IPPEN.MEDIA-Interview

„Gerade mit Deutschen war es schwierig“: Ex-Außenministerin fordert großen Schritt im Ukraine-Krieg

  • Florian Naumann
    VonFlorian Naumann
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Mit einem „Siegesplan“ für die Ukraine könne der Krieg 2025 enden, meint die lettische Ex-Ministerin Sandra Kalniete. Sie beklagt Versäumnisse in der Russland-Politik.

Das Baltikum warnt schon lange vor Wladimir Putins Aggression – und sieht sich von Russland besonders bedroht. Sandra Kalniete, frühere Top-Diplomatin und von 2002 bis 2004 auch Außenministerin Lettlands, fordert im Interview mit IPPEN.MEDIA nun einen klaren Plan im Ukraine-Krieg. Die Konservative gehört schon lange zu den mahnenden Stimmen in der EU, mittlerweile als Außenpolitikerin im Europaparlament. Sie bedauert den späten Kurswechsel Deutschlands und der anderen Partner. Und sie sieht weitere Gefahren aus Russland für die EU-Staaten.

Frau Kalniete, Sie sind eine erfahrene Politikerin. Haben Sie schon in Ihrer Amtszeit als Außenministerin die späteren Probleme mit Putins Russland erahnt?
Natürlich. Ich war eine der Stimmen, die schon in den ersten Jahren von Putins Amtszeit sehr skeptisch war. Ich erinnere mich an einen ersten Konflikt: Russland weigerte sich, das Zollabkommen mit der EU anzuerkennen – es wollte Einzelabkommen mit allen neuen Mitgliedsstaaten aushandeln. In der Runde der EU-Minister wollte das niemand glauben. Es handle sich um einen unterschriebenen Vertrag, hieß es. Ich habe meinen nordischen Kollegen gesagt: Für Russland ist das nur Papier, sie werden handeln, wie sie es für ihre Interessen für sinnvoll erachten. Aber natürlich stand auch schon damals das Schicksal der Ukraine auf dem Spiel.

Putins Außenpolitik in Osteuropa: „Politiker können geschmiert werden, nicht aber eine ganze Nation“

Inwiefern?
Schon viel zu lange hat Russland die Länder der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“, die sich Richtung Europa wandten, auf der Agenda. Natürlich hat Moskau sein Bestes getan, die Ukraine zu gewinnen – aber glücklicherweise gilt: Politiker können geschmiert werden, nicht aber eine ganze Nation. Deshalb gab es die Orangene Revolution. Nach der Annexion der Krim ist die Wahl der Ukraine ohnehin klar. Ich sehe für Russland keine Möglichkeit, das umzukehren – besonders jetzt, nach der wahren Aggression. Europa hat nach 2014 aber so getan, als hätte es all das vergessen.
Solidarität mit der Ukraine: Sandra Kalniete (li.) und die amtierende lettische Außenministerin Baiba Braze vor dem Freiheitsdenkmal in Riga.
Schon zum Start des neuen EU-Parlaments stand eine Ukraine-Resolution auf der Tagesordnung. Was kann die EU jetzt tun?
Es ist wichtig, dass Kommission, Rat und Parlament einen echten systematischen Plan für den Sieg der Ukraine erarbeiten. Den gibt es bis jetzt nicht. Jegliche Hilfe, ob militärisch oder humanitär, hängt vom politischen Willen der einzelnen Mitgliedsstaaten ab. Da gibt es aber natürlich Wandel und Nuancierungen, abhängig von der politischen Führung. Der Schritt ist besonders wichtig, weil wir auf einen politischen Meilenstein zusteuern: die US-Wahl. Ich glaube, das Bewusstsein der EU wächst, dass wir uns für einen isolationistischen Kurs der USA wappnen müssen.

Russland stellt Europa vor eine „enorme Aufgabe“: Ex-Außenministerin fordert „Siegesplan“ für Ukraine

Wie würde dieses Wappnen konkret aussehen?
Das ist eine enorme Aufgabe – für die wir noch nicht bereit sind, nicht im Geringsten. Natürlich gibt es ein gewisses Wachstum der Rüstungsindustrie. Aber das ist nichts, was sich in ein oder zwei Jahren bewältigen lässt. Das braucht ungefähr fünf Jahre. Dann geht es natürlich auch um das Budget. Da gibt es zwei Szenarien. Entweder wir erhöhen die eigenen Mittel der EU – zum Beispiel wie mit den Corona-Bonds – oder wir nutzen eingefrorenes Vermögen Russlands. Und dann müssen wir klar vereinbaren, welches Land was tut. Im Zweiten Weltkrieg haben die USA einen „Victory Plan“ gefasst, ausgearbeitet bis in die kleinsten Details: Was ist nötig an Militärgerät und Personal, um Nazi-Deutschland zu schlagen. Genau so sollten wir auch vorgehen.
Im Winter 2023/24 hakte es massiv bei den militärischen Lieferungen. Gerade, weil die USA ausfielen.
Und die Ukraine steht unter enormem Druck Russlands, gerade seit Moskau auf Kriegswirtschaft umgestellt hat. Wenn andere, größere Länder wie Deutschland oder Frankreich so wie die baltischen Staaten einen festen Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts zur Verfügung stellen, könnten wir 2025 den Krieg beenden. Dafür braucht es aber politischen Willen und sehr präzisen, effizienten Einsatz der Mittel. Ich spreche aber über ein Idealszenario. Als erfahrene Politikerin glaube ich nicht, dass wir das schaffen. Denn schauen Sie nach Frankreich: Der Krieg hat auch Auswirkungen auf die Politik in unseren Staaten. Mich besorgt, dass in vielen Ländern sehr ähnliche Parteien mit, sagen wir, ‚nationalem Profi‘ wachsende Unterstützung erhalten. Das zeigt, dass rechte Phrasen die Wähler erreichen – selbst, wenn sie hohl sind.

Radikale Linke und Rechte „nützliche Agenten“ für Putin

Auch Putin hat da wohl seinen Anteil. Sie waren Teil des Sonderkomitees zu „ausländischer Einflussnahme auf demokratischen Wahlen“ im EU-Parlament. Nach Ihren Erkenntnissen: Wie geht Russland vor?
Desinformation ist da nur der sichtbare Teil des Eisbergs. Aber bekannt war, dass Russland mindestens 400 Millionen Euro pro Jahr für Medien wie Russia Today oder Sputnik Russia aufwendet. Dieser Betrag ist weiter gewachsen. Am gefährlichsten ist Russlands sehr ausgefeilter Zugriff bei Telegram, bei TikTok. Agenten, die in den baltischen Staaten gefasst wurden, wurden wohl dort rekrutiert, zu sehr geringen Kosten. Sie sollen ein Gefühl der Unsicherheit und Instabilität verbreiten. Das ist das eine. Zum anderen unterscheidet Russland nicht zwischen radikaler Linker und Rechter. Alle, die die demokratische Mitte und die Stabilität verdrängen wollen, sind da nützliche Agenten. Entweder gegen Bezahlung oder einfach mittels für Russland nützlicher Einstellungen.

Ukraine-Krieg: Die Ursprünge des Konflikts mit Russland

Menschen in Kiews feiern die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion
Alles begann mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Die Öffnung der Grenzen zunächst in Ungarn leitete das Ende der Sowjetunion ein. Der riesige Vielvölkerstaat zerfiel in seine Einzelteile. Am 25. August 1991 erreichte der Prozess die Ukraine. In Kiew feierten die Menschen das Ergebnis eines Referendums, in dem sich die Bevölkerung mit der klaren Mehrheit von 90 Prozent für die Unabhängigkeit von Moskau ausgesprochen hatte. Im Dezember desselben Jahres erklärte sich die Ukraine zum unabhängigen Staat. Seitdem schwelt der Konflikt mit Russland. © Anatoly Sapronenkov/afp
Budapester Memorandum
Doch Anfang der 1990er Jahre sah es nicht danach aus, als ob sich die neuen Staaten Russland und Ukraine rund 30 Jahre später auf dem Schlachtfeld wiederfinden würden. Ganz im Gegenteil. Im Jahr 1994 unterzeichneten Russland, das Vereinigte Königreich und die USA in Ungarn das „Budapester Memorandum“ – eine Vereinbarung, in der sie den neu gegründeten Staaten Kasachstan, Belarus und der Ukraine Sicherheitsgarantien gaben.  © Aleksander V. Chernykh/Imago
Ukrainedemo, München
Als Gegenleistung traten die drei Staaten dem Atomwaffensperrvertrag bei und beseitigten alle Nuklearwaffen von ihrem Territorium. Es sah danach aus, als ob der Ostblock tatsächlich einen Übergang zu einer friedlichen Koexistenz vieler Staaten schaffen würde. Nach Beginn des Ukraine-Kriegs erinnern auch heute noch viele Menschen an das Budapester Memorandum von 1994. Ein Beispiel: Die Demonstration im Februar 2025 in München.  © Imago
Orangene Revolution in der Ukraine
Bereits 2004 wurde deutlich, dass der Wandel nicht ohne Konflikte vonstattengehen würde. In der Ukraine lösten Vorwürfe des Wahlbetrugs gegen den Russland-treuen Präsidenten Wiktor Janukowytsch Proteste  © Mladen Antonov/afp
Ukraine proteste
Die Menschen der Ukraine erreichten vorübergehend ihr Ziel. Der Wahlsieg Janukowytschs wurde von einem Gericht für ungültig erklärt, bei der Wiederholung der Stichwahl setzte sich Wiktor Juschtschenko durch und wurde neuer Präsident der Ukraine. Die Revolution blieb friedlich und die Abspaltung von Russland schien endgültig gelungen. © Joe Klamar/AFP
Wiktor Juschtschenko ,Präsident der Ukraine
Als der Moskau kritisch gegenüberstehende Wiktor Juschtschenko im Januar 2005 Präsident der Ukraine wurde, hatte er bereits einen Giftanschlag mit einer Dioxinvariante überlebt, die nur in wenigen Ländern produziert wird – darunter Russland. Juschtschenko überlebte dank einer Behandlung in einem Wiener Krankenhaus.  © Mladen Antonov/afp
Tymoschenko Putin
In den folgenden Jahren nach der Amtsübernahme hatte Juschtschenko vor allem mit Konflikten innerhalb des politischen Bündnisses zu kämpfen, das zuvor die demokratische Wahl in dem Land erzwungen hatte. Seine Partei „Unsere Ukraine“ zerstritt sich mit dem von Julija Tymoschenko geführten Parteienblock. Als Ministerpräsidentin der Ukraine hatte sie auch viel mit Wladimir Putin zu tun, so auch im April 2009 in Moskau. © Imago
Das Bündnis zerbrach und Wiktor Janukowitsch nutzte bei der Präsidentschaftswahl 2010 seine Chance.
Das Bündnis zerbrach und Wiktor Janukowytsch nutzte bei der Präsidentschaftswahl 2010 seine Chance. Er gewann die Wahl mit knappem Vorsprung vor Julija Tymoschenko. Amtsinhaber Wiktor Juschtschenko erhielt gerade mal fünf Prozent der abgegebenen Stimmen.  © Yaroslav Debely/afp
Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew, Ukraine, 2014
Präsident Wiktor Janukowytsch wollte die Ukraine wieder näher an Russland führen – auch aufgrund des wirtschaftlichen Drucks, den Russlands Präsident Wladimir Putin auf das Nachbarland ausüben ließ. Um die Ukraine wieder in den Einflussbereich Moskaus zu führen, setzte Janukowytsch im November 2013 das ein Jahr zuvor verhandelte Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union aus.  © Sergey Dolzhenko/dpa
Maidan-Proteste Ukraine
Es folgten monatelange Massenproteste in vielen Teilen des Landes, deren Zentrum der Maidan-Platz in Kiew war. Organisiert wurden die Proteste von einem breiten Oppositionsbündnis, an dem neben Julija Tymoschenko auch die Partei des ehemaligen Boxweltmeisters und späteren Bürgermeisters von Kiew, Vitali Klitschko, beteiligt waren. © Sandro Maddalena/AFP
Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine
Die Forderung der Menschen war eindeutig: Rücktritt der Regierung Janukowiysch und vorgezogene Neuwahlen um das Präsidentenamt. „Heute ist die ganze Ukraine gegen die Regierung aufgestanden, und wir werden bis zum Ende stehen“, so Vitali Klitschko damals. Die Protestbewegung errichtete mitten auf dem Maidan-Platz in Kiew ihr Lager. Janukowytsch schickte die Polizei, unterstützt von der gefürchteten Berkut-Spezialeinheit. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die über mehrere Monate andauerten. © Sergey Dolzhenko/dpa
Der Platz Euromaidan in Kiew, Hauptstadt der Ukraine, ist nach den Protesten verwüstet.
Die monatelangen Straßenkämpfe rund um den Maidan-Platz in Kiew forderten mehr als 100 Todesopfer. Etwa 300 weitere Personen wurden teils schwer verletzt. Berichte über den Einsatz von Scharfschützen machten die Runde, die sowohl auf die Protestierenden als auch auf die Polizei gefeuert haben sollen. Wer sie schickte, ist bis heute nicht geklärt. Petro Poroschenko, Präsident der Ukraine von 2014 bis 2019, vertrat die These, Russland habe die Scharfschützen entsendet, um die Lage im Nachbarland weiter zu destabilisieren. Spricht man heute in der Ukraine über die Opfer des Maidan-Protests, nennt man sie ehrfürchtig „die Himmlischen Hundert“. © Sergey Dolzhenko/dpa
Demonstranten posieren in der Villa von Viktor Janukowitsch, ehemaliger Präsident der Ukraine
Nach rund drei Monaten erbittert geführter Kämpfe gelang dem Widerstand das kaum für möglich Gehaltene: Die Amtsenthebung Wiktor Janukowytschs. Der verhasste Präsident hatte zu diesem Zeitpunkt die UKraine bereits verlassen und war nach Russland geflohen. Die Menschen nutzten die Gelegenheit, um in der prunkvollen Residenz des Präsidenten für Erinnerungsfotos zu posieren. Am 26. Februar 2014 einigte sich der „Maidan-Rat“ auf eigene Kandidaten für ein Regierungskabinett. Präsidentschaftswahlen wurden für den 25. Mai anberaumt. Die Ukraine habe es geschafft, eine Diktatur zu stürzen, beschrieb zu diesem Zeitpunkt aus der Haft entlassene Julija Tymoschenko die historischen Ereignisse.  © Sergey Dolzhenko/dpa
Ein Mann stellt sich in Sewastopol, eine Stadt im Süden der Krim-Halbinsel, den Truppen Russlands entgegen.
Doch der mutmaßliche Frieden hielt nicht lange. Vor allem im Osten der Ukraine blieb der Jubel über die Absetzung Janukowytschs aus. Gouverneure und Regionalabgeordnete im Donbass stellten die Autorität des Nationalparlaments in Kiew infrage. Wladimir Putin nannte den Umsturz „gut vorbereitet aus dem Ausland“. Am 1. März schickte Russlands Präsident dann seine Truppen in den Nachbarstaat. Wie Putin behauptete, um die russischstämmige Bevölkerung wie die auf der Krim stationierten eigenen Truppen zu schützen. In Sewastopol, ganz im Süden der Halbinsel gelegen, stellte sich ein unbewaffneter Mann den russischen Truppen entgegen. Aufhalten konnte er sie nicht. © Viktor Drachev/afp
Bürgerkrieg in Donezk, eine Stadt im Donbas, dem Osten der Ukraine
Am 18. März 2014 annektierte Russland die Halbinsel Krim. Kurz darauf brach im Donbass der Bürgerkrieg aus. Mit Russland verbündete und von Moskau ausgerüstete Separatisten kämpften gegen die Armee und Nationalgarde Kiews. Schauplatz der Schlachten waren vor allem die Großstädte im Osten der Ukraine wie Donezk (im Bild), Mariupol und Luhansk. © Chernyshev Aleksey/apf
Prorussische Separatisten kämpfen im Donbas gegen Einheiten der Ukraine
Der Bürgerkrieg erfasste nach und nach immer mehr Gebiete im Osten der Ukraine. Keine der Parteien konnte einen nachhaltigen Sieg erringen. Prorussische Separatisten errichteten Schützengräben, zum Beispiel nahe der Stadt Slawjansk. Bis November 2015 fielen den Kämpfen laut Zahlen der Vereinten Nationen 9100 Menschen zum Opfer, mehr als 20.000 wurden verletzt. Von 2016 an kamen internationalen Schätzungen zufolge jährlich bis zu 600 weitere Todesopfer dazu. © Michael Bunel/Imago
Trümmer von Flug 17 Malaysian Airlines nach dem Abschuss nahe Donezk im Osten der Ukraine
Aufmerksam auf den Bürgerkrieg im Osten der Ukraine wurde die internationale Staatengemeinschaft vor allem am 17. Juli 2014, als ein ziviles Passagierflugzeug über einem Dorf nahe Donezk abstürzte. Alle 298 Insassen kamen ums Leben. Die Maschine der Fluggesellschaft Malaysian Airlines war von einer Boden-Luft-Rakete getroffen worden. Abgefeuert hatte die Rakete laut internationalen Untersuchungen die 53. Flugabwehrbrigade der Russischen Föderation. In den Tagen zuvor waren bereits zwei Flugzeuge der ukrainischen Luftwaffe in der Region abgeschossen worden. © ITAR-TASS/Imago
Russlands Präsident Putin (l.), Frankreichs Präsident Francois Hollande, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Petro Poroschenko in Minsk
Die Ukraine wollte den Osten des eigenen Landes ebenso wenig aufgeben wie Russland seine Ansprüche darauf. Im September 2014 kamen deshalb auf internationalen Druck Russlands Präsident Putin (l.), Frankreichs Präsident François Hollande, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Petro Poroschenko in Minsk zusammen. In der belarussischen Hauptstadt unterzeichneten sie das „Minsker Abkommen“, das einen sofortigen Waffenstillstand und eine schrittweise Demilitarisierung des Donbass vorsah. Die OSZE sollte die Umsetzung überwachen, zudem sollten humanitäre Korridore errichtet werden. Der Waffenstillstand hielt jedoch nicht lange und schon im Januar 2015 wurden aus zahlreichen Gebieten wieder Kämpfe gemeldet. © Mykola Lazarenko/afp
Wolodymyr Selenskyj feiert seinen Sieg bei der Präsidentschaftswahl in der Ukraine 2019
Während die Ukraine im Osten zu zerfallen drohte, ereignete sich in Kiew ein historischer Machtwechsel. Wolodymyr Selenskyj gewann 2019 die Präsidentschaftswahl und löste Petro Poroschenko an der Spitze des Staates ab.  © Genya Savilov/afp
Wolodymyr Selenskyj
Selenskyj hatte sich bis dahin als Schauspieler und Komiker einen Namen gemacht. In der Comedy-Serie „Diener des Volkes“ spielte Selenskyj von 2015 bis 2017 bereits einen Lehrer, der zunächst Youtube-Star und schließlich Präsident der Ukraine wird. Zwei Jahre später wurde die Geschichte real. Selenskyj wurde am 20. Mai 2019 ins Amt eingeführt. Kurz darauf löste der bis dato parteilose Präsident das Parlament auf und kündigte Neuwahlen an. Seine neu gegründete Partei, die er nach seiner Fernsehserie benannte, erzielte die absolute Mehrheit.  © Sergii Kharchenko/Imago
Russische Separatisten in der Ost-Ukraine
Selenskyj wollte nach seinem Wahlsieg die zahlreichen innenpolitischen Probleme der Ukraine angehen: vor allem die Bekämpfung der Korruption und die Entmachtung der Oligarchen. Doch den neuen, russland-kritischen Präsidenten der Ukraine holten die außenpolitischen Konflikte mit dem Nachbarn ein. © Alexander Ryumin/Imago
Ukraine Militär
Im Herbst 2021 begann Russland, seine Truppen in den von Separatisten kontrollierte Regionen in der Ost-Ukraine zu verstärken. Auch an der Grenze im Norden zog Putin immer mehr Militär zusammen. Selenskyj warnte im November 2021 vor einem Staatsstreich, den Moskau in der Ukraine plane. Auch die Nato schätzte die Lage an der Grenze als höchst kritisch ein. In der Ukraine wurden die Militärübungen forciert. © Sergei Supinsky/AFP
Putin
Noch drei Tage bis zum Krieg: Am 21. Februar 2022 unterzeichnet der russische Präsident Wladimir Putin verschiedene Dekrete zur Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Lugansk. © Alexey Nikolsky/AFP
Explosion in Kiew nach Beginn des Ukraine-Kriegs mit Russland
Am 24. Februar 2022 wurde der Ukraine-Konflikt endgültig zum Krieg. Russische Truppen überfielen das Land entlang der gesamten Grenze. Putins Plan sah eine kurze „militärische Spezialoperation“, wie die Invasion in Russland genannt wurde, vor. Die ukrainischen Streitkräfte sollten mit einem Blitzkrieg in die Knie gezwungen werden. Moskau konzentrierte die Attacken auf Kiew. Innerhalb weniger Tage sollte die Hauptstadt eingenommen und die Regierung Selenskyjs gestürzt werden. Doch der Plan scheiterte und nach Wochen intensiver Kämpfe und hoher Verluste in den eigenen Reihen musste sich die russische Armee aus dem Norden des Landes zurückziehen. Putin konzentrierte die eigene Streitmacht nun auf den Osten der Ukraine. © Ukrainian President‘s Office/Imago
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, bei einer Fernsehansprache aus Kiew
Seit Februar 2022 tobt nun der Ukraine-Krieg. Gesicht des Widerstands gegen Russland wurde Präsident Wolodymyr Selenskyj, der sich zu Beginn des Konflikts weigerte, das Angebot der USA anzunehmen und das Land zu verlassen. „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, sagte Selenskyj. Die sollte er bekommen. Zahlreiche westliche Staaten lieferten Ausrüstung, Waffen und Kriegsgerät in die Ukraine. Hunderttausende Soldaten aus beiden Ländern sollen bereits gefallen sein, ebenso mehr als 10.000 Zivilpersonen. Ein Ende des Kriegs ist nach wie vor nicht in Sicht. © Ukraine Presidency/afp
Was kann man da tun?
Systematisch Öffentlichkeit zu diesen Fällen herstellen. Wir müssen Bewusstsein dafür schaffen, dass es sich um eine permanente Gefahr handelt. In einer Diktatur ist alles sehr einfach: Jemand entscheidet, unterschreibt und es läuft. In einem demokratischen Land brauchen Sie die Öffentlichkeit und öffentliche Unterstützung. Sonst verliert man die nächste Wahl.

Deutschlands Russland-Politik als Problemfall: „Es gibt da eine ganze diplomatische Schule“

Hatte das Baltikum generell von Anfang an einen realitätsnäheren Blick auf Russland als andere EU-Staaten?
Absolut. Ich bedauere das sehr. 2004 wurden die baltischen Staaten EU-Mitglieder. Aber ihre einzigartige Expertise, basierend auf sehr genauer Kenntnis russische Ideologie und Mentalität, wurde komplett ignoriert. Wann auch immer wir eine realistische Haltung einforderten, hieß es: „Das ist euer Groll, ihr wollt doch Rache“ und dergleichen. Dabei ist das völlig unlogisch. Niemand hätte größeres Interesse an einem normalen Russland als wir Nachbarstaaten, denn wir schweben jetzt in permanenter Gefahr. Dennoch habe ich erst nach der Krim-Annexion gehört: „Eure Warnungen waren berechtigt.“ Und kurz darauf ging man wieder zu ‘business as usual’ über. Das Minsk-Abkommen war dabei das Schlimmste, denn Russland hatte keinerlei Absicht, es zu erfüllen. Sie haben nur Zeit gewonnen.
Deutschland hat dabei eine besonders herausgehobene Rolle gespielt – Stichwort Nord Stream 2.
Besonders mit deutschen Politikwissenschaftlern und Kommentatoren war es schwierig. Es gibt eine ganze diplomatische Schule in Deutschland, die der tiefsten Überzeugung ist, dass ein Europa ohne Russland unmöglich ist; dass der Dialog um jeden Preis erhalten werden muss. Und ja, Dialog ist wichtig – aber nicht um jeden Preis. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem der Preis nicht mehr bezahlbar ist. Ich glaube aber, dass in Deutschland das Bewusstsein für die Gefahr wächst – es ist ja der größte Hilfsgeber für die Ukraine hinter den Vereinigten Staaten.

Interview: Florian Naumann

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