Lohnt sich Arbeit noch?
„Fakten, bitte!“: Ökonom ärgert sich über Bürgergeld-Debatte – und erklärt die wahren Statistiken
- VonBettina Menzelschließen
Wie die Bürgergeld-Debatte zeigt, greifen einfache Lösungen in einer komplexen Welt oft zu kurz. Eine Umfrage in der Reinigungsbranche sorgte für Aufsehen, doch die Wissenschaft hält dagegen.
Berlin – Wer geht noch arbeiten, wenn die soziale Grundsicherung fast so hoch ist wie der Lohn? In der Debatte um das Bürgergeld ist das ein beliebtes Argument, zusätzlich befeuert von einer aktuellen Umfrage des Gebäudereiniger-Verbandes BIV unter Reinigungsfirmen. Demnach sei die Sorge der Unternehmen groß, dass die Grundsicherung zunehmend in Konkurrenz zum Lohnerwerb treten könnte. Kritik zu der Befragung kam aus der Wissenschaft, denn ein Blick in die Statistiken zeigt: Der deutsche Arbeitsmarkt hat andere Probleme.
Bürgergeld-Statistik: „Flucht aus Beschäftigung sieht anders aus“
Die Zeichen für Angestellte stehen gut: Der demografische Wandel in Deutschland und der Fachkräftemangel verschieben die Machtverhältnisse. Der Arbeitsmarkt ist heute ein Arbeitnehmermarkt. Die Folge: In vielen Branchen zahlen Unternehmen höhere Löhne. Aufgrund der hohen Inflation muss auch die Grundsicherung für Arbeitslose steigen. Doch ist der Abstand zwischen Mindestlohn und Bürgergeld zu gering, würden kaum mehr Menschen gering bezahlte Jobs annehmen, so eine gängige Befürchtung. In diese Debatte um das Bürgergeld mischte sich daher die Theorie, Reinigungskräfte würden vermehrt kündigen und stattdessen auf das im Januar eingeführte Bürgergeld umsteigen. Dies würde die Personalknappheit in der Branche noch befeuern, mahnte der BIV.
Ein Blick in die Statistiken zeigt laut Experten jedoch, dass diese Theorie nicht haltbar ist. Nimmt man die Zugänge in die Grundsicherung aus der Reinigungsbranche genauer unter die Lupe, gibt es keine Ausschläge seit der Einführung des Bürgergelds. Im Gegenteil: Es sei „überhaupt keine Änderung ersichtlich, der leichte Abwärtstrend setzt sich fort“, argumentierte der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber in einem Beitrag im Karrierenetzwerk LinkedIn. In Einzelfällen gäbe es womöglich eine absichtliche Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen, aber „eine Flucht aus Beschäftigung sieht anders aus“, so der Wissenschaftler.
Das sind die wahren Probleme des deutschen Arbeitsmarktes
Dennoch ist nicht alles rosig auf dem Arbeitsmarkt. Tatsächlich gibt es zahlreiche Probleme, das Bürgergeld ist allerdings keines davon. Deutschland brauche 1,5 Millionen Zuwanderer pro Jahr, um den Fachkräftemangel auszugleichen, sagte die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen in Deutschland, Monika Schnitzer im Juli. Zudem seien die Jobchancen in Deutschland gesunken, mahnt der Arbeitsmarktexperte Weber. Das sei aber nicht dem Bürgergeld zu verschulden, sondern Corona. Die Chancen von Arbeitslosen, einen neuen Job zu finden, sei heute so niedrig wie in Lockdown-Zeiten. Dabei verweist der Professor auf eine Statistik, die den saisonbereinigten Anteil der Arbeitslosen zeigt.
Natürlich sei es theoretisch möglich, dass die Jobchancen im laufenden Jahr ohne Bürgergeldeinführung gestiegen wären, räumt Weber ein, ergänzt aber: „Inmitten eines hartnäckigen Wirtschaftsabschwungs darf das aber als hinreichend unplausibel gelten.“ Man sehe durchaus eine Verfestigung der Arbeitslosigkeit, vor allem bei Menschen ohne Berufsabschluss. Eine Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit ergab, dass in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen seit fünf Jahren oder länger Bürgergeld beziehungsweise Hartz IV beziehen. Das entspricht 41 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten – und betrifft damit fast die Hälfte aller Arbeitslosen.
Lösungsansätze gegen dauerhafte Arbeitslosigkeit: Qualifizierung der Arbeitskräfte
Tatsächlich gebe es wissenschaftliche Erkenntnisse, dass höhere und länger gezahlte Leistungen Arbeitslosigkeit verlängern, erklärt der Forscher Enzo Weber in einem Beitrag im Spiegel. Langzeitarbeitslosigkeit könne zur Folge haben, dass Arbeitserfahrung veralte, was sich auf die Motivation auswirke und ein Stigma entstehen lasse. Das Problem sei die Niedriglohnbranche. Die Hartz-Reformen hätten diese Sparte wachsen lassen, erklärt Enzo unter Verweise auf eine wissenschaftliche Studie. Zudem rutsche Deutschland seit drei Jahren von einer Krise in die nächste.
Eine „engagierte Politik für Qualifizierung“ sei die Lösung der strukturellen Probleme auf dem Arbeitsmarkt, so Weber. „Individuelle Betreuung und Vermittlung, mit den nötigen Kapazitäten. Bürgergeld und weitere Sozialleistungen wie Wohngeld und Kinderzuschlag oder Kindergrundsicherung gut aufeinander abstimmen, sowohl was Anreize als auch Verwaltung angeht“, lauten die weiteren Empfehlungen des Forschers. Denn auch das belegen die Daten: Die Arbeitslosigkeit von Qualifizierten liegt niedriger als vor Corona, während die von Menschen ohne Berufsabschluss höher ist.
Wirtschaftsstandort Deutschland: Wachstum nur mit Qualität statt Quantität
Die Wiedereingliederung von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt ist demnach entscheidend für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Doch genau hier setzen die jüngsten Haushaltskürzungen der Ampel-Regierung an – aus Sicht des Wirtschaftswissenschaftlers kontraproduktiv. Denn der deutsche Staat könne mit Eingliederungsmaßnahmen sogar Geld sparen. „Im Jahr 2021 lagen die fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit, einschließlich entgangener Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, bei 68 Milliarden Euro. Das heißt, wer Hunderte Millionen investiert, kann Milliarden gewinnen“, meint Enzo Weber.
Auch das Wachstum der deutschen Wirtschaft hängt von einer positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ab. Entweder Deutschland wachse künftig mehr „über Qualität statt Quantität“ oder es werde „wirtschaftlich gar nicht mehr wachsen“, resümiert der Forscher im Spiegel-Beitrag. Auf die künftige Entwicklung der Bundesrepublik als Wirtschaftsstandort könnte auch ein geplantes Handelsabkommen mit den USA einen Einfluss haben.
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