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Rechtsrutsch bei der EU-Wahl: Was er für Europa bedeutet – und wo es verblüffende Ausnahmen gab
VonFlorian Naumann
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Europa ist wieder einmal nach rechts gerutscht – aber nicht überall. Konsequenzen könnte die Europawahl dennoch haben. Die Analyse:
Es war abzusehen – und sorgt doch für Schockwellen in vielen europäischen Hauptstädten: Rechtspopulisten und Rechtsextreme haben bei der Europawahl in vielen Ländern hinzugewonnen. Aber die Lage ist ein wenig komplexer. Mancherorts hat das rechte Lager auch eingebüßt. Und wie groß die Auswirkungen auf die Politik der EU sein werden, ist noch gar nicht abzusehen.
Wie die Lage in den 27 EU-Staaten tatsächlich ist, zeigt eine Datenauswertung von IPPEN.MEDIA. Die wichtigsten Fragen zu den politischen Auswirkungen auf das Europaparlament hat Europaexperte Stefan Thierse von der Uni Bremen beantwortet. Die Erkenntnisse des Wahlabends im Überblick:
1. Rechtsrutsch bei der Europawahl: Wo hat der extreme Rand zugelegt?
Den größten Knall gab es in Frankreich: Marine Le Pens Rassemblement Nationale (RN) ist laut dem vorläufigen Europawahl-Ergebnis mit 31,5 Prozent mit Abstand stärkste Kraft geworden. Es ist zugleich ein massiver Zuwachs gegenüber 2019. Dass der RN die Regierungspartei von Emmanuel Macron geradezu „deklassiert“ habe, sei nicht ganz überraschend, habe aber ein „politisches Erdbeben ausgelöst“, sagt Thierse. Die von Macron ausgerufenen Neuwahlen könnten weitere Verschiebungen auch in Frankreich bringen.
Auch Deutschland steht im Fokus – gerade weil die AfD in den Ost-Flächenländern zur stärksten Kraft wurde: „Das stimmt doch sehr bedenklich“, sagt Thierse. In Österreich hat die FPÖ die Wahl gewonnen.
Allerdings betont der Experte auch: „Das Bild in den nationalen Hauptstädten ist ein gemischtes.“ „Wir sehen einerseits, dass Rechtsaußen- und zum Teil wirklich rechtsextreme Parteien deutliches Zuwächse haben.“ Die Karte zeigt Zugewinne für den rechten Rand etwa auch in Spanien, Portugal, Griechenland und dem Baltikum – jeweils verglichen mit den Mandaten für die jeweiligen Parteien im scheidenden Parlament. Aber es gab auch andere Signale.
2. Überraschungen bei der EU-Wahl: Wo Rechts verloren hat – oder zumindest nicht gewonnen
Der Rechtsrutsch ist kein den ganzen Kontinent übergreifendes Phänomen. Andererseits habe es „keineswegs überall einen Durchmarsch von Rechtsaußen- oder nationalkonservativen Parteien“ gegeben, betont Thierse. Ein Gegenbeispiel ist just Polen – ein langjähriges Sorgenkind der EU: „Die PiS ist erstmals seit 2014 nicht mehr stärkste Kraft bei einer gesamtpolnischen Wahl geworden.“
In den Niederlanden ist Geert Wilders PVV nicht zur stärksten Kraft geworden – nach den Umfragen war anderes erwartet worden. Allerdings hat die PVV abermals deutlich hinzugewonnen. Und es war ein ungewöhnlich breites Bündnis nötig, um Wilders zu schlagen. „Da mussten sich Groen-Links und Sozialdemokraten erst zusammenschließen, um eine schlagkräftige Gegenposition aufzubauen“, erklärt der Experte.
Die vielleicht größte Überraschung lieferten die nordischen Länder Schweden und Finnland. In Schweden brachen die hart rechten Sverigedemokrater jedenfalls verglichen mit der nationalen Wahl 2022 regelrecht ein: 19,1 Prozent standen damals zu Buche, 13,2 waren es am Sonntag. Dafür explodierten die Grünen von 5,1 auf 13,8 Prozent. In Finnland landeten die „Wahren Finnen“ sogar bei 7,6 Prozent, nach 20,1 Prozent bei der Parlamentswahl 2023.
Auch in Umfragen lagen die Rechtspopulisten lange Zeit deutlich besser im Rennen. „Traditionell brechen Regierungsparteien bei Europawahlen umso stärker ein, je mehr man in der Mitte eines nationalen Wahlzyklus ist.“ Dieser Effekt kann also auch für Rechtsaußen gelten. In Finnland regieren die Wahren Finnen mit, in Schweden dulden die Sverigedemokrater die konservative Regierung. Gegeben sind solche Wenden aber nicht: Oft hätten Rechtsextreme in Regierungeverantwortung den Wählenden auch „Erfolge“ verkauft, sagte der Berliner Politologe Endre Borbáth IPPEN.MEDIA im Frühjahr. Sondereffekte kommen hinzu: So litten die Schwedendemokraten laut Thierse auch unter Berichten über eine Kampagne gegen Migranten und politische Gegner über anonyme Social-Media-Accounts.
3. Rechtspopulisten und -extremisten erobern mehr Sitze in Europa: Wie groß ist der Effekt?
Das rechte Lager hat dazu gewonnen – auch in der wichtigsten Währung, den Sitzen im Europaparlament. Die extremste Fraktion, die ID, kommt nach einer Prognose des EP auf 57 Sitze, die etwas gemäßigtere EKR auf 71. Allerdings schlummern noch einige mögliche Kooperationspartner der Rechten im Lager der Fraktionslosen. Viktor Orbáns Fidesz (11 Sitze) etwa. Oder auch die AfD (15 Sitze), die kurz vor der Wahl aus der ID geflogen war. Orbáns Parteifreunde verloren übrigens ebenfalls leicht, zwei Sitze dürften sie einbüßen.
Noch ist unklar, ob sich das Rechtsaußen-Lager neu sortiert und etwa eine große neue Fraktion bildet. Potenziell könnte eine solche die zweitgrößte werden. „Da ist die Machtperspektive theoretisch gegeben – aber praktisch gibt es doch sehr bedeutsame Hürden“, sagt der Politikwissenschaftler: „Es gibt auch am rechten Rand Bruchstellen. Es ist keineswegs so, dass dort nur breite Einigkeit herrscht.“ Ein Beispiel sei die Russland-Politik. „In der ID, in der bis vor kurzem auch die AfD mit organisiert war, ist ein viel stärkerer Bruch hinsichtlich der Haltung gegenüber Russland oder auch der militärischen Unterstützung der Ukraine zu sehen als in der EKR.“
Klar ist aber: Eine Mehrheit hat Rechts in Brüssel und Straßburg nicht. „Eine effektive Sperrminorität geben nach Lage der Zahlen die Zugewinne dieser Kräfte immer noch nicht her“, sagt Thierse. Jedenfalls wenn die pro-europäischen Kräfte zusammenarbeiten. „Im Europäischen Parlament fallen die Verschiebungen insgesamt gar nicht so drastisch aus, wie die politischen Beben, die man zum Teil heute in den Hauptstädten der europäischen Mitgliedsstaaten sieht“, meint er auch mit Blick auf Rufe nach der „Vertrauensfrage“ in Deutschland. Angesichts von 150 Parteien aus 27 Mitgliedsstaaten „verdünnten“ sich die Effekte der nationalen Wahlen ein Stück weit.
4. „Neuer Tonfall“ bei Klima und Migration? Was der Rechtsrutsch für Europa bedeutet
Die größte praktische Frage dürfte werden, ob die konservative Wahlsiegerin EVP tatsächlich einige hart rechte Kräfte auf der Suche nach Mehrheiten ins Boot holt. Eigentlich stelle sich die Frage im Grunde gar nicht so sehr, sagt Thierse: Die bisherige informelle EP-Koalition aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen habe mit 403 Sitzen weiter eine Mehrheit. CSU-Politiker und EVP-Fraktionschef Manfred Weber wollte eine Zusammenarbeit am Sonntag aber dennoch nicht ausschließen – möglicherweise Taktik gegenüber Sozialdemokraten und Liberalen. „Ich denke, dass jetzt erstmal allseits der Preis für eine Zusammenarbeit in dieser Koalition hochgetrieben wird“, sagt Thierse. Harte Verhandlungen dürften anstehen.
Was aber, wenn die Konservativen doch den Schulterschluss mit Giorgia Meloni und Co. wagen? Dann könnten Konsequenzen drohen – etwa in der Migrations- und Klimapolitik. Letzterer erteilten EKR und ID eine „deutliche Absage“, warnt Thierse. „Diese Gruppen leugnen zum Teil wirklich den menschengemachten Klimawandel.“
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Womöglich nehmen die Mitte-Parteien Teile dieses rechten Kurses aber auch ohne eine solche „Koalition“ vorweg. „Die EVP hat sich angesichts der Bauernproteste selber schon von der bisherigen ökologischen Agrarwende distanziert und auch von Teilen des Green Deals“, urteilt der Bremer Politikwissenschaftler. Der Blick liege nach dem Wahlkampf und den rechten Zugewinnen auch auf Migrationsthemen. Dabei werde auch der Rat, die Gruppe der Staats- und Regierungschefs Impulse setzen.
Wie sich der Ton bereits geändert habe, zeige aber auch schon, dass Kanzler Olaf Scholz (SPD) in einer Regierungserklärung zur Mannheimer Messerattacke Abschiebungen von schwer kriminellen Straftätern nach Afghanistan und Syrien anmahnte. Borbáth warnte im Frühjahr mit Blick auf die Rechtsextremen: „Indem einige Mainstream-Parteien ihre Argumente aufgreifen, normalisieren sie letztlich das Programm der rechtsextremen Herausforderer.“ (Florian Naumann)