„Überhaupt kein Vergleich“

Von wegen Bürgergeld: Deutschland hat ganz anderes Sozialschmarotzer-Problem

  • Jana Stäbener
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Besonders hohe Verluste hat Deutschland nicht beim Bürgergeld, sondern in einem anderen Bereich, wie ein Steuerexperte warnt.

Update, 24. Juli 2025: Handwerkspräsident Jörg Dittrich hat eine Reform des Bürgergelds gefordert. „Es darf keine Wahlleistung sein. Die Menschen, die es brauchen, sollen es bekommen, aber es muss klar an die Bedürftigkeit geknüpft sein“, forderte er am 24. Juli von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Der hatte in den ersten Monaten seiner Amtszeit bereits immer wieder deutlich gemacht, beim Bürgergeld kürzen zu wollen. Im ARD-Sommerinterview etwa sagte er, es sei denkbar, bei den Mietkosten und der zugestandenen Wohnungsgröße zu sparen. Der Koalitionspartner SPD lehnte solche Sparvorschläge bisher ab, Kritik kam auch von Gewerkschaften und Sozialverbänden.

Originalmeldung, 14. März 2025: Nach erfolgreichen Sondierungsgesprächen von Union (CDU/CSU) und SPD ist klar: Sie wollen das Bürgergeld verändern. Darauf haben sie sich in ihren Sondierungsgesprächen schon geeinigt. Man wolle die Vermittlung in Arbeit „stärken“ und Menschen, die arbeiten können, schnellstmöglich in Arbeit vermitteln – auch, indem man ihnen Leistungen streicht. „Großangelegter Sozialleistungsmissbrauch, im Inland sowie durch im Ausland lebende Menschen, muss beendet werden“, steht im Sondierungspapier.

Das Vorurteil des faulen Bürgergeld-Empfängers, der den Sozialstaat beim Bürgergeld ausnutzt, hält sich hartnäckig. Diskussionen über solche „Sozialschmarotzer“ tauchen in der bundesdeutschen Geschichte immer wieder auf. Dass Menschen bei diesem Thema so viele Emotionen empfinden und immer wieder Fakten verdrehen, liege an der Komplexität, am Gerechtigkeitsgefühl und an menschlicher Abstiegsangst, erklären Soziologen dem BR.

Die Verluste durch Bürgergeldbetrug sind nicht mit denen durch Steuerhinterziehung vergleichbar, sagt ein Steuerexperte. (Symbolbild)

Bürgergeld-Diskussion: Mann erklärt, wer seiner Meinung nach die „tatsächlichen Sozialschmarotzer“ sind

Geht es in der Bürgergeld-Diskussion wirklich um „Sozialschmarotzer?“, fragt ein Mann auf Linkedin. „Es geht darum, davon abzulenken, wo man die tatsächlichen Sozialschmarotzer findet: viel weiter oben“, kommentiert der Unternehmensberater Jürgen Schöntauf. „Sozialschmarotzer“ seien die, die „jährlich 100 Milliarden an Steuern hinterziehen“ würden, findet er.

Durch Steuerhinterziehung verliert der Staat sogar über 200 Milliarden Euro Steuern im Jahr, sagt Florian Köbler BuzzFeed News Deutschland von IPPEN.MEDIA. Er ist der Bundesvorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft (DSTG). Damit kostet Steuerhinterziehung den Staat tatsächlich viel mehr als Bürgergeldbetrug. Der reine Leistungsmissbrauch beim Bürgergeld belief sich 2022 auf 272,5 Millionen Euro, wie die Bundesagentur für Arbeit dem MDR mitteilte.

Rund 70 Milliarden der hinterzogenen Steuern entfallen laut Köbler auf alltäglichen Betrug in bargeldintensiven Branchen oder falschen Angaben in Steuererklärungen. Rund 30 auf gezielte Steuervermeidung von Unternehmen zum Beispiel durch Umsatzsteuerkarusselle (erklärt im Video unten) und 100 auf aggressive Steuergestaltung von Unternehmen, die zum Beispiel im Ausland Briefkastenfirmen haben.

„Kriminelle nehmen den Staat auf allen Ebenen aus“, warnt Köbler. Das gelte beim Bürgergeld und beim Thema Steuern. „Wir müssen das Vertrauen in den Staat zurückbringen und dafür brauchen wir Gerechtigkeit bei Steuern und bei Sozialhilfe“, sagt er zu den Plänen der CDU/CSU und SPD, „härter“ gegen Bürgergeldbetrug und illegale Beschäftigung und „Schwarzarbeit“ vorzugehen.

Steuerexperte: „Wir brauchen mehr KI in der Steuerfahndung“

Was im Sondierungspapier von Union und SPD nicht angesprochen wird, sind Pläne zur Bekämpfung von groß angelegter Steuerhinterziehung etwa durch Umsatzsteuerkarusselle oder Briefkastenfirmen. Köbler hofft, dass die neue Regierung sich dem Thema in den Koalitionsverhandlungen annehmen wird. „Wir brauchen mehr Künstliche Intelligenz (KI) in der Steuerfahndung. Händisch können wir Steuerhinterziehung nur rudimentär bekämpfen“, sagt er.

Außerdem sei wichtig, Personal bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung einzusetzen, anstatt es die Steuererklärungen von rund 18 Millionen Rentnern und 26 Millionen Arbeitnehmer überprüfen zu lassen. Vor allem, weil man in der Branche bis 2030 ein Drittel weniger Personal haben werde. „An unser hochkomplexes Steuerrecht muss die Politik als erstes ran“, sagt Köbler.

Er fordert, die Steuererklärung für die meisten abzuschaffen: „2028 sollte niemand mehr die Steuererklärung machen, der ausschließlich Arbeitnehmereinkünfte hat“, sagt er. Skandinavische Länder würden erfolgreich vormachen, wie sich Steuer-IDs mit Nachweisen über Steuervergünstigungen verknüpfen ließen, damit in Echtzeit die passende Einkommenssteuer einbehalten wird.

*Transparenzhinweis: In einer vorherigen Version haben wir statt von den skandinavischen Ländern von Italien als Beispiel für die automatische Steuererklärung gesprochen. Dabei handelte es sich um eine Verwechslung. Italien ist zwar Vorreiter bei der Steuerbetrugsbekämpfung, nicht bei der automatisch ausgefüllten Steuererklärung.

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