Verlorener Instinkt
Wie Eltern die natürliche Entwicklung ihrer Kinder wieder erkennen
VonJoy Gantevoortschließen
Jedes Kind entwickelt sich in seinem eigenen Tempo. Eltern sollten, anstatt sich in Vergleichen zu verlieren, wieder Vertrauen in den Lern- und Lebenswillen ihrer Kinder bekommen.
Gesunde und altersgemäße Entwicklung ist für viele Eltern ein großes Thema, das sie allerdings oft auch vor eine scheinbar unüberwindbare Herausforderung stellt. Immer öfter beobachten Experten, dass Mütter und Väter heute Schwierigkeiten haben, normale Entwicklungsschritte ihrer Kinder richtig einzuschätzen. Der gesellschaftliche Druck, jedes Meilensteinchen zu bewerten, verunsichert. Doch: Kinder entwickeln sich individuell, und diese Vielfalt ist völlig natürlich.
Das verlorene Gespür für das Wesentliche
Die heutige Elternrolle wird zunehmend durch äußere Einflüsse bestimmt: Ratgeber, Kursangebote und vermeintliche Ideale, die durch soziale Medien transportiert werden. Laut dem Kindermediziner Jörg Dötsch vom Universitätsklinikum Köln geraten Eltern durch diese Überflutung in die Gefahr, den Überblick zu verlieren. „Viele Familien machen sich mit Entwicklungszielen verrückt“, betont er in einem Interview mit der WELT. Typische Fragen wie „Warum spricht mein Kind noch nicht?“, „Ist es normal, dass es nachts ins Bett macht?“ oder „Ab wann muss es laufen können?“ landen immer häufiger bei Ärzt:innen – oft ohne tatsächlichen Grund zur Sorge.
Dabei sind Verzögerungen in der Entwicklung normal und kein Anlass, an der Erziehung oder gar der Gesundheit des Kindes zu zweifeln. Besonders bei Themen wie Sprechen oder dem Trockenwerden zeigen Studien geschlechtsspezifische Unterschiede: Jungen lassen sich oft mehr Zeit – eine Tatsache, die hormonelle Ursachen haben kann. Diese Unterschiede verdeutlichen, dass Vergleichstabellen nur eine grobe Orientierung geben sollen und somit eingeschränkt hilfreich sind.
Was ist „normal“? Ein Einblick in Entwicklungsphasen
Die Meilensteine kindlicher Entwicklung zeigen eine enorme Bandbreite:
- Laufen lernen: Manche Kinder nehmen sich Zeit und fangen erst mit 18 Monaten an zu laufen. Andere überspringen das Krabbeln oder gehen fließend vom Herumrollen ins Laufen über.
- Sprechen lernen: Während einige mit einem Jahr erste Worte formen, brauchen andere bis zu 18 oder 24 Monate, bevor ein spürbarer Sprachfluss einsetzt.
- Trockenwerden: Bis zum fünften Geburtstag ist es vollkommen unproblematisch, wenn Kinder gelegentlich noch einnässen. Jungen sind davon häufig stärker betroffen als Mädchen.
- Verhaltenssteuerung: Das Verständnis für Konsequenzen oder das Befolgen von Regeln entwickelt sich erst über Jahre. Geduld und Wiederholung sind hier der Schlüssel.
Gelassenheit als Chance
Eltern, die ihr Kind nicht an vermeintlichen Normen messen, stärken dessen Selbstvertrauen – und oft auch das eigene. Laut einer Erhebung des Leibniz-Instituts für Psychologie profitieren Kinder emotional und sozial, wenn Eltern feinfühlig, aber nicht überreglementierend agieren. Die Forschenden empfehlen Eltern, auf den individuellen Charakter des Kindes zu achten und nicht ständig korrigierend einzugreifen. Welche Vor- und Nachteile eine instinktive Erziehung haben kann, wissen Experten.
Die Ohrfeige war bis in die 80er verbreitet: Wie sich die Erziehung verändert hat




Der Weg zurück zur Intuition
- Vielfalt akzeptieren: Jedes Kind hat sein eigenes Tempo. Vertrauen in diese Individualität fördert eine entspannte Eltern-Kind-Beziehung.
- Erwartungen loslassen: Ratgeber und soziale Medien bieten Orientierung, dürfen aber kein ständiger Maßstab für die Entwicklung des eigenen Kindes sein.
- Unterstützung suchen: Gespräche mit Fachpersonen oder anderen Eltern helfen, Unsicherheiten zu klären und den Blick auf das eigene Kind zu relativieren.
Entwicklung braucht Freiheit
Kinder lernen nach einem natürlichen Schema, aber mit persönlichem Tempo. Eltern brauchen keinen perfekten Plan – sie brauchen Geduld und Gelassenheit. Vertrauen in den eigenen Instinkt sowie ein Bewusstsein für die natürliche Bandbreite kindlicher Entwicklung helfen, den Druck zu reduzieren. Letztlich ist das beste Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen können, die Freiheit, ihren ganz eigenen Weg zu gehen.
Rubriklistenbild: © Imago Sportfotodienst GmbH
