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„Frontalangriff unwahrscheinlich“: In Charkiw will Putin die Verteidiger offenbar austricksen
VonKarsten-Dirk Hinzmann
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Terror lastet auf Charkiw. Putin braucht ein Druckmittel, und Sergej Lawrow kündigt die Großoffensive an – ein Taschenspielertrick, glauben Analysten.
Charkiw – „Einen Frontalangriff auf die Millionenstadt Charkiw halte ich persönlich für extrem unwahrscheinlich“, sagt Nikita Gerassimow. Den Verlust dieser Metropole bedeutete für Kiew allerdings ein Desaster, sagt der in Deutschland lebende Journalist und Konfliktbeobachter gegenüber IPPEN.MEDIA: „Charkiw ist die wichtigste ukrainische Großstadt in der Nähe der russischen Grenze und ein Bollwerk der gesamten Region.“ Auf dieses Zentrum ukrainischer Autonomie schielt gerade Wladimir Putins Invasionsarmee, seit Tagen liegt die Millionen-Metropole unter Feuer von Russlands Raketen. Der Despot könnte mit diesem Feuerzauber die Ukraine aber schlicht hinters Licht führen wollen.
Im Schatten der einschlagenden Raketen rollen gepanzerte Fahrzeuge in der Nordukraine auf die Stadt zu. Fraglich ist aktuell, wer welche Gebiete kontrolliert. Der staatliche US-Auslandssender Voice of America (VOA) publiziert russische Meldungen, wonach Moskaus Streitkräfte die Dörfer Pletenivka, Ohirtseve, Borysivka, Pyl‘na und Strilecha in der Region Charkiw jenseits der Grenze der russischen Region Belgorod eingenommen hätten. Russische Truppen stünden damit rund 30 Kilometer vor Charkiw; von ukrainischer Seite blieb eine Bestätigung der Eroberung aus, allerdings kam die teilweise vom Institute for the Study of War (ISW): nach deren Auswertung von Satellitenbildern sei mindestens eines der Dörfer in russischer Hand. „Das in Washington ansässige Politikinstitut bezeichnete die jüngsten Erfolge Russlands als ,taktisch bedeutsam‘“, wie VOA berichtet.
„Daher ist es wahrscheinlicher, dass das eigentliche Ziel Russlands nicht darin besteht, Charkiw tatsächlich zu besetzen, sondern es unbewohnbar zu machen. Indem es Charkiw entvölkert und die meisten Bewohner vertreibt, könnte Moskau die Flüchtlingssituation innerhalb der Ukraine und indirekt auch im Westen erheblich verschärfen.“
Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine, die Ukraine führe Gegenangriffe durch, sagte der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj, wie ihn das ZDF zitiert. „Der Besatzer muss spüren, dass es für ihn nirgendwo in der Ukraine leicht sein wird.“ Die Truppen müssten der Ukraine nun „die Initiative zurückgeben“, hatte Selenskyj ebenfalls geäußert, so das ZDF. Allerdings rätseln Experten über die Absichten Wladimir Putins: So bedeutsam die Metropole ist, so nah sind Putins Truppen an einem kapitalen Rückschlag. „Die Einnahme einer solchen Metropole, die zudem auch noch so stark befestigt ist, bedürfte einer separaten Armeegruppierung von Zehntausenden Mann mit absoluter Luftüberlegenheit“, mutmaßt Journalist Gerassimow.
Putin ohne Personal: Charkiw-Offensive vielleicht nur eine Show?
Putin fehlt das Personal. Der motorisierte Vormarsch in den Verwaltungsbezirken Charkiw und Sumy könnte also tatsächlich nur Show sein, spekuliert das Center for Defense Strategies (CDS). Laut dem ukrainischen Thinktank könnte Russlands Armeeführung planen, „ukrainische Truppen des 11. und 44. Armeekorps und möglicherweise der 138. Separaten Motorisierten Schützenbrigade der 6. Armee anzugreifen“. Ziel der russischen Angreifer könnte demnach sein, „das Kommando der ukrainischen Verteidigungskräfte abzulenken und den Einsatz von Reserven, insbesondere von strategischen Reserven, in kritischeren Bereichen zu verhindern“. Mit einer begrenzten Offensive in Charkiw würden sie einen Durchbruch in Richtung der Stadt androhen und einen erheblichen Teil der ukrainischen Verteidigungskräfte dort binden wollen, wie das CDS vermutet.
Dem Erdboden gleichmachen: Ein Feuerwehrmann geht durch den Qualm eines brennenden Hauses in Charkiw. Russland will die Stadt in Schutt und Asche verwandeln und am besten weitestgehend entvölkern.
Bis jetzt allerdings bestehe noch kein Grund zur Beunruhigung berichten die Analysten von Frontelligence Insight – sie verweisen in einer aktuellen Veröffentlichung darauf, dass Wladimir Putin immer noch hauptsächlich an der Kontrolle über den Donbas interessiert sei, was darauf hindeute, dass die Eroberung Charkiws wahrscheinlich ein Ziel untergeordneter Bedeutung darstelle – vor allem angesichts fehlender infanteristischer Mittel. „Stattdessen nutzen sie wahrscheinlich ihren zahlenmäßigen Vorsprung an Einheiten und Personal, um die aktive Frontlinie zu erweitern, wodurch die ukrainischen Truppen dünner werden und die Ukraine gezwungen wird, Einheiten aus der Donbas-Region zu verlegen“, schreibt Frontelligence Insight.
Russland braucht Rekruten: Für Offensive auf Charkiw aber kämen die viel zu spät
Insofern beobachteten die Analysten zwar russische Bestrebungen, ihre Positionen zu halten und zu verstärken; das beträfe aber lediglich die Siedlungen in der Peripherie von Charkiw in der grauen Zone in Richtung russischer Grenze. Allerdings fehlten Hinweise darauf, dass die Russen „ganze Regimenter und Brigaden für einen ernsthaften Vorstoß in Richtung der Hauptverteidigungslinie der Ukrainer zwischen der Grenze und Charkiw zusammenziehen“, schreibt David Axe für Forbes. Die Soldaten sind ohnehin kaum vorhanden. Auch wenn gerade 300.000 Rekruten regulär eingezogen würden, sind die lange noch nicht fronttauglich. Im März hatte Viktor Funk für Table Media spekuliert, dass nach der Wahl Putins eine neue Mobilisierungswelle rollen würde. Allerdings kostet das alles Zeit.
Für eine Groß-Offensive gen Charkiw im Sommer ist das schon zu spät. Bis dahin könnten die Angriffsspitzen in den besetzten Siedlungen auch schon längst verblutet sein. Laut Voice of America kündigten die USA ein neues 400-Millionen-Dollar-Militärhilfepaket mit Waffen und Ausrüstung für die Ukraine an, während die ukrainischen Streitkräfte versuchen, eine verstärkte russische Panzeroffensive in der Nähe Charkiws abzuwehren, sagte aktuell John Kirby, der Sprecher für nationale Sicherheit des Weißen Hauses. US-Offizielle erinnern an die „Presidential Drawdown Authority“, eine Notfallmaßnahme, mit der US-Präsident Joe Biden ohne Zustimmung des Kongresses Waffen und Ausrüstung aus Lagerbeständen an die Ukraine weitergeben kann – was er schon wiederholt getan hat.
Gouverneur gibt sich gelassen: Vollständige Evakuierung von Charkiw ist kein Thema
Diese Hilfe kann nach Angaben des Außenministeriums innerhalb von Tagen oder Stunden nach der Genehmigung an der Front eintreffen. Das aktuelle Notfallpaket erhält vor allem Munition und Raketen um die Luftabwehr-Systeme nachladen zu können, daneben Schützenpanzer und Panzerabwehr-Raketen.
Panzer, Drohnen, Luftabwehr: Waffen für die Ukraine
Auch aus diesem Grund verbreitet Oleh Synjehubow Zuversicht, die Lage unter Kontrolle zu haben: „Wir verstehen klar, welche Kräfte der Feind im Norden unseres Territoriums einsetzt. Sicherlich kann die Eskalation zunehmen, der Druck kann zunehmen, er kann seine Militäreinheiten und seine militärische Präsenz verstärken“, sagte der Gouverneur von Charkiw der Nachrichtenagentur Reuters. Er wies darauf hin, dass die Regionalhauptstadt Charkiw derzeit keiner unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt sei und keine Notwendigkeit bestehe, zu beginnen mit der Evakuierung ihrer rund 1,3 Millionen Einwohner, die trotz regelmäßiger Raketen- und Drohnenangriffe weiterhin dort leben. Einige Tausend Bewohnerinnen und Bewohner werden gleichwohl in Sicherheit gebracht.
A more comprehensive update about the Kharkiv border incursion is provided in the latest Frontelligence Insight report, offering expanded insights that were not included in the original thread:
Deshalb bleibt der russischen Armee wohl keine andere Wahl als ihre Taktik fortzusetzen – das sei auch dem Kreml bewusst, vermuten Christian Mölling und András Rácz im ZDF: „Daher ist es wahrscheinlicher, dass das eigentliche Ziel Russlands nicht darin besteht, Charkiw tatsächlich zu besetzen, sondern es unbewohnbar zu machen. Indem es Charkiw entvölkert und die meisten Bewohner vertreibt, könnte Moskau die Flüchtlingssituation innerhalb der Ukraine und indirekt auch im Westen erheblich verschärfen“, sagen die beiden Wissenschaftler der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Lawrow lamentiert über Sicherheit: Schutzzone von 40 Kilometern Tiefe geplant
Möglicherweise stünde ein größerer Exodus der ukrainischen Bevölkerung an, wenn einträfe, was der russische Außenminister Sergej Lawrow im April angekündigt hatte: die Einrichtung einer demilitarisierten Zone, um russische Grenzsiedlungen vor ukrainischen Militärschlägen zu schützen. Möglicherweise spekuliert Lawrow darauf, diesen Landstrich zu einem „Niemandsland“ zu gestalten, wie sie auf östlicher Seite der einstigen innerdeutschen Grenze bestanden habe – Journalist Gerassimow vermutet, das könnte ein Streifen von 40 Kilometern Tiefe werden – laut Lawrow sei die Stadt Charkiw Dreh- und Angelpunkt russischer Planungen.
Lawrow sagte das klipp und klar gegenüber den Radiosendern Sputnik, Govorit Moskwa und Komsomolskaya Prawda, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet: „Präsident Putin hat die Frage, wie unser Territorium sicher gemacht werden kann, ganz klar beantwortet“, sagte Lawrow laut der FAZ. „Er hat gesagt: ‚Wir müssen die Linie zurückverlegen, von der aus sie uns treffen können.‘ Meines Wissens spielt Charkiw dabei eine nicht unwichtige Rolle.“
FAZ-Autor Howard Hunt vermutet, Putin will sich in eine starke Position für Verhandlungen manövrieren. So verlockend das klingen mag, einen guten Ausgang der Charkiw-Offensive wischt Hunt aber schon mit seiner Überschrift vom Tisch: „Ein schrecklicher Frieden droht.“