Bildung und Wirtschaft
Trotz Fachkräftemangel haben Millionen keine Ausbildung – Grüne fordert neues Konzept
VonMoritz Maierschließen
In der Bildungspolitik ist Luft nach oben. Geht es nach der Grünen-Bildungsexpertin und Professorin Anja Reinalter, liegt darin eine Chance der Wirtschaftskrise.
Berlin – Die deutsche Wirtschaft befindet sich in der Krise. Im Gegensatz zu den Ökonomien anderen Industrienationen stagniert oder schrumpft sie sogar. Wie Deutschland sich in Zukunft aufstellt, um die Entwicklung umzudrehen, könnte das entscheidende Wahlkampfthema für die Bundestagswahl werden. Ein Bereich, der der Grünen Bundestagsabgeordneten Anja Reinalter dabei zu kurz kommt, ist die Bildung. Moderne Bildungspolitik sei einer der wichtigsten Hebel, um aktuelle Probleme am Arbeitsmarkt zu bekämpfen, meint sie.
Wirtschaftskrise in Deutschland: Stellenabbau bei gleichzeitigem Fachkräftemangel – was tun?
„In Deutschland haben 2,9 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren keine Berufsausbildung, das ist mit Blick auf unseren Fachkräftemangel ein riesen Problem“, sagt die Professorin für Soziale Arbeit und bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. „Zu viele Menschen fallen durchs Raster, Behörden wie die Arbeitsagentur wissen oft nicht, welche Personen zum Beispiel die Schule abgebrochen haben und ein Bildungsangebot bräuchten.“
Obwohl die gescheiterte Ampel-Koalition im Bereich Bildung verhältnismäßig kooperativ zusammengearbeitet hat, plädiert Reinalter für eine andere Ausrichtung der Rahmenbedingungen.
„Bisher ist die frühkindliche Bildung im Familienministerium angesiedelt, die Schulzeit im Bildungsministerium und die Ausbildung dann im Arbeits- und Sozialministerium. Das ist alles andere als gut, Bildung muss zusammen gedacht und gestaltet werden“, so die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion: „Die Übergänge zwischen den Bildungsstufen sind bisher nicht gut organisiert.“ Reinalter wünscht sich multiprofessionelle Teams, „etwa Sozialarbeiter, die über die Grenzen der jeweiligen Bildungsstufen hinaus auf Menschen zugehen und ihnen Aus- oder Weiterbildungswege aufzeigen können.“ Wenn junge Menschen etwa ein Schulabbruch droht, kriegen das Stellen wie die Arbeitsagentur oft erst mit, wenn es schon zu spät ist, die Abstimmung zwischen Parteien wie Lehrkräften und Sozialarbeitern ist vielen Experten zufolge ausbaufähig.
Grüne will Bildungspolitik grundlegend reformieren
In vielen Bereichen sind die Forderungen der Parteien in den nun bekannt gewordenen Wahlprogrammen sehr unterschiedlich. In der Bildungspolitik sieht es anders aus. Die Problembeschreibung des Fachkräftemangels, fehlender Kita-Plätze oder maroder Schulen ist überall dieselbe. Und sogar die Forderungen von Union, Grünen, SPD oder FDP ähneln sich in einigen Belangen.
Vom übergreifenden Modell ist im Grünen-Wahlprogramm im Bereich Bildung aber keine Rede. Anders sieht das etwa bei der FDP aus. „Wir müssen Bildung ganzheitlich denken – von der Krippe zum Kindergarten, über Schulen, Berufsschulen und Hochschulen bis zu Angeboten für ein lebenslanges Lernen“, heißt es im Wahlprogramm der Liberalen. Die SPD erwähnt die von Reinalter angesprochenen multiprofessionellen Teams, die helfen sollen, den Quereinstieg in andere Berufe zu erleichtern.
Bildung in Deutschland – Grüne fordert: „Müssen mehr investieren“
Hürden beim Quereinstieg zu senken, dürfte für Deutschland immer wichtiger werden. Viele Industrieunternehmen bauen zwar gerade Stellen ab, zugleich herrscht aber noch immer ein enormer Fachkräftemangel. Für Reinalter spielt neben der Fachkräftezuwanderung eine moderne Fort- und Weiterbildungspolitik deshalb die zentrale Rolle für die künftige Wirtschaftsleistung.
„Bei Menschen, die vom Stellenabbau bei Industrieunternehmen betroffen sind, liegt die Ausbildung oft Jahre oder Jahrzehnte zurück, oder sie sind ganz ohne Berufsausbildung eingestiegen. Die können nicht ohne weiteres in den nächsten Job wechseln. Deshalb müssen wir den Menschen entgegenkommen und unkomplizierte Teilqualifizierungen anbieten“, sagt die Bildungspolitikerin. „Eine einheitliche Weiterbildungsplattform für alle Berufe wäre wichtig. Außerdem müssen die Menschen ihren Lebensunterhalt auch während dieser Fortbildung bestreiten können. Genau deshalb ist die Idee des Aufstiegs-Bafög so wichtig.“ Dadurch sollen Menschen bei Fort- und Weiterbildungen unter anderem finanziell unterstützt und so abgesichert werden.
Ob die Bildungspolitik mit einer neuen Bundesregierung interdisziplinärer aufgesetzt wird, ist bisher unklar. Zwar sprechen sich mehrere Parteien für schulformübergreifende Ansätze aus. Aber durch den Föderalismus und die Entscheidungshoheit der Bundesländer hat Berlin in Sachen Bildung nur begrenzt Handhabe. Laut Reinalter muss die Bundesregierung deshalb vor allem eines tun: Den Ländern mehr Möglichkeiten geben, etwas zu verändern. „Bildung ist unser höchstes Gut; für unsere Wirtschaft und unsere Demokratie. Als Bund müssen wir mehr investieren.“
Rubriklistenbild: © S. E. Lim/Lars Fröhlich/Imago (Montage)

