„Angebot und Nachfrage“
Warum hat die AfD so viel Zulauf? Wissenschaftler stellt unbequeme Hypothese vor
VonFlorian Naumannschließen
Die AfD erzielt beeindruckende Resultate. Ist dies das neue „Normal“? Ein aktuelles Buch suggeriert dies – und identifiziert einen eher beunruhigenden Grund.
30 Prozent für eine mindestens in Teilen rechtsradikale Partei – jahrzehntelang schien das in der Bundesrepublik undenkbar. Mittlerweile ist es Alltag, jedenfalls im Osten Deutschlands. Und auch in Umfragen zur Bundestagswahl rangiert die AfD um die 20 Prozent. „Was tun?“, lautet eine Frage. „Wie konnte das passieren?“, eine andere.
Zumindest auf zweitere gibt es nun eine neue Antwort: Der Politikwissenschaftler Vicente Valentim macht in seinem neuen Buch „The Normalization of the Radical Right“ überraschend ähnliche Muster in mehreren europäischen Ländern aus – und führt seine These auch anhand Deutschlands und der AfD aus. Beruhigend oder bequem sind seine Erkenntnisse nicht.
AfD auf dem Vormarsch – zerfallen die „Normen“ in Deutschland?
Denn Valentims Hauptthese lautet: Die radikale Rechte ist nicht in erster Linie so erstarkt, weil sich Haltungen oder Präferenzen der Menschen verändert haben. Sondern – zumindest teilweise – weil „Normen“ zerbröckelt sind, die Menschen daran hinderten, rechtsradikale Einstellungen an der Wahlurne oder auf der Straße zu äußern. Dahinter sieht der Experte der IE University im spanischen Segovia einen dreistufigen Prozess. Mit einem neuen „Gleichgewicht“ am (vorläufigen) Ende.
Mit anderen Worten: Es gab schon immer einen spürbaren Anteil rechtsradikaler Haltungen. Nur blieb der im Verborgenen. Dass Menschen autoritären Regimen Unterstützung aus Sorge vor Strafen heucheln, sei aus der Forschung bekannt, schreibt Valentim. Ein ähnliches Phänomen gebe es aber auch in Demokratien: Hier könnten es „soziale Normen kostspielig machen, als unerwünscht geltende Ansichten zu äußern, auch wenn politische Ansichten üblicherweise nicht rechtlich sanktioniert werden“.
Am Beispiel AfD, aber auch Vox (Spanien), Chega! (Portugal) und UKIP (Großbritannien) zeigt Valentim, wie eine stabile Situation kippen kann: Ein „Trigger“ – etwa ein islamistischer Terroranschlag – schafft Momente, in denen Unsagbares gerade gegenüber externen Gruppen und „Sündenböcken“ sagbar wird; besser vernetzte und ausgebildete Politikerinnen und Politiker erkennen ein Stimmenpotenzial und machen ein passendes politisches „Angebot“. Und schließlich können sich neue radikale Kräfte etablieren und schleifen durch ihre Äußerungen und Anwesenheit im Parlament bisherige Normen. Sie lassen rechtsradikale Haltungen und Äußerungen akzeptabel erscheinen.
Rechtsradikale in Deutschland: Jahrzehntelang erfolglos – bis zum Trigger und dem „Angebot“ der AfD
Das ist laut Valentim keine zwingende Abfolge, sie könne auch an mehreren Punkten des Prozesses abbrechen. Aber sie sei zuletzt mehrfach in vollem Ausmaß zu beobachten gewesen. Mit Blick auf Deutschland verweist der Wissenschaftler auf die jahrzehntelange Erfolglosigkeit von Parteien wie NPD, DVU oder Republikanern.
Wenn ein Akteur, der etablierte Normen missachtet, erfolgreich wird, können sich Wähler ebenfalls wohler damit fühlen, diese Normen zu brechen.
Denn die scharf Rechten hätten stets nur wenig kompetentes Personal und geringe Erfolgschancen gehabt. Umfragen hätten gezeigt: Selbst Menschen, die rechtsradikale Haltungen offen eingestanden haben, hätten diese Parteien nicht gewählt. Mit der Migrationskrise 2015/16 und der Kölner Silvesternacht habe sich die Situation geändert. Es gab offene Übergriffe gegen Geflüchtete, die islam- und fremdenfeindliche Pegida hielt Massenkundgebungen ab. Und die ursprünglich vor allem euroskeptische AfD – im Gegensatz zu NPD und Co. ausgestattet mit erfahrenen Politikern etwa aus der CDU wie Alexander Gauland – habe ihr Gesicht gewandelt und als „politische Unternehmerin“ auf die Stimmung aufgesattelt.
AfD und Rechtspopulisten stark bei Umfragen – und Wahlen: ein neues „Gleichgewicht“?
Bei der Bundestagswahl 2017 seien dann Menschen mit radikal-rechten Haltungen verstärkt an die Urnen geströmt – auch in den Nachwahlbefragungen hätten mehr Menschen ihr Wahlverhalten zugegeben; zuvor waren Abweichungen von AfD-Umfragewerten und -Wahlergebnissen an der Tagesordnung. Für Valentim ein Anzeichen, dass es akzeptabel geworden ist, öffentlich radikal-rechte Haltungen zu äußern. „Das deutet an, dass fähige politische Unternehmer, die Bühne mit der stigmatisierten Plattform betreten, in der Lage sind, stille radikal-rechte Präferenzen in der Gesellschaft zu aktivieren“, folgert er.
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Eine zentrale neue Erkenntnis, meint der Valentim. Denn dass sich politische Haltungen ändern, sei zwar durchaus denkbar. Aber kaum in dem rasanten Tempo, in dem scharf rechte Parteien in vielen Ländern an Zuspruch zulegten. Valentims Fazit: Schlussendlich sei es ein Wandel der Normen, der Gesellschaften verändere, von einem stabilen Zustand, in dem die radikale Rechte stigmatisiert sei, „zu einem genauso stabilen, neu zu Tage tretenden Gleichgewicht, in dem sie normalisiert und in Wahlen stark ist“. Politologe Reinhard Heinisch taxiert das Potenzial rechtspopulistischer Parteien auf etwa 30 Prozent.
Offene Fragen bleiben natürlich: Valentim schreibt, die „politischen Eliten“ könnten Wähler beeinflussen, in dem sie nahelegen, die Normen hätten sich geändert. In seiner Analyse fokussiert er sich auf Politiker der radikalen Rechten. Haben aber nicht auch andere Äußerungen und Schwerpunktsetzungen Einfluss, wie Berufskollege Werner Krause im Gespräch mit IPPEN.MEDIA nahelegte? Und schließlich: Dass Wählerwünsche den Weg ins Parlament finden, ist Teil der repräsentativen Demokratie – was, wenn sie gegen Grundfesten demokratischer Gesellschaften verstoßen? Eine Frage auch für die Verbots-Debatte um die AfD. (fn)
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