Interview

Migration in Koalitionsverhandlungen – SPD-Fraktionsvize beziffert bisherige Erfolgsquote

  • Anne-Christine Merholz
    VonAnne-Christine Merholz
    schließen
  • Peter Sieben
    Peter Sieben
    schließen

Dirk Wiese leitet die AG „Inneres und Migration“ in den Koalitionsgesprächen. Er blickt optimistisch auf Schwarz-Rot – bei „zehn Prozent“ der Themen gebe es noch Klärungsbedarf.

Berlin – Ganz oben auf dem Regal prangt in Silberlettern der Schriftzug „Sauerland“. An der Wand gegenüber: jede Menge BVB-Memorabilia und Bilder aus dem Westfalenstadion. Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Dirk Wiese ist Westfale durch und durch – und die gelten gemeinhin als eher gelassene Zeitgenossen.

Auch Wiese wirkt sehr entspannt auf dem Ledersessel in seinem Berliner Abgeordnetenbüro. Dabei hat er als Leiter der Arbeitsgemeinschaft Inneres und Migration in den Koalitionsverhandlungen anstrengende Wochen hinter sich. Doch Wiese blickt optimistisch in die Zukunft. Das Signal: Mit Schwarz-Rot könnte es funktionieren. Auch wenn es noch ein, zwei Knackpunkte gebe.   

Herr Wiese, wenn Sie die Verhandlungen der letzten Wochen als Indikator nehmen: Auf was für eine Koalition dürfen wir uns einstellen? Wird es stabil und friedlich? Oder schwierig?
Sagen wir es so: Uns ist allen sehr bewusst, dass Schwarz-Rot die einzige realistische und stabile Option ist, um dieses Land zu regieren. Die ersten Ergebnisse der Verhandlungen und auch die vereinbarten Finanzpakete sind schon mal gut, aber wir müssen jetzt noch ein bisschen Wegstrecke hinter uns lassen. Dennoch: Die Bürgerinnen und Bürger haben die klare Erwartungshaltung, dass wir bald eine Bundesregierung bilden.
Wie war denn bisher die Stimmung in den Gesprächen? 
Ich bin jetzt seit zwölf Jahren Bundestagsabgeordneter und kenne viele der Kolleginnen und Kollegen, die in der Union in unterschiedlichsten Funktionen Verantwortung haben, sehr gut. Das erleichtert natürlich die Gespräche. 
Dirk Wiese ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD und Sprecher des „Seeheimer Kreises“.
Keine Meinungsverschiedenheiten? 
Natürlich holpert es auch mal in den Verhandlungen. Wir sind zwei unterschiedliche Parteien, und die Union hat sich seit der Merkel-Zeit deutlich verändert. Aber ich habe die Gespräche bisher als konstruktiv und lösungsorientiert erlebt. 
In Ihrer Arbeitsgruppe gab es aber zuletzt beim Thema Migration noch ein paar Knackpunkte, oder? Die Union will Zurückweisungen an den Grenzen auch ohne Zustimmung der Nachbarstaaten, anders als die SPD. 
An diesem Punkt unterscheiden wir uns von der Union, aber auch dieser wird zu lösen sein. Es wäre vermessen zu sagen, dass die Arbeitsgruppe es schafft, ausnahmslos alle Themen abzuräumen. Aber wir sind schon so bei 90 Prozent.

Koalitionsgespräche zwischen SPD und CDU: „Konstruktiv und lösungsorientiert“

Worum geht es bei den restlichen zehn Prozent?
Netter Versuch, aber Sie werden verstehen, dass ich darüber derzeit nicht sprechen kann. 
So ein Verhandlungsmarathon ist wahnsinnig anstrengend. Wie halten Sie das durch? 
Ehrlicherweise geht das nur mit viel Ruhe und Gelassenheit. Ab und an eine Runde joggen am frühen Morgen hilft auch. 
Hilft da ein Sauerland-Gen? Die Westfalen gelten ja als eher gelassen. 
Es gibt solche und solche Sauerländer (lacht). Aber ja, vielleicht ist so eine ruhige und besonnene Mentalität hilfreich in Verhandlungen.
Haben Sie rückblickend eigentlich den Eindruck, dass sich die Parteien zuletzt zu einseitig auf das Thema Migration konzentriert haben?
Ja, das sehe ich so. Es gibt in der Tat Probleme im Bereich der Migration, die man ansprechen muss. Aber es gibt auch wahnsinnig viele Beispiele, die zeigen, dass Migration auch erfolgreich verläuft. Wir haben fast 25 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund im Land, die hier unbescholten leben und sich fragen, was für Debatten hier eigentlich geführt werden. Wir brauchen auch in den nächsten Jahren Fachkräfte und Zuwanderung, und da muss die Debatte aus der Schieflage in ein Gleichgewicht zurück. Das ist auch Aufgabe der neuen Bundesregierung. Im Übrigen sollten wir auch andere wichtige Probleme lösen: Arbeitsplätze, Rente, Entlastungen für Familien. 
Gelassenheit nach dem Verhandlungsmarathon: Dirk Wiese (links) im Gespräch mit Agenda-Redaktionsleiterin Anne Merholz und Bundestagsreporter Peter Sieben.
Der Bund will Milliarden in Infrastruktur investieren. Das weckt Begehrlichkeiten in den Ländern. Die SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag zum Beispiel fordert, dass mindestens 80 Prozent des NRW-Anteils direkt und unbürokratisch an überschuldete Kommunen gehen. Realistisch? 
In Nordrhein-Westfalen haben manche Kommunen ein Problem mit hohen Altschulden. Darum brauchen wir eine Altschuldenlösung für die Kommunen, da sind sich in NRW die Fraktionen auch einig, so ist zumindest mein Eindruck. In der Vergangenheit hat die schwarz-grüne Landesregierung Gelder aber eher einbehalten, als sie weiterzugeben. Das muss sich ändern. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass ein großer Anteil des Geldes für Infrastruktur in die Kommunen geht.

Steht Bundesregierung bis Ostern? „Nicht unrealistisch“

Gibt es bis Ostern eine neue Regierung?
Ich halte es nicht für unrealistisch, dass wir bis Ostern mit allem fertig sind. Aber nageln Sie mich bitte nicht drauf fest. Wenn der Prozess zwei, drei Tage länger dauert, finde ich das gar nicht schlimm. Ich verhandle lieber zwei Tage länger und gründlich, als übereilt etwas auf den Weg zu bringen. Wozu das führen kann, haben wir in der Ampelkoalition erlebt. 

Rubriklistenbild: © Sebastian Gollnow/dpa