Expertenstimmen nach den Ost-Wahlen
AfD und BSW rapide auf dem Vormarsch: Was passiert – und was noch zu erwarten ist
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Sok Eng Lim
Nils Tillmann
Florian Naumann
Ein Blick auf die Daten zeigt: AfD und BSW sind auf dem Vormarsch. Warum ist das so? Experten sehen eine „Zäsur“ – aber auch Versäumnisse.
Wenn es noch einen Beweis brauchte, die Thüringen- und die Sachsen-Wahl haben ihn geliefert: Die Parteienlandschaft in Deutschland hat sich fundamental geändert. In den beiden Bundesländern gibt es keine Mehrheiten ohne die beiden Newcomer-Parteien AfD oder BSW mehr. Und die etablierten Parteien sind längst in den Landtagen nicht mehr gesetzt – am Sonntag (1. September) sind die Grünen aus einem, die FDP ist gar aus beiden Landesparlamenten geflogen.
Das hat praktische Folgen: Politologe Jürgen Falter etwa sieht eine „Zäsur“, wie er im Gespräch mit IPPEN.MEDIA sagt. Weil es „unglaublich schwer werden wird, Koalitionen zu bilden“. Und dann gibt es Thesen wie die des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk. „Die Ostdeutschen sind den allgemeinen Entwicklungen immer etwas voraus“, sagte er dem Tagesspiegel. Eine „illiberale Demokratie“ sei früher oder später auch in Deutschland wahrscheinlich. Zeit für einen genaueren Blick: Wie stark ändert sich das Parteiensystem? Und warum?
BSW, AfD und Co.: Daten zeigen, wie rapide neue Parteien in Deutschland aufsteigen
Ein Vergleich verdeutlicht die Lage: Noch 1992 saß die FDP in 15 Landtagen, bald werden es nur noch 9 sein. Die AfD indes hat sich nach ihrer Gründung 2013 immer schneller in die Landespolitik geschoben: Anfang 2016 war sie 8 Länderparlamenten dabei – bis Jahresende 2017 waren es schon 14.
Ganz neu ist das Phänomen freilich nicht. Nach Jahrzehnten der Drei-Parteien-Stabilität fanden ab 1980 die Grünen den Weg ins Parteiensystem. Die Linke fasste jedenfalls zwischenzeitlich mit Abgeordneten in 13 Landtagen Fuß – und die Freien Wähler scheinen sich jedenfalls in einigen Bundesländern etablieren zu können; nicht mehr nur in Bayern. Grüne und Linke stießen in ihren Anfangstagen auf große Vorbehalte. Doch gerade die hohen Stimmanteile für AfD und BSW und enorm steilen Kurven bei den Stimmzuwächsen sind ein neues Phänomen. Das angesichts des Charakters der beiden Parteien vielerorts Sorge bereitet.
Neue Parteien BSW und AfD in Thüringen keine „Antipoden“
„Es überrascht, wie schnell und radikal das BSW der Linken das Wasser abgraben konnte“, sagt etwa Soziologie-Professorin Silke van Dyk IPPEN.MEDIA. „Zumal die BSW-Mitglieder sich seit der Parteigründung deutlich radikaler äußern als noch zu Wagenknechts Zeiten in der Linken.“ Sie betönt zugleich mit Blick auf Björn Höckes Thüringen-AfD: „Mehr als 30 Prozent derjenigen, die in Thüringen ihre Stimme abgegeben haben, haben einen Rechtsradikalen gewählt.“
Der Politikwissenschaftler André Brodocz indes sieht im nominell linken BSW und der AfD in Thüringen keine Antipoden: Vorwahlbefragungen hätten gezeigt, dass etwa ein Viertel der BSW-Anhänger für die AfD votieren könnte, wenn es das BSW nicht gäbe. „Das sind auch diejenigen Anhänger, die im Vergleich zu den anderen Parteianhängern in größerer Zahl der AfD zugestehen, dass sie eine Partei ist, die Sachen sagt, die andere nicht sagen.“ Als „Antipoden“ fungierten im Bundesland eher „die AfD und die Grünen“.
Haben CDU, SPD und Co. die Nichtwähler ignoriert?
Was aber steckt dahinter? Zu unterscheiden ist wohl tatsächlich zwischen Ost- und Westdeutschland. Im Osten werde die AfD vor allem im ländlichen Raum gewählt, sagte der Politikwissenschaftler Torsten Oppelland unserer Redaktion schon vor einiger Zeit, auf dem Höhepunkt der Thüringer Regierungskrise. „Dort gibt es kleinere Ortschaften, auch kleinere Städte, bis hin an den Rand zur Großstadt, wie etwa Gera, in denen ein allgemeines Niedergangsgefühl herrscht.“ Auch van Dyk betont nun: „Bessere Sozial- und Infrastrukturpolitik wäre zumindest die Voraussetzung dafür, auch in strukturschwachen Regionen wieder Vertrauen herzustellen.“
Das Meinungsforschungsinstitut Forsa verwies vor dem Wahltag in seinem Newsletter auf einen tiefgreifenden Wandel. Noch bei der Bundestagswahl 2002 hätten in Sachsen fast drei Fünftel der Wählerinnen und Wähler für „West-Parteien“ – also CDU, SPD, FDP und Grüne – gestimmt. Doch spätere Warnsignale seien folgenlos geblieben. An der Landtagswahl 2014 habe sich mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten nicht beteiligt: „Offenbar, weil die hohen Erwartungen an die Wiedervereinigung nicht erfüllt wurden.“
Zwischen 2014 und 2017 habe sich dann der Anteil der Stimmen für rechtsradikale Parteien verdreifacht. Der Anteil der CDU-Wähler sei indes nicht gesunken. „Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass die meisten AfD-Wähler – anders als von vielen Teilen der CDU bis heute gemutmaßt – nicht ‚dem Fleische der CDU‘ entstammen“, schrieb Forsa. Auch das BSW schwäche die AfD kaum. Es gehe historisch betrachtet um frühere Anhänger von NPD, Republikanern und DVU. Und eben um einstige Nichtwähler.
Doch es bleibt komplex. Am Sonntag lag die Wahlbeteiligung in Sachsen bei 74,4 Prozent. Und diesmal war es auch die Sachsen-CDU, die Nichtwähler an die Urnen brachte, laut infratest dimap 78.000 – Forsa schreibt vom „Kretschmer-Sog“. 89.000 bisherige Nichtwähler wanderten zur AfD. Zugleich war zu erkennen: Mehr als 80.000 Wählerinnen und Wähler verlor die CDU an AfD und BSW, jeweils zu fast gleichen Teilen.
AfD und BSW nicht nur in Thüringen auf dem Vormarsch: Woran liegt es?
Während Brodocz strategische Fehler etwa auch bei der Thüringen-CDU vermutet, forderte van Dyk mit Blick auf den Stimmanteil der AfD „Wählerkritik“: „Man muss die Ampelregierung nicht lieben, um einmal zu sagen: Hier sind die Wählerinnen und Wähler das Problem. Und nicht die Ampel.“ Die nach Solingen viel zitierte „innere Sicherheit“ habe zugleich „alles andere verdrängt“, fast alle demokratischen Parteien ließen sich von der AfD treiben. Innere Sicherheit sei zwar wichtig – in der aktuellen Debatte werde sie aber zum Ersatzthema für „soziale Sicherheit“. „Lücken“ in der politischen Mitte auf diesem Feld sah zuletzt auch CDU-Sozialpolitiker Dennis Radtke.
Kowalczuk hält das Ende der Fahnenstange noch nicht für erreicht. „Ich begreife Ostdeutschland als ein Laboratorium der Globalisierung“, sagte er dem Tagesspiegel. Die globalen Entwicklungen gebe es aber – neben „regionalen Ursachen“ – in jedem Land. Sorge etwa vor Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. „Wenn wir alles so weiterlaufen lassen, werden wir in Ostdeutschland erleben, was in anderen Ländern erst noch droht.“ Das Parteiensystem ist in Bewegung. (fn)
Rubriklistenbild: © Montage: IPPEN.MEDIA; [M] Sok Eng Lim; Fotos: Karina Hessland/ Imago



