Folter, Massengräber, Vergewaltigung

„Frieden“ mit Putins Russland in der Ukraine? Nobelpreisträgerin warnt: „Besetzung ist Krieg“

  • Florian Naumann
    VonFlorian Naumann
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Die Rufe nach „Frieden“ in der Ukraine werden lauter. Menschenrechtlerin Oleksandra Matwijtschuk warnt vor einem Trugschluss – und Russlands Terror.

München – Oleksandra Matwijtschuk ist die wohl prominenteste Menschenrechtlerin der Ukraine: 2022 erhielt sie den Friedensnobelpreis – mit ihrer Organisation „Center for Civil Liberties“ dokumentiert sie seit Jahren Tod, Gewalt und Übergriffe. Zuerst rund um die versuchte Niederschlagung des Euromaidan, später auch Verbrechen im Donbass, auf der Krim und in Russlands eskaliertem Ukraine-Krieg.

Wie blickt Matwijtschuk auf Rufe nach Friedensverhandlungen und einem Kompromiss mit Russland? Im Interview mit IPPEN.MEDIA am Rande eines Termins nahe München schildert die 40-Jährige eindringlich, teils emotional, die Lage der Menschen in der Ukraine. Besetzung sei nur eine andere Form von Krieg, folgert Matwijtschuk aus ihrer jahrelangen Arbeit – und erläutert, warum ein Kriegsverbrechertribunal aus ihrer Sicht so außerordentlich wichtig ist.

„Russland hat Terror gegen Zivilisten etabliert“

Frau Matwijtschuk, Deutschland debattiert heftig über Hilfen für die Ukraine. Meist geht es dabei aber um die Frage, wie Russlands Reaktion aussehen könnte. Ich würde Sie gerne zunächst fragen: Wie geht es den Menschen in der Ukraine?
Vielen Dank für diese Frage! In den scharfen geopolitischen Debatten ist es wichtig, die menschliche Dimension nicht zu vergessen. Mein Leben und das von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern hat sich mit der großangelegten Invasion völlig verändert. Alles, was ein normaler Alltag war, ist komplett verschwunden. Im Krieg zu leben bedeutet, keine Ahnung zu haben, ob man am Morgen wieder aufstehen wird. Krieg ist eine Lotterie – vielleicht wird das eigene Wohnhaus in der Nacht von einer Rakete getroffen werden. Der Krieg bedeutet stetige Angst um die Liebsten.
Oleksandra Matwijtschuk 2023 in Deutschland – vor einem Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Das ist die Lage in weiten Teilen der Ukraine. Wie sieht es in den von Russland besetzten Gebieten aus?
Dort ist es noch viel schlimmer. Um Kontrolle über die Regionen zu erlangen, hat Russland Terror gegen Zivilisten etabliert. Die Russen haben bewusst eine Minderheit lokal aktiver Menschen ausgelöscht – etwa Journalisten, Bürgermeister, Freiwillige, Geistliche, Umweltaktivisten, Lehrer; jegliche Form von Aktivisten in der Gesellschaft. Sie bringen ukrainische Kinder nach Russland in Umerziehungslager, um sie „als Russen“ zu erziehen.

„Frieden“ im Ukraine-Krieg: „Besetzung ist Krieg, nur in einer anderen Form“

Aus Ihren Erfahrungen und Recherchen: Was bedeutet das für die Menschen?
Sie leben in einer Grauzone. Sie haben keine Mittel, um ihre Rechte, ihre Freiheit, ihr Leben, ihren Besitz, ihre Kinder und Liebsten zu schützen. Und deshalb sage ich ganz klar: Besetzung ist Krieg, nur in einer anderen Form. Sie mindert menschliches Leiden nicht, sie macht es nur unsichtbar. Bei einer Besetzung geht es nicht nur um den Wechsel einer Staatsflagge – sie bedeutet Folter, Vergewaltigung, Entführungen, Negierung der eigenen Identität, Kindesentzug, Filtrationslager und Massengräber.
Russland hat zwei Ziele. Es will die Energieinfrastruktur in der Ukraine zerstören. Wahrscheinlich werden mehr als zwei Millionen Menschen das Land verlassen: Es ist sehr schwer, in modernen Städten ohne Heizung, Wasser, Strom und Licht zu überleben. Und es will psychologischen Terror ausüben.
Richten wir den Blick zurück auf das Ringen um Hilfen und Erlaubnisse zum Einsatz westlicher Waffen in Russland für die Ukraine – und Rufe nach Friedensverhandlungen. Wie blicken Sie auf den Streit?
Sehen Sie: Russland greift jeden Tag mit voller Absicht zivile Ziele an. Erst vor einer guten Woche ist eine Familie in Lwiw nahe der polnischen Grenze gestorben, eine russische Rakete traf ihr Haus. Nur der Vater überlebte, seine Frau und drei Kinder sind tot. Eine russische Rakete braucht 42 Sekunden, um etwa eine Schule in Charkiw zu treffen. Das ist nicht genug Zeit, um Kinder in Sicherheit zu bringen. Das ist der psychologische Terror gegen Zivilisten. Und deshalb ist es so wichtig, dass die Ukraine Flugfelder in Russland angreifen darf, von denen Raketen, Flugzeuge und Drohnen starten.

„Erinnern Sie sich an die Bilder aus Butscha? Das ist es, was Russland mit Unbewaffneten tut!“

Genau das wollen etwa die USA und Deutschland nicht erlauben. Und Bundeskanzler Olaf Scholz hat gerade erst wieder die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern ausgeschlossen.
Die Ukraine hat ein legitimes Recht, sich zu verteidigen. Aber mit bloßen Händen ist das sehr schwer, gerade gegen einen enormen Angreifer wie Russland. Erinnern Sie sich an die Fotos aus Butscha? Die Getöteten waren unbewaffnet. Das ist es, was Russland mit Unbewaffneten tut! Aber wenn die Ukraine um Waffen bittet, erleben wir immer dieselbe Geschichte: Erst heißt es ‚Nein, ihr werdet keine modernen Panzer bekommen.‘ Oder keine F16-Jets. Nach einem oder zwei Jahren kommt diese Hilfe dann doch. Ich bin sicher, dass sich auch diese Entscheidung ändern wird – aber die Zeit drängt.
Warum ist der Druck so groß?
Das Problem ist, dass Zeit für die Menschen in der Ukraine eine andere Bedeutung hat als für die Menschen in Deutschland oder Frankreich. Denn wir sind im Krieg, Zeit setzt sich im Krieg in enorme Todeszahlen um, auf den Schlachtfeldern, im Hinterland, in den besetzten Gebieten. Politikerinnen und Politiker erklären die Verzögerungen und Weigerungen mit der Sorge vor einer Eskalation. Aber Russland hat bereits alle roten Linien überschritten. Russland will die Welt überzeugen, dass ein Staat mit großer militärischer Schlagkraft und Atomwaffen Grenzen verschieben kann. Wenn es damit Erfolg hat, ermutigt das andere autoritäre Staaten in aller Welt, dasselbe zu tun.

Angst vor Putins Atomwaffen: „Nicht-Eskalations-Politik wird in eine für alle gefährliche Welt führen“

Auf das Stichwort „Eskalation“: Die Sorge vor einem Atomschlag ist gerade in Deutschland groß. Können Sie das verstehen?
Ich habe Empathie mit diesen Menschen, denn sie wollen nicht akzeptieren, dass die bisherige Realität am Ende ist. Das gesamte System von Frieden und Sicherheit der Vereinten Nationen ist ruiniert. Ich weiß nicht, wie künftige Historiker diese Phase nennen werden. Aber klar ist: „Nicht-Eskalations-Politik“ wird in eine Welt führen, die für alle gefährlich ist, ohne Ausnahmen. Alle Diktatoren haben eins gemeinsam: Sie verstehen nur die Sprache der Stärke.

Russland feuert Raketen auf Kinderkrankenhaus in Kiew: Fotos zeigen erschütternde Szenen

Rauch über Kiew. Die ukrainische Hauptstadt wurde am Montag von mehreren russischen Raketen getroffen.
Rauch über Kiew. Die ukrainische Hauptstadt wurde am Montag von mehreren russischen Raketen getroffen. © Evgeniy Maloletka / dpa
Die Schäden nach dem russischen Angriff auf Kiew sind beachtlich, wie hier zu sehen im Lukianivska Bezirk.
Die Schäden nach dem russischen Angriff auf Kiew sind beachtlich, wie hier zu sehen im Lukianivska Bezirk. © Andreas Stroh / dpa
Das Okhmatdyt-Kinderkrankenhaus in Kiew wurde durch die russischen Raketen schwer getroffen.
Das Okhmatdyt-Kinderkrankenhaus in Kiew wurde durch die russischen Raketen schwer getroffen. Rettungskräfte und Zivilisten suchen nach möglichen Verschütteten. © Evgeniy Maloletka / dpa
Ein augenscheinlich verletzter Mann telefoniert nach dem schweren Angriff auf Kiew.
Ein augenscheinlich verletzter Mann telefoniert nach dem schweren Angriff auf Kiew. © dpa/AP | Efrem Lukatsky
Eine Frau kümmert sich um ein Kind vor dem von russischen Raketen getroffenen Okhmatdyt-Kinderkrankenhaus in Kiew.
Eine Frau kümmert sich um ein Kind vor dem von russischen Raketen getroffenen Okhmatdyt-Kinderkrankenhaus in Kiew. © Evgeniy Maloletka / dpa
Ein Blick in das Kinderkrankenhaus zeigt, wie schwer die Raketen aus Russland die Klinik in der Ukraine verwüstet haben.
Ein Blick in das Kinderkrankenhaus zeigt, wie schwer die Raketen aus Russland die Klinik in der Ukraine verwüstet haben. © Evgeniy Maloletka / dpa
Mit blutigem Gewand steht ein Krankenhaus-Mitarbeiter vor den Trümmern nach dem russischen Raketenangriff auf Kiew.
Mit blutigem Gewand steht ein Krankenhaus-Mitarbeiter vor den Trümmern nach dem russischen Raketenangriff auf Kiew. © IMAGO/Madeleine Kelly/ZUMA Press Wire
Rettungskräfte räumen die Trümmer nach dem schweren russischen Angriff auf Kiew vor der Kinderklinik.
Rettungskräfte räumen die Trümmer nach dem schweren russischen Angriff auf Kiew vor der Kinderklinik. © Evgeniy Maloletka / dpa
In der nähe des von einer Rakete getroffenen Okhmatdyt-Kinderkrankenhauses trägt ein Mann ein Kind aus der Gefahrenzone.
In der nähe des von einer Rakete getroffenen Okhmatdyt-Kinderkrankenhauses trägt ein Mann ein Kind aus der Gefahrenzone. © Evgeniy Maloletka / dpa
Nach dem schweren russischen Angriff auf die ukrainische Hauptstadt werden verletzte abtransportiert.
Nach dem schweren russischen Angriff auf die ukrainische Hauptstadt werden Verletzte abtransportiert. © IMAGO/Madeleine Kelly/ZUMA Press Wire
Kinder warten in der Nähe des Okhmatdyt-Kinderkrankenhauses, das von russischen Raketen getroffen wurde.
Kinder warten in der Nähe des Okhmatdyt-Kinderkrankenhauses, das von russischen Raketen getroffen wurde. © Evgeniy Maloletka / dpa
Vereinte Kräfte bei den Bergungsarbeiten: Retter tragen ein Stück des Daches am Okhmatdyt-Kinderkrankenhaus in Kiew weg.
Vereinte Kräfte bei den Bergungsarbeiten: Retter tragen ein Stück des Daches am Okhmatdyt-Kinderkrankenhaus in Kiew weg. © Evgeniy Maloletka / dpa
Ein Feuerwehrmann sitzt bei Rettungsarbeiten in Kiew nach dem schweren russischen Angriff im Schutt.
Ein Feuerwehrmann sitzt bei Rettungsarbeiten in Kiew nach dem schweren russischen Angriff im Schutt. © Aleksandr Gusev / dpa
Auch am Tag nach dem russischen Raketenangriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew gehen die Aufräumarbeiten weiter.
Auch am Tag nach dem russischen Raketenangriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew gehen die Aufräumarbeiten weiter. © IMAGO/Maxym MarusenkoNurPhoto
Nach dem russischen Angriff auf das Kinderkrankenhaus mussten die schwer kranken Kinder draußen vor der Klinik behandelt werden.
Nach dem russischen Angriff auf das Kinderkrankenhaus mussten die schwer kranken Kinder draußen vor der Klinik behandelt werden. © IMAGO/Maxym Marusenko/NurPhoto
In Kiew stehen Krankenhaus-Betten auf der Straße, um nach dem Angriff auf die Kinderklinik die Patienten weiter betreuen zu können.
In Kiew stehen Krankenhaus-Betten auf der Straße, um nach dem Angriff auf die Kinderklinik die Patienten weiter betreuen zu können. © IMAGO/Bahmut Pavlo/Ukrinform/Abaca
Ein Blick in das Kinderkrankenhaus in Kiew zeigt, wie schwer die russischen Raketen die Klinik zerstört haben.
Ein Blick in das Kinderkrankenhaus in Kiew zeigt, wie schwer die russischen Raketen die Klinik zerstört haben. © IMAGO/Ruslan Kaniuka/Ukrinform/ABACA
Medizinisches Personal und Freiwillige räumen Trümmer, suchen unter dem Schutt des Kinderkrankenhauses nach Opfern.
Medizinisches Personal und Freiwillige räumen Trümmer, suchen unter dem Schutt des Kinderkrankenhauses nach Opfern. © Anton Shtuka / dpa
Verzweiflung herrscht in Kiew. Nach dem Angriff auf die Kinderklinik suchen Erwachsene und Kinder Schutz in Kellern.
Verzweiflung herrscht in Kiew. Nach dem Angriff auf die Kinderklinik suchen Erwachsene und Kinder Schutz in Kellern. © Anton Shtuka / dpa
Sie fordern auch Strafverfolgung für russische Kriegsverbrechen. Warum ist das so wichtig – und ist es überhaupt ein realistisches Ziel?
Als die Groß-Invasion startete, haben wir ein nationales Netzwerk lokaler Dokumentatoren errichtet. Im ganzen Land, inklusive der besetzten Gebiete. Seither haben wir 80.000 Kriegsverbrechen dokumentiert. Bombardements auf Wohngebiete, Schulen, Kirchen und Museen, Angriffe auf Evakuierungskorridore, Folter, Entführung von Kindern nach Russland; Raub, Vergewaltigung und Mord an Zivilisten. Diese Hölle, mit der die Ukraine jetzt konfrontiert ist, ist Resultat der Straflosigkeit, die Russland seit Jahrzehnten genießt.

Verbrechen im Ukraine-Krieg: „Warum tun die Russen so etwas? Weil sie es können“

Inwiefern?
Russland hat Kriegsverbrechen in Tschetschenien, Moldau, Georgien, Mail, Libyen, Syrien und anderen Ländern verübt. Russland glaubt, es kann tun, was auch immer es will. Wenn mich Menschen fragen, warum Russen absichtlich einen zivilen Pkw mit einer Mutter und ihren Kindern angreifen, obwohl sie selbst grünes Licht für das Verlassen der Gefahrenzone gegeben haben, dann habe ich nur eine Antwort: Weil sie es können. Weil sie noch nie bestraft wurden. Deshalb müssen wir den Teufelskreis der Straflosigkeit durchbrechen. Und ja, das ist eine schwierige Aufgabe. Aber wir können nicht warten. (Interview: Florian Naumann – Teil 2 des Gespräches u.a. zu Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg lesen Sie am Mittwoch hier)

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