Verfehltes Sozialsystem

Job kündigen und stattdessen Bürgergeld beziehen: Experte erklärt, warum sich Arbeit oft nicht lohnt

  • Amy Walker
    VonAmy Walker
    schließen

Senkt das neue Bürgergeld die Anreize zum Arbeiten? Das wirft die CDU aktuell der Ampel vor. Ein Ökonom erklärt, was an der Debatte stimmt – und was nicht.

Berlin – Die Debatte um das Bürgergeld wird immer hitziger. Der Vorwurf: Mit der Einführung der neuen Sozialleistung lohne sich das Arbeiten für viele Menschen nicht mehr, es würden sogar manche Personen ihren Job kündigen, um stattdessen Bürgergeld zu beziehen und auf der Couch zu hocken. Ein Vorwurf, den Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) entschieden zurückweist: Wer so agiere, sei „bescheuert“, sagte er in der Sendung „Hart aber fair“.

Das Thema polarisiert, dabei gibt es laut dem Ökonomen Andreas Peichl vom Ifo-Institut schon Probleme mit dem Sozialsystem, über die es zu sprechen lohne. Im Interview mit dem Spiegel sagt er aber auch ganz klar, dass das Problem nicht plötzlich mit dem neuen Bürgergeld aufgetaucht ist: „Das Problem ist historisch gewachsen und besteht seit mindestens 40 Jahren.“ Und er erklärt auch, warum sich mehr Arbeiten für viele Menschen tatsächlich nicht lohnt – und wie man das ändern könnte.

Bürgergeld, Wohngeld, Kindergrundsicherung: Systeme passen nicht zueinander

„Das Problem ist weniger das Bürgergeld als die Erhöhung des Wohngelds im vergangenen Jahr“, sagt Andreas Peichl im Interview mit dem Magazin. „Diese Anhebung hat zu relativ großen Bereichen geführt, in denen sich mehr Arbeit weniger lohnt“, so seine Einschätzung. Das habe damit zu tun, dass unser Sozialsystem extrem kompliziert und unstimmig ist: Es gebe hunderte verschiedene Maßnahmen, die alle nicht aufeinander abgestimmt sind und noch dazu in unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche fallen.

So gibt es im Grunde zwei Grundsicherungssysteme, die parallel laufen: das Bürgergeld (vorher Hartz IV) und daneben die Systeme Wohngeld und Kindergrundsicherung (vorher Kindergeld und Kinderzuschlag). Die beiden Systeme bauen aber nicht stimmig aufeinander auf, obwohl sie das vermutlich sollten. Andreas Peichl erklärt das im Spiegel wie folgt:

Andreas Peichl ist Leiter des Zentrums für Makroökonomik und Befragungen am Ifo-Institut

„Wer bestimmte Einkommensgrenzen überschreitet, wechselt aus dem einen System in das andere: Der Anspruch auf Bürgergeld fällt weg, dafür gibt es Wohngeld. Bei beiden Leistungen unterscheidet sich aber zum Beispiel die Definition des anrechenbaren Einkommens. Das führt schon zu Sprungstellen, also Punkten, bei denen zusätzliches Einkommen mit einem Schlag sehr stark belastet wird.“

Arbeit lohnt sich – mehr Arbeit lohnt sich aber nicht

Das Problem ist also nicht, dass sich Arbeit nicht lohnt – sondern dass sich mehr zu arbeiten nicht lohnt. Es ist ein ständiges Rechenspiel für die Betroffenen: Arbeite ich nur so viel, dass ich weiterhin Bürgergeld beziehen kann? Wie viel mehr müsste ich verdienen, damit sich der Wechsel zum Wohngeld noch lohnt? Für Personen im Niedriglohnsektor ist das alles sehr intransparent – und abschreckend. Und dem Arbeitsmarkt gehen dadurch viele Arbeitskräfte flöten, die aufgrund dieses Systems nicht mehr arbeiten wollen.

Das hat jüngst auch der Wissenschaftliche Beirat des Finanzministeriums - dem Andreas Peichl auch angehört – kritisiert. Dabei haben die Ökonomen gezeigt, dass abhängig vom Wohnort, Haushaltstyp, Anzahl der Kinder und Anzahl der Arbeitsstunden entscheiden kann, ob sich Arbeiten noch lohnt oder nicht. „Es gibt da Konstellationen, in denen von 2000 Euro brutto gerade einmal 20 Euro netto mehr bleiben“, so Peichl. Würde dieselbe Familie aber in einer anderen Stadt leben, dann würde sie plötzlich viel mehr netto haben. Ein rästelhaftes System.

Carsten Linnemann will Bürgergeldbezieher zur Arbeit zwingen – was nichts bringen würde

Leider weiß Andreas Peichl aus Erfahrung, dass das Problem unter anderem deshalb nicht angepackt wird, weil es von Politikern und Politikerinnen auch nicht verstanden wird. „Als wissenschaftliche Experten verbringen wir bei vielen Beratungsprojekten mit der Regierung den ersten Monat traditionell damit, erst mal den Status quo zu erklären“, sagt er im Spiegel-Interview. Das erklärt auch, warum 40 Jahre lang keine Regierung es geschafft hat, ein besser aufeinander aufgebautes System zu schaffen.

Daran würde also auch nicht CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann etwas ändern, wenn sein Vorschlag, Bürgergeldbeziehende zur Arbeit zu zwingen, eingebracht werden würde. „Das Konzept ist ja nicht neu. Vor zwei Jahrzehnten wurden die sogenannten Ein-Euro-Jobs eingeführt. So eine Maßnahme hört sich überzeugend an, wenn man das Gefühl hat, die Mehrheit der Arbeitslosen wolle gar nicht arbeiten. Das ist aber nicht die Lage am Arbeitsmarkt“, erklärt Peichl. Das Problem bestehe aber eher darin, dass die offenen Stellen auf dem Markt nicht zu den Profilen der Arbeitslosen passen. Und außerdem liegt das Problem seiner Ansicht nach nicht beim Bürgergeld, sondern beim Gesamtsystem.

Rubriklistenbild: © Jürgen Heinrich/Imago

Mehr zum Thema