Interview
Rechtsruck bei der Europawahl: Lehren aus der Vergangenheit – „Viel hängt von Brandmauer der Union ab“
- VonBettina Menzelschließen
Europa rückt weiter nach rechts. Kommissionspräsidentin von der Leyen schließt eine Zusammenarbeit mit rechten Kräften nicht aus – aus historischer Sicht eine gefährliche Entscheidung.
Frankfurt – Der promovierte Historiker Jonas Stephan erzählt in seinem Podcast Deutschland 33/45 anschaulich von der Geschichte des Dritten Reichs. Im Gespräch mit FR.de von IPPEN.MEDIA wirft er einen Blick auf die Gegenwart und analysiert die Hintergründe und Gefahren des Rechtsrucks in Deutschland und Europa. Denn in vielen der 27 Mitgliedsstaaten der EU gewannen rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien bei der Europawahl deutlich an Stimmen. Vor einer Zusammenarbeit mit den Rechten warnt der Historiker ausdrücklich.
Unlängst warnten Sie auf der Plattform X vor einer Zusammenarbeit der CDU mit der AfD. Wie wäre es in einem solchen Fall um die deutsche Demokratie bestellt?
Vorweg zwei Einschränkungen: Ich bin derzeit in keiner Partei Mitglied, und ich bin kein Politikwissenschaftler, sondern Historiker und Pädagoge. Oberflächlich betrachtet könnte man glauben, es bestünde eine starke Parallele zwischen dem Anfang der 1930er Jahre und heute. Also zwischen dem Aufstieg der NSDAP damals und dem Aufstieg der AfD heute: Zuerst weigern sich die „konservativen“ Parteien, mit den Rechtsradikalen zusammenzuarbeiten, dann knicken sie aber doch ein, gehen eine Koalition mit ihnen ein und verhelfen so den Rechtsradikalen an die Macht.
So beginnt es. Zusammenarbeit auf einzelnen Politikfeldern seien "denkbar". Das kommt mir leider sehr bekannt vor. Deutschnationale, konservative DVPler und autoritäre Zentrumsleute fanden auch "Schnittmengen" mit der NSDAP. Wenige Monate später waren sie politisch entmachtet pic.twitter.com/qZrzT62ipL
— Deutschland33_45 (@Deutsch33_45Pod) May 11, 2024
Tatsächlich gibt es immer wieder Stimmen, die auf diese vermeintliche Parallele hinweisen. Ich glaube aber, das greift viel zu kurz und schadet mehr, als es nützt. Das fängt schon beim Begriff „Konservative“ an. Die „Konservativen“ von damals, die mit den Nazis in der Regierung Hitler zusammengearbeitet haben, das waren beinharte Antidemokraten und Nationalisten. Und man kann ja, wenn man will, viel von den Unionsparteien behaupten. Aber dass sowohl CDU als auch CSU grundsätzlich mit beiden Beinen fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigen, das steht außer Frage.
Über Jonas Stephan
Der 37-jährige Jonas Stephan ist promovierter Historiker und hat nach dem Staatsexamen 2020 Geschichte und Deutsch an einem Gymnasium unterrichtet. Privat hatte er sich seit der Schulzeit intensiv mit der Geschichte des Dritten Reichs beschäftigt, sich dann aber zu Beginn des Geschichtsstudiums ganz bewusst dagegen entschieden, den Nationalsozialismus zu erforschen. Er fürchtete damals, dass ihn „eine berufliche Erforschung der unaussprechlichen Grausamkeiten der Jahre 1933 bis 1945 irgendwann um den Verstand bringen würde“, wie er selbst sagt. Das Thema ließ ihn aber nicht los und so machte er es im Jahr 2023 zum Gegenstand seines Podcasts.
Hinzu kommt, dass natürlich auch die AfD nicht einfach die heutige NSDAP darstellt. Ja, sie ist in größeren Teilen rechtsradikal orientiert, als man bis vor kurzem glauben wollte. Das sieht man schon, wenn man sich die vorderen Listenplätze bei der Europawahl anschaut. Und die antidemokratische Stoßrichtung der Partei, die ist ohne Zweifel ebenfalls belegt. Es gibt diejenigen, die für den Fall einer Zusammenarbeit von Union und AfD eine Mäßigung und Entzauberung der AfD vorhersagen.
Mit Blick in die Geschichte möchte ich vor solchen strategischen Überlegungen warnen! Der Aufstieg der NSDAP hat Anfang der 30er Jahre zu einem regelrechten Radikalisierungswettlauf unter den Mitte-Rechts-Parteien geführt.
Mit Blick in die Geschichte möchte ich vor solchen strategischen Überlegungen warnen! Der Aufstieg der NSDAP hat Anfang der 30er Jahre zu einem regelrechten Radikalisierungswettlauf unter den Mitte-Rechts-Parteien geführt. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) ergab sich völlig ihrem offen antidemokratischen Flügel, der immer sehr stark war. Die beiden liberal-bürgerlichen Parteien (DDP und DVP) forderten plötzlich einen starken, autoritären Staat - so viel zum Thema Liberalismus - und selbst die katholische Zentrumspartei distanzierte sich zunehmend von den Grundwerten der republikanischen Verfassung. Der erste Kanzler, der zusammen mit dem greisen Reichspräsidenten Hindenburg am Parlament vorbeiregierte, das war Heinrich Brüning. Ein hoch angesehener Finanzexperte – und Zentrumsmann.
Am Ende wird die AfD gestärkt, nicht geschwächt, und die Union verliert. Erst ihr Gesicht, dann ihre Wähler:innen.
Genützt hat der Rechtsruck diesen Parteien wenig. Das Zentrum stagnierte, die anderen firmierten bei den Wahlen bald unter ferner liefen. Das Wahlvolk entschied sich im Zweifelsfall eben doch immer wieder für das Original, also die NSDAP. Und genau das könnte wieder passieren, wenn die Union mit der AfD koaliert, ob auf Landes- oder Bundesebene. Am Ende wird die AfD gestärkt, nicht geschwächt, und die Union verliert. Erst ihr Gesicht, dann ihre Wähler:innen.
Fernab solcher strategischen Überlegungen dürfte schon die ergebnisoffene Diskussion einer Zusammenarbeit mit der AfD für die Unionsparteien eine echte, existenzielle Zerreißprobe bedeuten. Ähnliche Spaltungen gab es bei den Parteien in der Endphase der Weimarer Republik sehr häufig. Und es hat ja insofern schon, bescheiden, bereits begonnen, denn es gibt die sogenannte WerteUnion. Ob das etwas Schlechtes ist, da will ich mich übrigens nicht festlegen. Mit Blick auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung können sich die Unionsparteien vielleicht sogar glücklich schätzen, diesen sehr kleinen, aber heute leider sehr lauten Teil radikalisierter Leute als Mitglieder verloren zu haben.
Es wird viel davon abhängen, ob CDU und CSU bei ihrer bisherigen Linie, der „Brandmauer“, bleiben werden.
Es wird viel davon abhängen, ob CDU und CSU bei ihrer bisherigen Linie, der „Brandmauer“, bleiben werden. Danach sieht es derzeit ja aus, zumal viele Spitzenpolitiker, beispielsweise Hendrik Wüst oder Daniel Günther, sehr, sehr klare Worte finden und Taten sprechen lassen. Eine tatsächliche Koalition auf Bundesebene halte ich deshalb für fast ausgeschlossen. Falls aber Diskussionen darüber geführt werden würden, und es wirklich zu Absetz-Bewegungen innerhalb der Union kommt, hätten wir mit Blick auf die „Regierungsfähigkeit“ unseres Landes eine politische Krise, die der Anfang der 30er Jahre in nichts nachsteht.
Gott sei Dank haben wir mit dem Grundgesetz eine Verfassung, die genau für solche Krisensituationen geschrieben wurde. Sie kennt zahlreiche „Checks and Balances“, die die Verfassung der ersten deutschen Republik von Weimar nicht besaß. Das Problem wäre dann aber, wie man durch Wahlen wieder zu stabilen, demokratischen Mehrheiten kommen soll.
Auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen schließt eine Zusammenarbeit mit den Rechten nicht aus. Ihr Argument: „Es geht darum, die politischen Kräfte zu gewinnen, die für die Mehrheit in der Mitte so wichtig sind.“ Denken Sie, das Kalkül der Politikerin für eine „Mitte“ in Zusammenarbeit mit Rechten kann aufgehen?
Da sich Geschichte bekanntlich reimt, könnte der Schuss sogar nach hinten losgehen. Angesichts des allgemeinen Rechtsrucks in Europa sind ihre Äußerungen wohl nachvollziehbar. Ich kann mich allerdings nicht ganz des Eindrucks entziehen, dass sich eine gewisse Ex-Parteiführerin in Paris lächelnd die Hände rieb, als von der Leyens Aussage über die Ticker lief. Marine Le Pen hat die letzten Jahre sehr erfolgreich daran gearbeitet, ihr Rassemblement National (RN) von einer offen rechtsextremen zu einer respektablen rechtskonservativen Partei umzudekorieren. Selbst die AfD ist dem RN jetzt ja zu weit rechts.
Marine Le Pen hat die letzten Jahre sehr erfolgreich daran gearbeitet, ihr Rassemblement National (RN) von einer offen rechtsextremen zu einer respektablen rechtskonservativen Partei umzudekorieren.
Ich sage bewusst „umdekorieren“, auch wenn das polemisch ist, weil mir aus der Recherche zu „Deutschland 33/45“ solche Manöver leider nur allzu bekannt sind. Die Wahlkampfpropaganda der Nazis wurde vor 1933 innerhalb kurzer Zeit sehr gut darin, genau das von sich zu geben, was bestimmte Wählergruppen hören wollten. Da wurde dann beispielsweise der Antisemitismus heruntergefahren, der Ton wurde respektabler, es wurde nur noch mit Vorurteilen gespielt, statt Radau gemacht. Hitler selbst konnte das selbst übrigens auch meisterlich.
Und in der Phase des Machtausbaus, also zwischen Winter und Sommer 1933, da wurde Kanzler Hitler nicht müde, alles Mögliche zu versprechen, im In- wie im Ausland – etwa den Schutz der christlichen Kirchen oder eine auf Frieden und gute Nachbarschaft zielende Außenpolitik. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass man auch auf EU-Ebene unbedingt ein wachsames Auge haben muss, ob die Leute, mit denen man da zusammenarbeiten will, wirklich auf dem Boden von Demokratie, Rechtsstaat und den Menschenrechten stehen.
Welche Parallelen sehen Sie bei den Methoden und Zielen der Nationalsozialisten damals und der AfD heute, gerade auch mit Blick auf die Erkenntnisse der Recherche-Plattform Correctiv vom Potsdamer Treffen?
Über die Diskussion der Parallelen will ich nicht viele Worte verlieren. Oberflächlich sind sie zwar da, aber beim zweiten Blick müssen die Potsdamer Planspiele zwangsläufig vor dem schieren Horror verblassen, den das nationalsozialistische Deutschland nach 1933 und dann vor allem im Zweiten Weltkrieg entfesselte. Allerdings: Alle Ziele des nationalsozialistischen Deutschlands, die „Endlösung der Judenfrage“, die „Rassenhygiene“ und der „Lebensraum im Osten“ waren irgendwann einmal lediglich Planspiele, und davor noch weniger, unausgereifte, fantastisch anmutende Ideen und Überzeugungen. Im Nachhinein ist es erstaunlich, wie viel man darüber in „Mein Kampf“ schon in den 1920er Jahren nachlesen konnte.
Alle Ziele des nationalsozialistischen Deutschlands, die „Endlösung der Judenfrage“, die „Rassenhygiene“ und der „Lebensraum im Osten“, um nur einige zu nennen, waren irgendwann einmal lediglich Planspiele.
Ich finde es produktiver, auf die gemeinsamen Wurzeln der Methoden und Ziele hinzuweisen. Und die liegen im völkischen Denken. Die Neue Rechte hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel Energie investiert, nicht nur intellektuell, sondern auch materiell-finanziell, um die alten völkischen Ideen und Theorien zu aktualisieren, um sie, sozusagen, „hipp“ zu machen und dem Zeitgeist des 21. Jahrhunderts anzupassen. Man denke nur an den „Ethnopluralismus“ der Identitären Bewegung rund um Martin Sellner. Dass das Rebranding des völkischen Biologismus erfolgreicher zu sein scheint, als zunächst gedacht, das macht mir große Sorgen. Nicht zuletzt, weil wir heute eine multikulturelles – ich nutze den Begriff bewusst – Einwanderungsland sind.
Ethnopluralismus
Ethnopluralismus ist ein Theoriekonzept der Neuen Rechten, das versucht, Rassismus weniger angreifbar zu begründen, heißt es von der Bundeszentrale für politische Bildung. Das Konzept ordnet Menschen in „Völker“ mit einer in sich geschlossenen und auf ein Territorium begrenzten Identität ein. Zwar seien die Völker gleichwertig, doch durch eine Vermischung entstünden Konflikte. Der Ethnopluralismus will, dass alle Völker auf „ihrem Territorium“ bleiben oder dorthin zurückkehren. Das Konzept des Ethnopluralismus verbreitet damit die völkische Vorstellungen der Nationalsozialisten weiter, ohne jedoch den Begriff „Rasse“ zu verwenden. Diese Vorstellung läuft letztlich auf die Schaffung ethnisch reiner Gesellschaften und damit die Ausweisung aller „Volksfremden“ hinaus, heißt es vom Bundesamt für Verfassungsschutz.
Wie beurteilen Sie die jüngste Zunahme von Attacken auf Wahlhelfer in diesem Kontext? Statistiken zufolge sind die Grünen mit 1.200 Fällen im Jahr 2023 besonders stark betroffen, aber auch die AfD mit 480 Fällen im Jahr 2023.
Die zunehmende Gewaltbereitschaft im Feld des Politischen ist ein böser Vorbote von dem, was kommen könnte. Auch wenn solche Zahlen natürlich verblassen vor den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Endphase der ersten deutschen Republik - es gab Zehntausende, bald Hunderttausende Männer, die in regelrechten Milizen organisiert waren und sich auf offener Straße bekämpften. Politischer Gewalt muss grundsätzlich null Toleranz entgegengebracht werden. Das steht außer Frage. Egal, gegen wen sie sich richtet. Wehret den Anfängen, heißt es.
Politischer Gewalt muss grundsätzlich null Toleranz entgegengebracht werden. Das steht außer Frage. Egal, gegen wen sie sich richtet. Wehret den Anfängen, heißt es.
Ein Dilemma, vor dem die demokratischen Kräfte stehen, ist heute nicht anders als damals. Denn Gewalttaten gegen Antidemokraten lassen sich in einem aufgeheizten Klima nie ganz verhindern. Deshalb schlachten die Feinde der Demokratie diese Taten dann bis zum Letzten aus, stilisieren sich zu Opfern der „sogenannten Demokratie“. So weit sind wir bisher, scheint es mir, noch nicht. Ich glaube, wir müssen dabei vor allem auf den Rechtsstaat vertrauen. Immerhin können wir das mit ruhigen Gewissen tun, bei aller nötigen Einzelkritik. Da hatten es unsere demokratischen Vorgänger:innen in der ersten Republik viel schwerer.
Die Nationalsozialisten erhielten damals großen Zuspruch von den Jungen. Heute will etwa jeder fünfte Mensch unter 30 Jahren (22 Prozent) die AfD wählen. Wie kann man junge Menschen heute noch abholen und wie beurteilen Sie das Sylt-Video und die Nachahmer – ebenfalls größtenteils junge Menschen?
Solche Videos sollten uns bis ins Mark erschrecken, denn die zeigen sie zeigen die Salonfähigkeit völkischer Denkmuster. Dass gerade junge Menschen so etwas machen, verwundert mich dagegen nicht. Das hat einerseits mit dem jugendlichen Hang zur Extrovertiertheit zu tun, zum anderen mit dem erfolgreichen Rebranding des Völkischen als „Ethnopluralismus“. Man muss sich nur auf TikTok umschauen. Vielleicht haben wir uns vieles auch nur schöngeredet und dachten, Zustände wie etwa in Rostock Lichtenhagen, hätten wir längst hinter uns gelassen. Offensichtlich ja nicht. Vielleicht hat die unbestreitbare gesellschaftliche Belastungsprobe, die die Aufnahme einer großen Zahl Geflüchteter seit 2015 darstellte, auch tiefere Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen, als viele glauben wollten.
Vielleicht haben wir uns vieles auch nur schöngeredet und dachten, Zustände wie etwa in Rostock Lichtenhagen, hätten wir längst hinter uns gelassen. Offensichtlich ja nicht.
Fakt ist, es gibt eine radikale Minderheit, die mit dem (proto-)völkischen Virus infiziert ist. Und diese Minderheit ist laut. Jetzt gilt es zu verhindern, dass immer mehr (junge) Menschen diesen Wertekanon für sich entdecken. Solche Einstellungen allein auf Krisenerfahrungen zurückzuführen, halte ich für falsch. Die Deutschen sind ja Anfang der 30er Jahre den Nazis nicht in Scharen zugelaufen, weil die Arbeit und Brot versprachen. Dann hätten sie auch die Kommunisten wählen können. Es ging eben auch um Nationalismus, um Feindbilder, und damit auch um Antisemitismus. Werte und Überzeugungen sind unglaublich schlagkräftige Motive. Das Problem: sie können geändert werden, aber das ist eine schwierige Aufgabe. Und dabei ist es dann durchaus wenig hilfreich, wenn eine Krise die nächste jagt und der Staat dabei keine gute Figur macht. Um es einmal salopp zu formulieren.
Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen
Im Jahr 1992 kam es in Rostock-Lichtenhagen fünf Tage lang zu ausländerfeindlichen Angriffen, bei denen mehrere hundert Rechtsradikale eine zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ausländische Vertragsarbeiter attackierten. Bis zu 3.000 Schaulustige und Anwohner applaudierten den Angriffen und behinderten teilweise die Polizei und Einsatzkräfte. Es waren die wahrscheinlich schwersten rassistischen Übergriffe in Deutschland seit 1945.
Welche Fehler sehen Sie die deutsche Gesellschaft und Politik heute wiederholen? Was machen wir hingegen heute besser als damals?
Wir haben heute eine Gesellschaft, die viel toleranter und viel pluralistischer ist, als die der ersten deutschen Republik. Und unsere Institutionen sind auch viel stärker als damals. Das ist ein Fundament, auf dem wir aufbauen müssen. Ein Fehler, der damals gemacht wurde, und der heute leider wieder gemacht wird, betrifft die sozio-ökonomische Frage. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auf. Die Mittelschicht erodiert. Die Berufsgruppen, die am stärksten für das Gemeinwohl arbeiten, zum Beispiel Pflegekräfte, Hebammen, Erzieher:innen, erleben die größten Belastungen. Das schafft Unzufriedenheit gerade bei den Bevölkerungskreisen, die die parlamentarische Demokratie tragen. Und diese Unzufriedenheit verleitet dann immer mehr Menschen zu Passivität. Allgemeine Passivität ist jedoch Gift für eine parlamentarische Demokratie, wenn sie von ihren Gegnern belagert wird.
Allgemeine Passivität ist jedoch Gift für eine parlamentarische Demokratie, wenn sie von ihren Gegnern belagert wird. Das haben die frühen 1930er Jahre eindrücklich bewiesen.
Das haben die frühen 1930er Jahre eindrücklich bewiesen. Das nationalsozialistische Projekt hatte keine Mehrheit in der deutschen Gesellschaft. Aber die lauten Gegner der Nazis befanden sich auch in der Minderheit. Eine solche Situation gilt es heute zu verhindern. Das schafft man aber nicht mit Sonntagsreden, sondern nur mit tiefgreifenden Reformen. So gräbt man den antidemokratischen Kräften im Land am schnellsten das Wasser ab. Das zeigt auch wieder ein Blick in die 1930er Jahre, nämlich in die damaligen USA. Das Folgende vereinfache ich jetzt einfach Mal ganz unwissenschaftlich: Während die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, kämpfte nämlich ein neu gewählter US-Präsident, Franklin Delano Roosevelt, für tiefgreifende Reformen, die als „New Deal“ in die Geschichte eingingen. Und zog damit den radikalen politischen Kräften in Amerika den Boden unter den Füßen weg. Die Folgen sind bekannt.


