Oppositions-Größe im Interview

Orbán-Kritikerin sieht Ungarn verarmen – auch zu Russlands Gunsten: „Rechtspopulisten liefern nicht“

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    VonFlorian Naumann
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Was treibt Viktor Orbán eigentlich auf seinen prorussischen Kurs? Eine Kontrahentin sieht klaren Schaden: „Ungarn ist das ärmste Land der EU geworden.“

Straßburg – Pünktlich zum Start des neuen Europaparlaments (EP) hat Viktor Orbán die EU am Nasenring durch die weltpolitische Manege gezogen: mit einer unabgesprochen „Friedensmission“ zu Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump. Es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass der ungarische Ministerpräsident quer treibt: Manche halten Orbán für Putins „nützlichen Idioten“ im Kreis der EU – und erhalten reichlich Argumente, etwa durch Ungarns Dauerveto gegen Ukraine-Hilfspakete oder Russland-Sanktionen.

Was treibt Orbán an? Die Sozialdemokratin Klára Dobrev war 2021 in der Stichwahl zur Kandidatur der vereinten ungarischen Opposition und sitzt nun als eine von nur zwei ungarischen Politikerinnen abseits rechter Kräfte im EP. Aus ihrer Sicht ist Orbán nicht zuletzt von Prestigedenken getrieben – und schadet damit nicht nur der EU, sondern gerade Ungarn. Im Gespräch mit IPPEN.MEDIA in Straßburg hat Dobrev Mahnungen für Europa und gerade Deutschland für den Umgang mit Rechtspopulisten wie Orbán parat.

Warum hält Orbán Putin die Stange? „Das ist schwer zu erklären – weil es irrational ist“

IPPEN.MEDIA: Viktor Orbán hat weite Teile der EU zu Beginn seiner Ratspräsidentschaft mit seiner Reise nach Moskau heftig vor den Kopf gestoßen – und auch Ukraine-Hilfspakete blockiert er immer wieder. Warum tut er das?
Klára Dobrev: Das ist sehr schwer zu erklären – weil es irrational ist. Lassen Sie mich zunächst sagen: Den höchsten Preis für diese prorussische Politik zahlen die Menschen in Ungarn. Ungarn hat nach der russischen Aggression die Einfuhren von Gas und Kraftstoff aus Russland erhöht. Es zahlt den höchsten Preis für fossile Brennstoffe und wir haben den Import noch gesteigert, das kostet die Menschen irrsinnige Summen an Geld.
Wir sind auch das einzige Land in Europa, in dem in den vergangenen fünf bis sieben Jahren der Anteil erneuerbarer Energien gesunken ist: Um Platz für ein russisches Atomkraftwerk zu schaffen. Wir sind das einzige EU-Land, das ein Atomkraftwerk russischer Bauart baut. Dabei gibt es auch Sicherheitsbedenken. Zugleich wird es das teuerste AKW Europas, finanziert von russischem Geld! Die Regierung baut es trotzdem. Und das kann so weitergehen. Auch die Art und Weise, wie Orbán sein Veto nutzt, ist nicht im Interesse Ungarns, sondern in dem einiger verrückter russischer Oligarchen.

Orbán will „Gesten“ von Putin, Erdogan und Lukaschenko: „Fanfaren und Orchester auf dem roten Teppich“

Gerade im Ausland ist die Frage groß, was dahintersteckt.
Ich denke, Orbán hat den Punkt erreicht, an dem es ihm wichtig ist, mit Fanfaren und Orchestern auf dem roten Teppich begrüßt zu werden. Diese Art großer symbolischer Gesten von Wladimir Putin, von Alexander Lukaschenko, von Recep Tayyip Erdogan oder in Aserbaidschan zu erhalten. Das ist einer der Gründe. Und er führt die EU vor. Die EU und die pro-europäischen Kräfte müssen wirklich auf der Hut sein, dass er nicht auch noch die Weltpolitik trollt.
Ungarn scheint noch weiter nach rechts gerutscht zu sein. Das Ergebnis der EU-Wahl mutet aus deutscher Perspektive eigentümlich an: Orbán und die rechtsextreme Mi Hazank haben 12 von 21 Sitzen erhalten. Und Sie sind eine von nur zwei Abgeordneten links von den Konservativen. Wie kommt das?
Um die Wahrheit zu sagen: Das ist auch aus ungarischer Perspektive seltsam. In den letzten zwei Monaten vor der Wahl hat sich das gesamte Bild gedreht und die ganze Opposition ist kollabiert. Wir sind die einzige demokratische Opposition, die überlebt hat, wenn auch mit weniger Mandaten. Das größte Problem ist eine neue Partei – eigentlich ist es keine Partei, sondern nur eine Person. Niemand weiß, wofür sie stehen.
Sie sprechen von Peter Magyar und der Tisza Part, die jetzt bei der konservativen EVP um CDU und CSU dabei ist.
Deren Hauptbotschaft war, dass sie die Opposition besiegen werden – und damit Orbán. Aber was ich jetzt sehe, ist, dass sie absolut tauglich für eine Koalition mit Orbán wären. Wir müssen also nochmal von vorne beginnen. Ich wäre sehr offen für eine Koalition mit jedem – Grüne, Konservative, Liberale, Sozialdemokraten – der gegen das Orbán-Regime ist und nicht daran anknüpft. Es kann nicht darum gehen, einen jüngeren Orbán und ein neues Namensschild auf der Fidesz zu bekommen. Das Regime selbst, mit seinen Oligarchen, seinen Gesetzen, seinem Bildungssystem, mit seiner Außenpolitik, muss verändert werden. Aber diese Partei stellt sich gegen die europäische Mehrheit in Sachen der russischen Aggression. Sie werden nicht die „Brandmauer“ gegen Rechts unterstützen und auch nicht die Rechtsstaatlichkeits-Maßnahmen als Eckstein europäischer Politik. Das wirft einige Fragen für die Zukunft auf.

„Seit Orbán regiert, ist Ungarn das ärmste Land der EU geworden“

Die ungarische Sozialdemokratin Klára Dobrev bei einer Rede auf dem Budapester Heldenplatz (Archivbild).
Orbán und die Fidesz sind aber im EU-Parlament nicht mehr isoliert. Im Gegenteil, Rechtsaußenkräfte feiern seinen Kurs. Und die wiederum sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Aus Ihrer Erfahrung: Wie sollte man auf diese Tendenzen reagieren?
Das ist auf jeden Fall sehr wichtig! Ich fürchte, dass wir nicht aufmerksam genug waren. Sowohl die ungarischen Demokraten als auch Europa haben nicht rechtzeitig erste Schritte ergriffen, als sich dieses Bild abzeichnete. Die Rechtspopulisten erzählen vielleicht von einer wunderbaren Welt und wunderbaren Nationen – aber seit Orbán regiert, ist Ungarn das ärmste Land der EU geworden. Polen, die baltischen Staaten, Tschechien oder die Slowakei sind bei den Löhnen oder Kaufkraft vorbeigezogen. Das war jahrzehntelang undenkbar. Und es ist passiert, weil die Rechtspopulisten in der Regierung nicht liefern.

„Wir müssen auch in Deutschland und Frankreich klarmachen, dass Populisten in der Regierung versagen“

Orbáns Regierung hat das Label als „ärmstes Land Europas“ empört als Missinterpretation statistischer Daten zurückgewiesen. Dennoch: Regt sich da kein Widerstand?
Orbán hat keine Mehrheit in der ungarischen Gesellschaft. Er hält sich mit einem maßgeschneiderten Recht an der Macht, und mit einem Regime, das es ihm erlaubt, seine Konkurrenz zu unterdrücken und Kampagnen mit Staatsgeld zu fahren.
Was also tun?
Zuallererst müssen wir den Menschen, auch in Deutschland oder Frankreich, klarmachen, dass Populisten in der Regierung versagen. Zum Zweiten: Die Konditionalitätsverordnung der EU (Möglichkeit zur Sanktion bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit; Anm. d. Red.) war ein starker und guter Schritt – aber sie kam ziemlich spät. Als die EU diese Regel eingeführt hat, war Ungarn bereits buchstäblich Eigentum der Orbán-Familie und der Oligarchen, und zwar alle wichtigen Sektoren.
Drittens müssen wir die Wahlen im Blick behalten. Freie und faire Wahlen sind die Basis unserer Demokratien und Ungarn hat keine freien und fairen Wahlen mehr. Natürlich werden sie nicht auf jene Art manipuliert, in der man Wahlen vor 30, 50 oder 60 Jahren manipuliert hat. Der Wahlbetrug wird in den Medien begangen, in von Steuerzahlergeld finanzierten Plakatkampagnen. Ich denke, der nächste wichtige Schritt für die demokratischen Kräfte in Europa wird sein, einen Plan zu erarbeiten, wie wir stark und klar freie und faire Wahlen sichern können.

Interview: Florian Naumann

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