
VonPeter Sieben
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SPD-Politiker Garrelt Duin schlägt einen „Beauftragten für gleiche Lebensverhältnisse“ vor – mit Blick auf überschuldete Kommunen im Westen.
Alte Gewissheiten gelten nicht mehr: Die USA sind plötzlich nicht mehr der große Kumpel in Übersee, die letzte Bundesregierung ist plötzlich weggebrochen und die Wirtschaft kommt auch nicht mehr so richtig in Schwung. Und über allem droht: der Klimawandel.
Eine Untersuchung des Instituts Allensbach im Auftrag des Regionalverbands Ruhr (RVR), einem Zusammenschluss der Städte und Kreise im Ruhrgebiet, zeigt jetzt: Die Menschen im Ruhrgebiet sind offenbar anpassungsfähiger und krisenresistenter als die Bewohner anderer Regionen Deutschlands. Ein Vergleich von sieben deutschen Regionen habe demnach erstmals „einen bislang unterschätzten Faktor für die Bewältigung bevorstehender Transformationsprozesse“ beleuchtet, wie es heißt: die Mentalität der Menschen.
Vor Koalitionsgesprächen von Union und SPD: Abschaffung des Ostbeauftragten gefordert
Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft sind dabei laut Studie wichtigste Schlüsseleigenschaften. In einem Mentalitäts-Atlas vergleichen die Studienautoren die wahrgenommenen Selbst- und Fremdbilder in sieben deutschen Regionen: Bayern, Berlin, Norddeutschland, Rheinland, Ruhrgebiet, Sachsen und Schwaben. Das Ruhrgebiet belegt demnach beim Thema Fremdbild mit 77 Prozent den ersten Platz bei der Eigenschaft Anpassungsfähigkeit – vor dem Rheinland (73 Prozent) und Berlin (74 Prozent). Abgeschlagen sind die süddeutschen Regionen und Sachsen (Schwaben 67 Prozent, Bayern 60 Prozent und Sachsen nur 52 Prozent).
RVR-Direktor und SPD-Politiker Garrelt Duin, ehemals Wirtschaftsminister von NRW, erklärt im Interview, woran das liegen könnte und warum das ein Potenzial für NRW birgt. Und er fordert vor den Koalitionsgesprächen von Union und SPD die Abschaffung des sogenannten Ostbeauftragten – doch dazu später.
Herr Duin, die Menschen im Ruhrgebiet sind laut der Allensbach-Studie so aufgeschlossen und anpassungsfähig wie in keiner anderen Region Deutschlands. Wie ist das zu erklären?
Die Leute können Wandel, weil sie ihn gewohnt sind. Beispiel Bochum: Nach dem Steinkohlebergbau war dort über Jahrzehnte Opel maßgeblicher Arbeitgeber. Nach den Werksschließungen kam eine neue erfolgversprechende Entwicklung. Das hat aber eben nicht zu Resignation geführt.
Allerdings hat das Ruhrgebiet auch massive Probleme. Mehrere Städte weisen die höchste Armutsquote von NRW auf.
Es gab immer einen Unterschied zwischen dem Süden und dem Norden des Ruhrgebiets, wo vornehmlich der Bergbau stattfand. Im Süden hat sich schon viel entwickelt. In Dortmund etwa: Auf dem Gelände des früheren Hoesch-Stahlwerks sind jetzt ein attraktives Wohngebiet und ein See. Zudem gibt es ein Technologiezentrum, da arbeiten mehr Leute als früher beim Stahl. Und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir keine einzige Universität hier. Jetzt sind es 22 Unis und Hochschulen.
Und im Norden?
Da sind die Transformationsprozesse gerade erst in Gang gesetzt und es ist eine Herausforderung, Nord und Süd anzugleichen. Aber da sind wir dran, indem wir ehemalige Industrieflächen ganz neu gestalten.
Wie lange dauert das denn?
Solche Entwicklungen brauchen gute zehn Jahre, manchmal ein bisschen länger. Beispiel Bottrop: da sind wir mitten in einer riesigen Flächenentwicklung zwischen Essen und Bottrop. Dort entsteht die Freiheit Emscher, wo es um Kreislaufwirtschaft und erneuerbare Energien gehen wird. Aktuell entwickelt sich sehr viel im Ruhrgebiet.
„Das Ruhrgebiet ist nie fertig“
Das Image der Region ist allerdings immer noch nur mäßig gut. Ärgert Sie das?
Ich kann da immer nur mit einer Einladung kontern. Jeder, der hierherkommt, und vom Dach der Zeche Zollverein aus übers Ruhrgebiet schaut, sagt: „Boah, ist das grün hier.“ Es gibt ein unglaubliches Angebot an Kultur, an Sport, und die Mieten sind noch relativ bezahlbar im Vergleich zu anderen Ballungsräumen.
Warum wissen das die Menschen in Bayern oder Frankfurt denn nicht?
Das regionale Marketing hat in der Vergangenheit nicht immer auf die richtigen Themen gesetzt. Man muss die Mentalität der Menschen in den Vordergrund stellen, die macht das Ruhrgebiet aus. Wenn man neu dazukommt, fühlt man sich sehr schnell angenommen und kann Teil des Ganzen werden. Nächstes Jahr starten wir die Manifesta im Ruhrgebiet, und 2027 die internationale Gartenausstellung. Das wird wieder ein Aha-Effekt bei vielen Besuchern auslösen. Und unser Standort für die IGA wird Duisburg-Hochfeld sein, ein Stadtteil, der durchaus auch Probleme hatte und nicht nur kuschelig ist. Aber diese Seiten wollen wir eben auch zeigen. Das Ruhrgebiet ist ein Melting Pot. Und man kann hier noch Dinge ausprobieren, das Ruhrgebiet ist nie fertig. Gerade für junge Leute ist das spannend.
AfD besonders stark in Gelsenkirchen: „Probleme, die man mit den bisherigen Mitteln nicht mehr lösen kann“
Bei der Bundestagswahl hat die
AfD erstmals die meisten Zweitstimmen geholt. Wie passt das zur Mentalität der Offenheit im Ruhrgebiet?
Da spielen mehrere Aspekte eine Rolle. Erstens: Gelsenkirchen gehört zu den Kommunen, die dringend finanzielle Unterstützung auch im Sinne der Altschuldenlösung für Kommunen benötigen. Die nächste Bundesregierung braucht keinen Ostbeauftragten, sondern dringend einen Beauftragten für gleiche Lebensverhältnisse. In Städten wie Gelsenkirchen gibt es spezifische Probleme, die man mit den bisherigen Mitteln nicht mehr lösen kann. Zweitens haben wir in Gelsenkirchen und auch in Duisburg ein Problem mit südosteuropäischer Zuwanderung.
Inwiefern?
Es gibt Strukturen, in denen Menschen aus Südosteuropa die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit und die hiesigen Sozialsysteme ausnutzen. Vor allem in den beiden genannten Städten. Da gibt es ganze Straßenzüge, in denen es an Ordnung und Sicherheit und auch an Sauberkeit mangelt. Und die Leute sehen, dass da etwas aus den Fugen gerät. Manche werden dann womöglich empfänglich für vermeintlich einfache Lösungen, wie sie die AfD propagiert.
Wie kann man das in den Griff bekommen?
Man muss den Begriff der Arbeitnehmerfreizügigkeit schärfen und klarer regeln, für wen sie gilt. Selbstverständlich muss diese weiterhin gelten für Menschen, die hier gerne arbeiten wollen. Aber wir müssen verhindern, dass das System ausgenutzt werden kann. In Brüssel habe ich mit allen Oberbürgermeistern bereits mit Ursula von der Leyen darüber gesprochen. Aber man muss es national lösen. Das wird deshalb auch Teil der Koalitionsverhandlungen sein.
Rubriklistenbild: © Federico Gambarini, Carsten Koall/dpa (Montage)