Energieversorgung in Deutschland
Söder erhält für seinen Vorstoß zur Atomkraft Kritik: „Atomenergie ist energiewirtschaftlicher Wahnsinn“
- VonMark Simon Wolfschließen
Markus Söder plädiert für eine Rückkehr zur Atomkraft und stößt damit auf heftigen Widerstand von Betreibern von Kernkraftwerken und Fachleuten: „Eine rein politisch motivierte Gespensterdebatte“
Berlin/München – Dass Markus Söder mit seinen Meinungen gerne gegen den politischen Strom schwimmt, ist bekannt. Diese Eigenschaft hat Bayerns Ministerpräsident einmal mehr mit seinen Forderungen zur Wiederinbetriebnahme des Atomkraftwerks Isar 2 (KKI2) bei Landshut unter Beweis gestellt. Die Replik der Betreiberfirma von KKI2 war eindeutig: „Für uns gibt es kein Zurück mehr: Das Thema Wiederinbetriebnahme ist für uns damit definitiv vom Tisch“, ließ die Tochterfirma des Stromriesen E.ON mitteilen – und fasste damit die Meinung aller Marktteilnehmer zusammen. So hatte auch der EnBW-Vorstand Georg Stamatelopoulos unlängst erklärt: „Ein Atomkraftwerk ist keine Märklin-Eisenbahn, die man an- und ausschaltet und die dann immer funktioniert.“
Doch wie stehen Experten rund eineinhalb Jahren nach dem deutschen Atomausstieg zu einer Rückkehr zur Atomkraft?
International erhält Söder Zustimmung: Deutsche Rücknahme nur „logisch“ – Merz skeptisch
Auf internationaler Ebene wird Deutschlands Alleingang kritisch betrachtet. Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), erklärte etwa auf der Weltklimakonferenz in Baku, dass eine deutsche Rücknahme des Ausstiegs nur „logisch und rational“ sei. Immerhin sei er der Auffassung, dass eine Welt ohne Atomkraft für die Erde „eine sehr schlechte Idee“ sei. Auch Fatih Birol, Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), hält die Stilllegung der Kernkraftwerke für einen „strategischen Fehler“ – und plädiert für eine Wiederinbetriebnahme.
Diese hatte auch die Union bereits Anfang November für die am 13. April 2023 stillgelegten Atomkraftwerke Emsland (Betreiberfirma RWE), Neckarwestheim 2 (EnBW) und Isar 2 (E.ON) gefordert. CDU-Fraktionsvize Jens Spahn sprach von einem „Rückbau-Moratorium“. Auf der anderen Seite hatte der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz einen solchen Schritt zuletzt mit einem „großen Fragezeichen“ versehen.
Experte kritisiert Söder deutlich: Atomkraft-Forderung sei „Flickschusterei“ und schade Glaubwürdigkeit
Antonio Hurtado, Professor für Wasserstoff- und Kernenergietechnik an der TU Dresden, bezeichnet Forderungen wie die von Söder als „Flickschusterei“: Die Aussagen seien „nicht geeignet, mittel- und langfristiges Vertrauen sowie Glaubwürdigkeit herzustellen“. Gegenüber IPPEN.MEDIA fordert der Experte vielmehr, der Bund solle für eine wettbewerbsfähige Defossilisierung der Energiewirtschaft neue Wege und Kooperationen eingehen – auch in Bezug auf Kernkraft: „Im vergangenen Jahr wurde die Allianz zur Weiterentwicklung und Kommerzialisierung von Small Modular Reaktoren gegründet. Frankreich, Belgien, Schweden, Finnland, Ungarn gehören dazu. Hier muss Deutschland aktiv mitwirken“, mahnt Hurtado.
Denkbar seien künftig etwa neue kernenergetische Systeme, die „modular, flexibel und noch sicherer“ seien als Isar 2. Hier sei Technologieoffenheit gefragt.
Experten und Betreiber von Atomwerken einig: „Kernenergieausstieg über 20 Jahre lang geplant“
Auch Bruno Burger, Senior Scientist am Frauenhofer Institut für Solare Energiesysteme (ISE), hält wenig von einer Rückbesinnung auf die alten Atommeiler. „Wir haben den Kernenergieausstieg über 20 Jahre lang geplant und bis Ende 2021 auch 34 von 37 Reaktoren abgeschaltet, inklusive den Forschungsreaktoren, ohne dass es einen Aufschrei gab“, erklärte der Energieexperte gegenüber IPPEN.MEDIA. Das sähen auch die Betreiber so. Zustimmung erhält er von Prof. Dr. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW), die Söders Vorstoß als „rein politisch motiviert, nicht energiewirtschaftlich“ bewertet.
Die Rückkehr zur Atomkraft ist mit erheblichen praktischen Hindernissen verbunden: „Atomenergie ist energiewirtschaftlicher Wahnsinn, wir sollten das Kapitel endlich abschließen“, erklärt Kemfert und verweist auf die Kosten für die Instandhaltung und den Neubau der Atommeiler.
Hinzu kämen laut Burger, dass die Fachkräfte längst im Ruhestand oder in anderen Beschäftigungsverhältnissen seien, Genehmigungen für die drei Standorte fehlten und zudem das Atomgesetz geändert sowie die Rückbaugenehmigungen zurückgenommen werden müssten. „Beides würde Rechtsstreitigkeiten und langwierige Prozesse vor Gericht zur Folge haben.“
Wenig Effizienz: Erneuerbare Energien würden Atomkraft am Strommarkt „kannibalisieren“
Neben den rund zehnjährigen Sicherheitsprüfungen und den Generalüberholungen auf den aktuellen Stand der Technik würden die Erneuerbaren Energien die Kernenergie zudem buchstäblich „kannibalisieren“: So müssten die Atomkraftwerke ihre Leistung drosseln, wenn genügend Leistung aus den Erneuerbaren Energien vorhanden wäre. In der Merit-Order der Strombörsen werden diese vor der Kernenergie priorisiert. Und selbst wenn eine künftige Bundesregierung unter CDU-Führung ab Frühjahr 2025 eine Wiederinbetriebnahme umsetzen wolle, würde der Prozess länger als eine Legislaturperiode dauern. „Eine neue Bundesregierung könnte sie 2029 schon wieder stoppen bevor das erste Kernkraftwerk zurück am Netz ist“, resümiert Burger.
Wie kontrovers die Atomkraft in der Wissenschaft von Experten diskutiert wird, zeigte bereits die Debatte im November 2022. Damals hatte die Ampel den endgültigen Ausstieg auf den Weg gebracht und das Aus von Isar Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 besiegelt. Gerade im Hinblick auf den Ukraine-Krieg befürchteten verschiedene Experten in diesem Fall Versorgungsengpässe und explodierende Strompreise.
Experten-Prognosen sind eingetroffen: Deutschland ist auch ohne Atomkraft handlungsfähig
Eine Sorge, die sich laut Kemfert nicht bestätigt habe: „All unsere Prognosen sind genauso eingetreten: weder ist der Strompreis gestiegen, noch gab es Versorgungsengpässe und auch die Emissionen sind nicht gestiegen“, sagte die Expertin IPPEN.MEDIA. Die Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt des DIW ist Vize-Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen, der als Beratungsgremium für die die Bundesregierung fungiert.
Ein weiterer heiß diskutierter Aspekt war damals die Sicherheit der alten Meiler: Heinz Smital von Greenpeace hatte im Zuge des damaligen Ausstieg-Beschlusses der Bundesregierung im November 2022 vor einem „Salami-Betrieb“ der Kernkraftwerke gewarnt: Diese Art einen Reaktor zu betreiben, sei die „gefährlichste“, da sie nicht mehr „substanziell investiert, sondern improvisiert“ werde.
AKW in Betrieb nehmen? Physiker Waas sieht Sicherheit von Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 gewährleistet
Der Physiker Ulrich Waas, bis 2021 Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission, sah hingegen kein Problem in einem potenziellen Weiterbetrieb: Vielmehr seien die Reaktoren Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 auf dem aktuellen Stand der sicherheitstechnischen Anforderungen, sodass sie „ohne Abstriche“ weitergeführt werden könnten. Atomkraft könne als Brückentechnologie für den Übergang dienen. In puncto Versorgungssicherheit warb auch Dr. Anna Veronika Wendland, die Technikhistorikerin am Herder-Institut ist und zur Thematik der Reaktorsicherheit in Ost- und Westeuropa forscht, für einen Weiterbetrieb. Im Vergleich zur Kohle sei die Atomkraft das kleinere Risiko für Gesundheit, Umwelt und Klima, erklärte sie damals.
AKW wieder in Betrieb nehmen?
— Anna Vero Wendland (@VeroWendland) November 19, 2024
• am Brennstoff scheitert‘s nicht: der kann binnen 6 Monaten produziert werden, sagt Westinghouse.
• Ingenieure: jede Rückbau-Aktion ist prinzipiell reversibel - kostet halt. Rasches Rückbau-Moratorium würde helfen.➡️ https://t.co/8DiQUA0F4F
An ihrer Position hat sich seitdem scheinbar nichts verändert. Auf ihrem X-Account teilte die Expertin am Dienstag (19. November) den Vorstoß des US-Konzerns Westinghouse. Dieser hatte parallel zu den Söder-Forderungen erklärt, dass man die drei Atomkraftwerke innerhalb weniger Monate betriebsbereit machen könne. Die Brennstäbe seien in wenigen Monaten verfügbar.
Kemfert sieht die derzeitige Debatte allerdings wenig sinnvoll – und verweist auf den Kontext: „Die ganze Diskussion um die Atomenergie ist eine reine politisch motivierte Gespensterdebatte. Wir sind im Wahlkampf, daher wird die Atomenergie aus der Mottenkiste geholt.“
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