„Opfer des eigenen Erfolgs“
Verfehlte Elektro-Strategie und Technologie-Ignoranz: Was sind die Gründe für das VW-Debakel?
- VonMark Simon Wolfschließen
Bei VW stehen Entlassungen, Gehaltskürzungen und Fabrikschließungen an. Die Rückschau offenbart: VW hat strategische Fehler begangen – für die die Angestellten nun zahlen müssen.
Wolfsburg – Die Brust des VW-Konzerns war jahrzehntelang breit. Angesichts der guten Absatzzahlen und einer Marktdominanz in Deutschland sowie auch weiten Teilen Europas sogar sehr breit. Natürlich sprachen Margen und Absatzzahlen für das eigene Selbstverständnis. Doch auch so manche Aussage auf Vorstandsebene ließ tief blicken, wie es um das Wissen der eigenen Macht bestellt war. Der ehemalige VW-Chef Martin Winterkorn sagte 2014, dass Volkswagen dank 40.000 Forscher und Entwickler einen Wissensvorsprung habe, den man nicht mehr hergebe. Adressiert an die damals noch banal klein wirkende Konkurrenz von Tesla sagte er: „Wir lassen uns die Butter nicht vom Brot nehmen.“
Volkswagen in der Krise: Werke werden wohl geschlossen, Stellen abgebaut
Spätestens heute, zehn Jahre später, wird angesichts der Ankündigungen von Stellenabbau, Werkschließungen und Lohnkürzungen bei Volkswagen klar: Nicht nur das Zitat von Winterkorn ist schlecht gealtert. Überhaupt steckt der VW-Konzern, einst tatsächlich die deutsche Vorzeigefirma schlechthin, in einer der größten Krisen seiner Geschichte.
Die Ursachen dafür sind vielfältig, spiegeln sich aber wohl am deutlichsten in dem Verlust der eigenen Markthoheit und dem hohen Preisdruck wider. Entgegen Winterkorns Behauptung hat sich VW tatsächlich die „Butter vom Brot“ nehmen lassen – und sich im ersten Schritt vom US-amerikanischen Tesla überholen lassen. Aus technologischer Sicht hat VW das Potenzial und die Pionierarbeit des Konkurrenten aus den USA lange Zeit unterschätzt. Während die Wolfsburger noch von Entwicklung sprachen, kreuzten bereits verlässliche E-Autos des Unternehmens von Elon Musk über die Straßen weltweit.
Top-Ökonom Fratzscher: „VW ist Opfer des eigenen Erfolgs“ – und hat neue Technologie verschlafen
„VW ist sozusagen Opfer des eigenen Erfolgs. Sie sind bei neuen Technologien wie der Elektromobilität viel zu langsam gewesen“, resümiert Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaft in Berlin, gegenüber Phoenix.
Mittlerweile genießt die US-Marke jene Strahlkraft, die VW in Teilen im Segment der Verbrenner-Motoren jahrelang innehatte. Auch, weil Musk in den vergangenen zehn Jahren zu einer weltweiten Ikone der Branche (und darüber hinaus) aufgestiegen ist. Auf der anderen Seite ramponierte VW mit dem Dieselskandal speziell in den USA sein Image – und kostete den Konzern insgesamt rund 32 Milliarden Euro für Strafen, Prozesskosten und Entschädigungen. „Das hat der Glaubwürdigkeit von VW massiv geschadet“, meint auch Fratzscher.
Im zweiten Schritt zogen auch chinesische Hersteller von E-Autos im Eiltempo an Volkswagen vorbei – mit doppelt bitteren Folgen. Auf dem europäischen Markt verkauft VW inzwischen 500.000 Autos weniger als vor der Coronapandemie. Auch aufgrund der Technologie-Stärke von Firmen wie BYD, die mit ihren günstigeren E-Modellen auf den weltweiten Markt drängen.
VW-Desaster auf dem Absatzmarkt in China: Elektroautos der Konkurrenz deutlich billiger
Doch besonders hart trifft VW die Dominanz dieser Hersteller in ihrem Heimatmarkt in China, dem größten Absatzmarkt für E-Autos. Seit 2020 hat VW hier ein Auftragsvolumen von mehr als 931.000 Einheiten verloren. „Die Entscheidung gegen den Verbrennungsmotor und für die Batterietechnik ist seit langem gefallen und wurde und wird nicht in Deutschland getroffen, sondern weltweit und insbesondere in den großen Märkten wie China und den USA“, so das Urteil von Fratzscher.
Aus heutiger Sicht hat VW einen weiteren strategischen Fehler gemacht und den Preisdruck der Konkurrenz zu spät durchschaut: Die billigsten Modelle für E-Autos sind auf dem chinesischen Markt für unter 14.000 Euro zu bekommen, in Europa für unter 30.000 Euro. Preise, mit denen die teure ID-Reihe nicht mithalten kann – Kunden müssen hier mindestens 36.900 Euro investieren. Zum Vergleich: Der billigste Verbrenner aus dem Hause Volkswagen liegt bei rund 21.500 Euro. Selbst die europäische Konkurrenz von Stellantis hat mit dem C3 Anfang 2024 ein E-Auto herausgebracht, das bei 23.290 Euro liegt.
VW erst 2025 mit Elektroauto für unter 25.000 Euro am Markt – Enorme Personal- und Produktionskosten
VW will, oder eher, kann erst im Jahr 2025 nachziehen. Somit darf auch das oft bemühte Argument, dass Chinas Firmen für ihren Aufstieg von milliardenschweren Subventionen des Staates profitiert haben, nicht als alleinige Ausrede gelten. Auf der anderen Seite steht auch die deutsche Politik am Pranger: Ende 2023 hatte die Ampel die Umweltprämie früher als versprochen gestrichen. Dadurch wirkten die VW-Autos erst recht wie Luxusmodelle, die sich nur die obere Mittelschicht leisten konnte. Doch lässt sich die aktuelle Krise bei VW wohl kaum an den rund zehn Monaten festmachen, in denen die Prämie nun nicht mehr gilt.
Vielmehr spielen laut Experten die hohen Personal- und Produktionskosten eine entscheidende Rolle: „Volkswagen zahlt überdurchschnittliche Gehälter, dabei ist man anders als die Premiumhersteller wie BMW und Mercedes bereits in den günstigeren Marktsegmenten unterwegs, und das wird noch zunehmen“, erklärt Helena Wisbert, Direktorin des CAR - Center Automotive Research in Duisburg, gegenüber tagesschau.de.
VW-Konzernchef Blume mit Millionenboni als schlechtes Vorbild? Mitarbeiter klagen gegen Sparmaßnahmen
Als die Konzernspitze um Oliver Blume im Zuge der Sparmaßnahmen seinen leitenden Angestellten eine Gehaltserhöhung und 1.000 Euro Prämie streichen wollte, wehrten sich rund 120 Mitarbeiter gerichtlich gegen den Schritt. Wohl auch deswegen, weil der eigene Chef selbst mit Boni sein Gehalt auf rund 10,3 Millionen pro Jahr aufstockt.
Doch auch von Seiten der Gewerkschaften nimmt der Druck zu. Die IG Metall fordert etwa sieben Prozent mehr Lohn für die Belegschaft an den zehn Produktionsstandorten in Deutschland – für Fratzscher nicht umsetzbar: „Die Gewerkschaften müssen den Widerspruch auch sehen: Sie können nicht alles so beibehalten wollen und zusätzlich noch sieben Prozent mehr Lohn fordern.“ Alle Parteien müssten sich bewegen, um langfristig 85 Prozent der Arbeitsplätze zu sichern. „Leider gehören Beschäftigungsabbau und Werkschließungen dazu, um Kosten einzusparen.“
Die Produktionskosten von Volkswagen in Deutschland sind europäisches Spitzenniveau. Weder in Portugal, Polen noch Spanien ist die Fertigung eines Autos derart teuer – von Osteuropa ganz zu schweigen.
VW-Markenchef Schäfer: „Deutsche Werke doppelt so teuer wie der Wettbewerb“
Hinzu kommt laut VW-Markenchef Thomas Schäfer die geringe Produktivität an deutschen Standorten. „Wir liegen aktuell bei den Fabrikkosten 25 bis 50 Prozent über dem, was wir uns vorgenommen haben. Damit sind einzelne deutsche Werke doppelt so teuer wie der Wettbewerb.“ Bis 2026 wolle man die Umsatzrendite der Kernmarke VW Pkw auf 6,5 Prozent steigern, erklärte er in einer Pressemitteilung. Andernfalls seien notwendige Investitionen nicht zu finanzieren. Laut Wisbert kein leichtes Unterfangen: VW müsse Milliarden investieren in Zukunftstechnologien, Elektrifizierung und Digitalisierung der Autos.
Für Betriebsratschefin Daniela Cavallo ist der Schuldige für diese Entwicklung klar: „Volkswagen krankt eben genau nicht an seinen deutschen Standorten und an den deutschen Personalkosten. Sondern Volkswagen krankt daran, dass der Vorstand seinen Job nicht macht“, hatte sie Anfang September erklärt. Die Mängelliste reiche vom Einstreichen des Angebots bis hin zu verschobenen Projekten. Damit prangert sie indirekt auch die Arbeit von Herbert Diess an, der als Vorstandsvorsitzender die Geschicke des Konzerns in den entscheidenden Jahren zwischen 2018 und 2022 geleitet hat. Dabei hatte der heute 66-Jährige zum Amtsantritt eine Prognose abgegeben, die durchaus zurückhaltend ausfiel: „Aus heutiger Sicht stehen die Chancen vielleicht bei 50:50, dass die deutsche Automobilindustrie in 10 Jahren noch Weltspitze ist.“
Volkswagen braucht einen neuen „Golf-Moment“ – doch die Märkte sind umkämpft und Wirtschaft schwach
Stand heute ist die Einschätzung sogar noch zu optimistisch, wenngleich VW für 2024 noch immer mit einem Umsatz von 320 Milliarden Euro sowie einem Gewinn von 18 Milliarden Euro rechnet. So sind die Vorzeichen anders als während der letzten großen Krise 1970: Damals lief der Käfer aus und die Bilanzen von Volkswagen verzeichneten tiefrote Zahlen. Von 130.000 Mitarbeitern wurden 40.000 entlassen. Erst durch den Produktionsstart des Golfs fand VW wieder zurück in die Erfolgsspur, die dann fast 50 Jahre anhielt. Doch damals war China noch ein schwaches Entwicklungsland, der europäische Markt noch nicht so übersättigt und Deutschland arbeitete gerade am blühenden Wirtschaftswunder. Drei Dinge, die zumindest für 2024 nicht mehr gelten.
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