Folgen für das Konsumklima
Sozialversicherung: Experten befürchten „Beitrags-Tsunami“ bis 2035
- VonMark Simon Wolfschließen
Ökonomen monieren Reformstau im Gesundheitswesen und rechnen mit drastischem Anstieg der Sozialabgaben – und Auswirkungen auf das deutsche Konsumklima.
Berlin – Die Warnungen der Experten sind eindeutig: Ohne grundlegende Reformen könnten die Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland bis 2035 von derzeit rund 42 auf bis zu 53 Prozent des Bruttolohns steigen. Laut dem Berliner Forschungsinstitut IGES betrifft der erwartete Anstieg alle Zweige der Sozialversicherung: Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung werden künftig sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer stärker belasten.
Beitragsschock bis 2035? Sozialabgaben könnten auf bis zu 53 Prozent des Bruttolohns steigen
„Ich erwarte, dass die Krankenkassenbeiträge ohne Reformen in den kommenden zwei Jahren jeweils um rund 0,2 Beitragssatzpunkte steigen“, sagte der Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Durchschnittsverdiener müssen 2025 mit einem Anstieg der Krankenkassenbeiträge um 255 Euro rechnen. Aufgrund steigender Kosten im Gesundheitssystem liegt der durchschnittliche Zusatzbeitrag inzwischen bei 2,9 Prozent – ein neuer Höchststand. Im umlagefinanzierten System der gesetzlichen Krankenversicherung stehen steigenden Ausgaben – etwa durch höhere Löhne, teurere Behandlungen und eine alternde Bevölkerung – stagnierende Einnahmen gegenüber. „Ohne weitere Maßnahmen werden diese Belastungen zunehmen”, sagte Martin Albrecht, Geschäftsführer des Berliner Forschungsinstitut IGES, der dpa.
Bereits im Zuge der Bundestagswahl forderten Ökonomen und Gesundheitsexperten grundlegende Reformen – etwa eine Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung, ein höheres Renteneintrittsalter oder eine breitere Finanzierungsbasis.
Ökonomen zerlegen Koalitionsvertrag: Teure Versprechen statt wirksamer Reformen
Die Maßnahmen im aktuellen Koalitionsvertrag von Union und SPD reichen laut dem Ökonomen Marcel Fratzscher nicht aus: „Der Koalitionsvertrag verschärft das Problem: Anstelle von Vorschlägen zu einer Begrenzung des künftigen Beitragsanstiegs gibt es hier teure Versprechungen wie beispielsweise ein stabiles Rentenniveau und eine ausgeweitete Mütterrente“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gegenüber der dpa. Auch DAK-Chef Andreas Storm warnte in der Augsburger Allgemeinen vor einem „Beitrags-Tsunami“. Dem stimmte auch Nicolas Ziebarth, Wissenschaftler am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), zu und betonte, die Sozialabgaben würden künftig „ungebremst steigen“
Fratzscher warnt zudem vor den Folgen höherer Sozialabgaben für das Konsumklima in Deutschland. Durch die US-Strafzölle von Donald Trump sowie die wirtschaftlichen Konsequenzen aus dem Ukraine-Krieg erwarte Deutschland auch im dritten Jahr hintereinander eine „Rezession mit schrumpfender Wirtschaftsleistung“ – in dieser kritischen Lage sei privater Konsum umso wichtiger.
Kritik aus allen Richtungen – Regierung plant erst für 2027, Experten fordern Sofortmaßnahmen
Doch die hohen Sozialausgaben würden die Kauflust der Menschen dämpfen und somit auch eine „nachhaltige konjunkturelle Erholung“. Storm sprach von einer „Zumutung für versicherte Beschäftigte, Rentner und Arbeitgeber“ – und von einem „Gift für die Konjunktur“. Jochen Pimpertz, Steuer- und Sozialexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW), kritisiert vor allem die Vorgehensweise der neuen Regierung. Es fehle ein „klarer Auftrag“, sodass die Reformen ohnehin „zu spät“ kommen. Union und SPD wollen über eine Kommission bis Frühjahr 2027 Ergebnisse vorlegen, wie die finanzielle Schieflage in den gesetzlichen Krankenkassen gelöst werden könne.
Auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen hält dieses Vorgehen für fahrlässig. Vorstandschefin Doris Pfeiffer sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland: „Die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung, die 90 Prozent der Bevölkerung versichert und versorgt, ist so schlecht, dass sofortiges Handeln notwendig ist.“ Sie fordert die neue Regierung dazu auf, noch vor der Sommerpause mit einem sogenannten Vorschaltgesetz die Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen einzudämmen.
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