Ausweitung vom Ukraine-Krieg?
Sorge vor Putins möglichem Angriff an Nato-Ostgrenze: „Dann kommt Berlin als nächstes“
- VonBettina Menzelschließen
Estland grenzt direkt an Russland – und sieht sich in Gefahr. Während Tallinn die Militärausgaben hochschraubt, hadern die russischsprachigen Esten mit ihrer Identität.
Talinn/Narva – Ein plötzlicher Druckabfall in der Ostsee-Pipeline Balticconnector zwischen Finnland und Estland brachte das Baltikum jüngst erneut in den geopolitischen Fokus. Der genaue Urheber der mutmaßlichen Sabotage ist noch unklar, doch Moskau steht auf der Liste der Verdächtigen. Estland teilt sich eine fast 300 Kilometer lange Grenze mit Russland, die Angst vor dem direkten Nachbarn ist groß. Ein Angriff auf Nato-Gebiet könnte hier beginnen, glaubt man in Tallinn – und bereitet sich entsprechend vor.
Estland in Sorge vor Russland: „Russlands Gegenangriff würde bei uns beginnen“
Die Suwalki-Lücke bei Kaliningrad gilt als Achillesferse der Nato. Immer wieder provozierte Moskau in der russischen Exklave mit Militärmanövern. Würde Russland einen Angriff auf die Allianz planen, halten Experten den Korridor zwischen Litauen und Polen für die strategisch beste Möglichkeit. Estland sieht das offenbar anders: „Russlands Gegenangriff würde hier bei uns beginnen“, zitiert der Tagesspiegel den estnischen Außenminister, Margus Tsahkna. „Die Ukraine ist für Russland nicht genug“, glaubt auch der Verteidigungsminister des Landes, Hanno Pevkur. „Wenn das Baltikum fällt, kommt Berlin als Nächstes“, so der Minister laut Tagesspiegel. Generell gelten die Länder Estland, Lettland und Litauen aufgrund der Nähe zu Russland als besonders bedroht.
Nach Recherchen skandinavischer Medien spionierte Russland zuletzt unter anderem mit Forschungsschiffen kritische Infrastruktur in nordeuropäischen Gewässern aus. Damit wolle Moskau vor allem Positionen von Gasleitungen, Strom- und Internetkabeln rund um Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland kartieren, berichteten die nordischen Rundfunksender SVT, NRK, DR und Yle im April. Damit wolle Russland womöglich Sabotageakte vorbereiten, vermuteten Geheimdienste. Im Jahr zuvor waren die für Europas Energieversorgung wichtigen Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 in der Ostsee vorsätzlich beschädigt worden. Wer hinter den Anschlägen steckt, ist bis heute nicht geklärt.
Estland erhöht Militärausgaben: So reagiert die Bevölkerung
Das Verteidigungsbündnis North Atlantic Treaty Organization formierten die Gründungsstaaten im Jahr 1949, um sich vor der Sowjetunion zu schützen – das scheint heute aktueller denn je. Die Nato könne nicht ausschließen, dass sie zum militärischen Ziel Russlands werde, warnte das Verteidigungsministerium bereits im Februar. Die Sorge in Tallinn ist groß. Entsprechend investiert Estland deutlich mehr als die von der Nato vorgegebenen zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in seine Verteidigung. Im kommenden Jahr sollen es sogar 3,2 Prozent sein.
Um das zu finanzieren, will die Regierung die Einkommens- und Mehrwertsteuer trotz hoher Inflation um jeweils zwei Prozent anheben. „Es war schwierig, den Verteidigungshaushalt um ein Prozent des BIP zu erhöhen, aber wir können uns unsere Nachbarn nicht aussuchen – Russland war, ist und bleibt unsere größte Bedrohung“, sagte Perkur im Oktober in Warschau. Freiheit sei nicht gratis, betonte der Verteidigungsminister als Begründung dieser Maßnahme.
In der estnischen Bevölkerung kommt das hohe Verteidigungsbudget der Regierung indes nicht bei allen gut an. Die Stimmung gegenüber der Regierung ist ohnehin angespannt, denn Premierministerin Kaja Kallas steht wegen der Russland-Geschäfte ihres Mannes in der Kritik. Eine seiner Firmen habe auch nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs noch Waren nach Russland verkauft, lautet der Vorwurf. Das kratzt an der Glaubwürdigkeit der Putin-Gegnerin. Doch laut der jährlichen Umfrage des estnischen Verteidigungsministeriums sind 43 Prozent der Menschen im Land für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben, ein Drittel will hingegen das aktuelle Niveau beibehalten.
Nato will Ostflanke stärken: Das ist Deutschland Rolle
Um die Ostflanke der Nato zu stärken, kündigte Berlin jüngst an, 4000 Bundeswehrsoldaten dauerhaft in Litauen zu stationieren. 35.000 Soldaten will Deutschland in sehr hoher Bereitschaft halten. Es gehe darum, die neuen Verteidigungspläne der Nato mit konkreten Kräften zu hinterlegen, erklärte Verteidigungsminister Boris Pistorius vergangene Woche am Rande eines Nato-Treffens in Brüssel. Insgesamt will das Verteidigungsbündnis 300.000 Soldaten in hoher Bereitschaft halten. Zum Vergleich: Derzeit stehen mit der schnellen Eingreiftruppe NRF 40.000 Soldaten bereit. Nach Angaben der Nato geht es vor allem um die Abwehr eines Angriffs im Ausmaß von jenem auf die Ukraine.
Moskau hat offenbar besondere Taktik für russischsprachige Bevölkerung im Baltikum
Eine Besonderheit Estlands ist nicht nur die geografische Nähe zu Russland, sondern auch der große Anteil an Menschen mit russischen Wurzeln. 200 Kilometer östlich der estnischen Hauptstadt Tallinn liegt Narva, die drittgrößte Stadt des Landes, in der etwa 90 Prozent der Bewohner Russisch sprechen. In Sowjetzeiten gab es enge Beziehungen zwischen der Zwillingsstadt Iwangorod auf der anderen Seite des Flusses. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Fluss zur Grenze –und trennt heute Russland von Nato-Gebiet. Fast ironisch verbindet die „Brücke der Freundschaft“ beide Länder miteinander.
Narva bekennt sich dennoch klar zu Europa, auch wenn es – aufgrund der russischen Wurzeln – nicht allen in der Bevölkerung leicht fällt. Die Unterstützung der russischsprachigen Bevölkerung für den bewaffneten Widerstand ist laut der Umfrage des Verteidigungsministeriums im Vergleich zum Vorjahr um zehn Prozentpunkte gestiegen – und liegt nun bei 71 Prozent. 44 Prozent der russischsprachigen Esten gaben im vergangenen Jahr an, aktiv an der Landesverteidigung teilzunehmen zu wollen, wenn Russland angreife. In diesem Jahr kletterte der Anteil auf 48 Prozent.*
Die russischsprachigen Menschen im Baltikum sind offenbar Teil einer besonderen Strategie Putins. Wie ein Recherchekollektiv aus Süddeutscher Zeitung (SZ), NDR und WDR in Bezugnahme auf geheime Kreml-Dokumente enthüllte, will Russland im Baltikum die Beziehungen zu Russland „wiederherstellen“ und seinen Einfluss ausbauen. Gerade die Verbindung von „russischen Landsleuten“ zu „ihrem historischen Heimatland“ solle gestärkt werden, hieß es.
Nato-Generalsekretär warnt Russland – Putin nennt Pipeline-Vorwürfe „kompletten Unsinn“
Die Nato erhöhte nach der Pipeline-Sabotage ihre Patrouillen im Baltischen Meer, wie das Verteidigungsbündnis am Donnerstag mitteilte. Mit dem Leck an der Pipeline zwischen Estland und Finnland habe man nichts zu tun, erklärte der russische Präsident Wladimir Putin indes am Freitag. Solche Vorwürfe seien laut Kremlchef „kompletter Unsinn“.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte indes, falls sich herausstellen sollte, dass es sich bei dem Pipeline-Leck um einen vorsätzlichen Angriff auf kritische Infrastruktur der Nato gehandelt habe, werde es eine vereinte und entschlossenen Reaktion des Verteidigungsbündnisses geben.
*Die vom estnischen Verteidigungsministerium in Auftrag gegebene Umfrage fand zwischen März und Anfang April 2023 statt. 1200 Einwohner Estlands im Alter von 15–74 Jahren wurden online und am Telefon befragt.
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