„Bedrohung durch Putin enorm“
Schweden rüstet nach NATO-Beitritt massiv auf – und zahlt hohen Preis
VonPeter Siebenschließen
Schweden hat seine Neutralitäts-Politik geändert und schickt Soldaten ins Baltikum. Beim Thema Atomwaffen lässt sich die Regierung eine Hintertür offen.
Nur einmal kriselte es im Kalten Krieg so richtig zwischen Russland und Schweden: Als 1952 sowjetische Jagdflieger zwei Maschinen der schwedischen Luftwaffe über der Ostsee abschossen und damit acht Besatzungsmitglieder töteten, wäre es beinahe zum Staatseklat gekommen. Doch man einigte sich auf Stillschweigen, erst Jahrzehnte später wurde die sogenannte Catalina-Affäre öffentlich. Der Vorfall zeigt eindrücklich: Neutralität war lange Zeit oberstes Gebot in Schweden. Bis jetzt. Seit zwei Jahren rüstet das Land massiv auf und entsendet Soldaten. Und zahlt dafür einen hohen Preis.
Nach Putin-Angriff auf Ukraine: Schweden rüstet als NATO-Mitglied auf
„Neutralität beziehungsweise Bündnisfreiheit gehörten in Schweden seit jeher dazu, man kannte nichts anderes“, sagt Tobias Etzold. Er forscht am Norwegian Institute of International Affairs (Nupi) unter anderem zu Sicherheitspolitik in Nordeuropa. Selbst nach 2014, als Russland die ukrainische Krim annektierte, habe man in Schweden nicht über einen NATO-Beitritt nachgedacht. Multilateraler Dialog, Vermittlung und Abrüstung, so lautete das Credo: Block-Freiheit im Frieden und Neutralität im Krieg.
Das änderte sich schlagartig mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022. Nicht nur Norwegen änderte seine Politik Russland gegenüber, die lange auf gute Beziehungen ausgerichtet war, grundlegend. Auch Schweden gab seine Neutralität zwischen West und Ost auf, ist seit März 2024 NATO-Mitglied, rüstet auf und entsendet Soldaten: Bis 2025 soll eine Brigade von bis zu 1000 Mann als Teil der multinationalen NATO Forward Land Force in Lettland stationiert werden. Und erst kürzlich gab die Regierung Pläne bekannt, Soldaten nach Finnland zu schicken und dort eine NATO-Vorreiterrolle einnehmen zu wollen. Derweil werden schwedische F17-Kampfjets an der NATO-Luftüberwachungsmission über den baltischen Ländern teilnehmen, und die Marine steuert Schiffe zu den ständigen Seestreitkräften des Verteidigungsbündnisses bei.
Das passt kaum zum jahrzehntelang gepflegten Weg, was allmählich zum Problem wird. Denn die schwedische Regierung musste sich auf harte Kompromisse einlassen, um NATO-Mitglied werden zu können. Die Türkei und Ungarn hatten sich jahrelang gegen den Beitritt gesperrt. Ungarns Präsident Viktor Orbán missbilligte die schwedische Kritik an politischen Entwicklungen in seinem Land, und dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan war es ein Dorn im Auge, dass Schweden kurdische Organisationen unterstützte und ein Waffenembargo gegen die Türkei verhängt hatte.
Wegen NATO-Beitritt musste Schweden Kompromisse mit Erdogan eingehen
Die schwedische Regierung lenkte ein, hob das Embargo auf und versprach, türkische Auslieferungsanträge für kurdische Terrorverdächtige umgehend zu prüfen – zum Missfallen unter anderem von Menschenrechtsorganisationen in Schweden. „Viele Kritiker sagen: Als Preis für den NATO-Beitritt wurden typische schwedische Werte preisgegeben“, sagt Tobias Etzold. „Es gab keine tiefergehende Pro-Contra-Debatte, die alle mitgezogen hätte.“
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Die Zustimmung in der Bevölkerung zum NATO-Beitritt ist in Schweden bei weitem nicht so groß wie etwa in Finnland, das 2023 Bündnis-Mitglied geworden war. Dort begrüßen 80 bis 90 Prozent der Menschen die Entscheidung. In Schweden wächst die Zustimmung zwar, aber wesentlich langsamer, laut Umfragen liegt sie bei um die 65 Prozent. Aber: „Die Bedrohung durch Putin wird als so enorm wahrgenommen, dass die Regierung im Grunde bereit war, alles für den NATO-Beitritt zu tun.“ Das habe zu innenpolitischen Spannungen und Meinungsverschiedenheiten in der Bevölkerung geführt. „Die Friedensbewegung in Schweden hat eine recht starke Tradition und ist in der Debatte ein echter Faktor“, erklärt Experte Etzold.
Atomwaffen in Schweden: „Regierung lässt sich Tür offen“
Diskutiert wird auch über eine mögliche Atomwaffenstationierung in Schweden. Die Regierung spricht sich zwar eher dagegen aus, aber anders als in Norwegen und Dänemark gibt es kein explizites Nein. „Die Regierung will sich offenbar noch Türen offen lassen. Wenngleich die Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist“, sagt Etzold.
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