgeschotteten Land sei auch ein Grund, warum viele Menschen in Nordkorea die Hoffnung auf eine Vereinigung mit dem Süden nicht aufgegeben hätten. „Sowohl Regierungsbeamte als auch Bürger sind der Meinung, dass die Wiedervereinigung die einzige Möglichkeit ist, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu sichern.“ Kim Jong-un habe diese Hoffnung aber auf „grausame Weise zunichtegemacht“. Ende vergangenen Jahres hatte Kim Südkorea zum feindlichen Staat erklärt und der Vereinigung mit dem demokratischen Nachbarn eine Absage erteilt.

Nordkorea – Kim Jong-uns abgeschottete Diktatur

Menschen an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea
Nordkorea ist das wohl geheimnisvollste Land der Erde: eine totalitäre Diktatur, in der der Einzelne nichts zählt, ohne Freiheiten und Menschenrechte, abgeschottet vom Rest der Welt. Schätzungsweise 26 Millionen Menschen leben in dem Land, das im Norden an China und Russland grenzt und im Süden an das freiheitliche, demokratische Südkorea. Nordkoreas Grenzen sind für die meisten Menschen unüberwindbar – kaum einer kommt rein, noch weniger Menschen kommen raus.  © Ed Jones/afp
Die Skyline von Pjöngjang
Hauptstadt sowie kulturelles und wirtschaftliches Zentrum des Landes ist Pjöngjang. Rund drei Millionen Menschen leben in der nordkoreanischen Metropole, die so anders ist als die anderen Mega-Städte Asiens. Pjöngjang ist grau, geprägt von Hochhäusern, gesichtslosen Wohnblöcken und gigantischen Monumenten, die der herrschenden Kim-Familie huldigen sollen. Wer in der Hauptstadt leben darf, ist privilegiert: Hier ist die Stromversorgung besser als auf dem Land, die Regale der Geschäfte sind voller, es gibt Freizeitparks, Kinos, Theater. © Olaf Schuelke/Imago
Kim Jong-un auf einem Pferd
Beherrscht wird Nordkorea seit 2011 von Kim Jong-un, einem Diktator, der skrupellos vor allem ein Ziel verfolgt: den eigenen Machterhalt und den seiner Sippe. Nordkorea ist das einzige kommunistische Land der Welt mit einer Erb-Monarchie, in der die politische Macht vom Vater auf den Sohn übergeht. Die sogenannte „Paektu-Blutlinie“ kontrolliert das Land seit dessen Gründung im Jahr 1948. Die Macht der Kims ist unanfechtbar, Aufstände gab es nie, dafür sorgt die lückenlose Überwachung und Kontrolle der gesamten Gesellschaft. © KCNA via KNS/afp
Sowjetische Soldaten in Pjöngjang
Korea war über Jahrhunderte ein geeintes Land. Die Geschichte der Teilung beginnt erst im 20. Jahrhundert: Von 1910 bis 1945 ist Korea eine japanische Kolonie, nach der Niederlage der Japaner besetzen sowjetische Truppen den Norden des Landes, der Süden wird von amerikanischen Truppen besetzt. Weil Verhandlungen über eine Vereinigung der beiden Landesteile scheitern, gründen sich 1948 auf der koreanischen Halbinsel zwei Staaten. © Jacob Gudkov/Imago
Szene des Koreakriegs
Zwei Jahre später dann die Tragödie: Der Korea-Krieg bricht aus. Kim Il-sung, Machthaber im Norden, schickt seine Truppen in den Südteil des Landes, um Korea mit Gewalt zu vereinen. Wenige Wochen später greifen die UN-Truppen unter Führung der USA den Norden an, stoßen bis an die chinesische Grenze vor. Das beunruhigt Peking – das nun auf der Seite von Nordkorea in den Krieg eingreift. 1953 wird ein Waffenstillstand verhandelt, das Land bleibt entlang des 38. Breitengrades geteilt. Ein Friedensvertrag wurde bis heute nicht unterzeichnet. © Imago
Familie Kim
Kim Il-sung, der Gründer und erste Präsident Nordkoreas, ist ein Machthaber von Stalins Gnaden. Geboren 1912, ist er als junger Mann im Widerstand gegen die japanische Besatzungsmacht aktiv. 1940 geht er ins Exil in die Sowjetunion, wo er schließlich zum späteren Machthaber Nordkoreas aufgebaut wird. Ab 1948 etabliert Kim einen auf ihn zugeschnittenen Personenkult. Mit brutalen Säuberungsaktionen entledigt er sich seiner Gegner. Politisch pendelt sein Land zwischen China und der Sowjetunion, vor allem, nachdem sich die beiden kommunistischen Führungsmächte ab Ende der 50er-Jahre zunehmend voneinander entfremden. © Imago
Kim Il-sung und Kim Jong-il
Schon in den 1970ern beginnt Kim Il-sung, seinen Sohn Jong-il zu seinem Nachfolger aufzubauen. Als er 1994 stirbt, übergibt er Kim Jong-il ein verarmtes Land. Mit dem Untergang der Sowjetunion wenige Jahre zuvor hat Nordkorea seinen wichtigsten und engsten Partner verloren, es stürzt in eine wirtschaftliche Krise, auf die eine fatale Hungersnot folgt. Hunderttausende Menschen verhungern. Unter Kim Jong-il, der 1941 oder 1942 geboren wurde, verschlechtern sich die Beziehungen zwischen Nordkorea und dem Rest der Welt, das Land schottet sich immer mehr ab. Vor allem die USA sowie Südkorea – das sich seit den 80ern zur Demokratie gewandelt hat – werden zu Feindbildern. © KCNA via KNS/afp
Fernsehbilder vom ersten nordkoreanischen Atomtest 2006
Unter Kim Jong-il beginnt die beispiellose Aufrüstung des bettelarmen Landes. Wichtigstes Ziel Kims ist es, Nordkorea zur Atommacht zu machen. 2006 gelingt ihm das, Nordkorea testet erstmals eine Atombombe. Die Welt ist geschockt, die Vereinten Nationen erlassen Strafmaßnahmen, denen insgesamt neun weitere Sanktionsrunden folgen. Heute ist Nordkorea eine Atommacht, die wohl Dutzende Sprengkörper besitzt. © Jung Yeon-Je/afp
Kim Jong-un beobachtet einen Raketentest
Zudem testet das Land regelmäßig ballistische Raketen, auf denen die nuklearen Sprengköpfe montiert werden können. So kann das Regime mit seinen Atomwaffen sogar die USA erreichen – zumindest in der Theorie, denn noch ist unklar, wie leistungsfähig die Raketen tatsächlich sind. © KCNA via KNS/afp
Donald Trump und Kim Jong-un an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea
Kim Jong-il stirbt 2011. Ihm folgt einer seiner Söhne nach: Kim Jong-un. Der treibt das Raketen- und Nuklearprogramm seines Vaters weiter voran. Als Hauptfeinde hat er Südkorea und die USA ausgemacht, die sein Regime regelmäßig mit drastischen Beleidigungen überzieht. Unter US-Präsident Donald Trump sieht es für einen kurzen Moment so aus, als könnten sich die Spannungen zwischen Nordkorea und dem Westen abkühlen – dreimal treffen sich Kim und Trump, auch Südkoreas damaliger Präsident kommt mit Kim zu einem Gipfeltreffen zusammen. © Brendan Smialowski/afp
Passanten in Pjöngjang währen der Corona-Pandemie
Doch die diplomatischen Initiativen scheitern 2019. Ein Jahr später sucht die Corona-Pandemie die Welt heim. Auch Nordkorea schließt seine Grenzen – und schottet sich gegen das Virus so hermetisch ab wie kein anderer Staat weltweit. Trotzdem meldet das Regime im Mai 2022 erste Corona-Fälle. Auch nach dem Ende der Pandemie bleibt Nordkorea ein international isoliertes Land. © Imago
Putin und Kim in Russland
Enge Beziehungen unterhält das Regime in Pjöngjang heute vor allem zu seinen beiden nördlichen Nachbarn China und Russland. Zu Wladimir Putin pflegt Kim ein besonders gutes Verhältnis, denn Russlands Präsident benötigt Nordkoreas Unterstützung für seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine – als Lieferant von Waffen und Munition. Im Herbst 2023 treffen Putin und Kim in Russlands Fernem Osten zusammen, es ist Kims erste Auslandsreise seit der Pandemie. © KCNA via KNS/afp
Kim Jong-un und seine Tochter Ju-ae
Kim Jong-un wurde 1982, 1983 oder 1984 geboren, hat also möglicherweise noch viele Jahre vor sich. Nordkoreas Diktator ist allerdings bei schlechter Gesundheit. Er gilt als Kettenraucher und Alkoholiker und ist sichtbar übergewichtig. Was, wenn er stirbt? Experten glauben, dass Kim seine Tochter Ju-ae zu seiner Nachfolgerin aufbauen will. Seit November 2022 zeigen Staatsmedien das Mädchen, das wohl 2012 oder 2013 zur Welt gekommen ist, regelmäßig an der Seite ihres mächtigen Vaters. © KCNA via KNS/afp
Kim Yo-jong
Aber auch Kims Schwester Kim Yo-jong gilt als mögliche Erbin auf den Thron. Die Macht, die die Kims seit bald 80 Jahren innehaben, dürften sie jedenfalls so schnell nicht aus der Hand geben. © Jorge Silva/afp

Überläufer sollte Annäherung zwischen Kuba und Südkorea verhindern

Ri, den die Chosun-Ilbo-Reporter in einem Hotel in Seoul trafen, war dem Zeitungsbericht zufolge seit 1999 im nordkoreanischen Außenministerium tätig und seit 2019 in Kuba stationiert. 2013 sei er von Kim Jong-un für seine Rolle bei Verhandlungen mit Panama gelobt worden, die zur Freilassung eines Schiffes führten, das angeblich verbotene Güter wie Raketen und Teile für Kampfjets geladen hatte. Weniger Erfolg hatte er bei seiner letzten Mission. In Kuba sollte Ri eine Annäherung zwischen der dortigen Regierung und Südkorea verhindern. Vergeblich: Anfang des Jahres verkündeten Seoul und Havanna die Aufnahme diplomatischer Beziehungen an.

Nachprüfen lassen sich die Aussagen von Ri Il-gyu nicht. Am Dienstag bestätige der Geheimdienst in Seoul allerdings, dass es sich bei Ri tatsächlich um einen Überläufer handelt, wohl sogar um den ranghöchsten, seit 2016 ein Diplomat in Großbritannien die Seiten gewechselt hatte.

Bootstour mit Kim Jong-un: Nordkoreas Diktator inspiziert eine Muschelzucht in der Provinz Süd-Hamgyong.

Wie krank ist Kim Jong-un? „Blutdruck muss extrem hoch sein“

Einmal habe er Kim Jong-un persönlich getroffen, sagt der Überläufer Ri. „Ich habe mit ihm Tee getrunken. Als Person ist Kim Jong-un ein ganz normaler Mensch.“ Wer ihn aus der Nähe sehe, dem falle allerdings auf, wie rot das Gesicht von Kim sei. „Sein Blutdruck muss extrem hoch sein“, sagt Ri über den übergewichtigen Diktator, der heute 40 Jahre alt ist. Und er erzählt, wie grausam Kim seine Gegner behandle. So sei der damalige Vize-Außenminister Han Song-ryol öffentlich hingerichtet worden, weil man ihn für einen US-Spion hielt. „Diejenigen, die der Hinrichtung beiwohnten, berichteten, dass sie danach mehrere Tage lang nichts essen konnten.“ Nordkoreas einstiger Außenminister Ri Yong-ho sei von Kim wegen angeblicher Korruption in ein Straflager gesteckt worden.

Ri Il-gyu spricht in dem Interview auch über die seit Jahren kursierenden Gerüchte, Kims Tochter Ju-ae oder seine Schwester Yo-jong könnten ihm eines Tages nachfolgen. Kim Jong-un hatte Ju-ae Ende 2022 erstmals mit in die Öffentlichkeit genommen, damals was sie um die zehn Jahre alt. „Absolute Autorität und Verehrung erfordern eine Aura des Geheimnisses. Wie kann es ein Geheimnis oder Ehrfurcht geben, wenn sie so in der Öffentlichkeit steht?“, fragt Ri. Und Kim Yo-jong, die angeblich so mächtige Schwester des Diktators, sei in Wahrheit ein eher ohnmächtiges Instrument ihres Bruders, glaubt der Überläufer.

In seinem neuen Leben in Südkorea wolle er nun darüber nachdenken, wie er „Hoffnung“ nach Nordkorea bringen könnte – „in dieses dunkle Land“.

Rubriklistenbild: © KCNA/AFP