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Frankreich vor den Neuwahlen: Was hat sich Macron bloß dabei gedacht?

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Nach dem Sieg der rechten Partei von Le Pen verordnet Macron Neuwahlen. Wegen mehreren Gründen ist die Strategie gewagt. Das könnte passieren.

  • Die rechtsnationale Partei „Rassemblement National“ von Marine Le Pen und Jordan Bardella schockierte bei der Europawahl mit hohen Ergebnissen, besonders im Vergleich mit Emmanuel Macrons Regierungspartei „Renaissance“.
  • Die Entscheidung des Präsidenten Macron zu Neuwahlen wird als verrückt oder als Glückspiel verstanden. Dahinter steckt eine gewagte Strategie, in der viel schief gehen kann.
  • Historische Beispiele wie die Kohabitation unter dem ehemaligen Präsidenten François Mitterrand passen nur zum Teil: Macrons Partei ist so unbeliebt wie noch nie.
  • Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 12. Juni 2024 das Magazin Foreign Policy.

Paris – Zwei seismische Ereignisse haben Frankreich am vergangenen Sonntag erschüttert. Die Politiker sind erst jetzt dabei, sich aus den Trümmern zu befreien und sich einen Reim auf ihre aus den Fugen geratene Welt zu machen. Das erste Beben ereignete sich kurz nach Schließung der Wahllokale in Frankreich für die Wahlen zum Europäischen Parlament.

Fast sofort wurde die Wahlliste der rechtsextremen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen als Siegerin prognostiziert. Das war natürlich keine Überraschung. Wochenlang hatten Meinungsforscher berichtet, dass die von Jordan Bardella angeführte RN-Liste bei über 30 Prozent lag und damit die von Valérie Hayer angeführte Renaissance-Liste der Regierung mehr als verdoppelte.

Le Pens Rassemblement National könnte von Macrons Neuwahlen massivst profitieren.

Rassemblement National schockiert mit Ergebnissen bei Europawahl – Zugewinne in allen Regionen

Als die Zahlen eintrafen, wurde der Schock noch größer. Die RN hatte bereits bei früheren Europawahlen die Mehrheitsparteien geschlagen, doch diesmal betrug der Vorsprung fast 17 Prozentpunkte. Darüber hinaus gewann die Partei in allen Regionen, auch in republikanischen Hochburgen wie der Bretagne und der Île-de-France – wenn auch nicht in der größten Stadt des Landes, in Paris –, und konnte in Bevölkerungsgruppen Fuß fassen, die sie zuvor nicht erreicht hatte, darunter Wähler über 65 Jahre sowie Menschen mit Hochschul- und Berufsabschluss.

Dann kam das Nachbeben. Weniger als eine Stunde nach Bekanntgabe der Ergebnisse verkündete Präsident Emmanuel Macron die Auflösung der Nationalversammlung und die Anberaumung neuer Parlamentswahlen. Diese Ankündigung brachte nicht nur alle seine Gegner auf die Palme, sondern auch viele der führenden Köpfe seiner eigenen Partei.

„Angesichts der Stärke der RN“, so ein Kabinettsmitglied einige Wochen zuvor, „kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass der Präsident die Versammlung auflöst.“ Selbst Macron konnte seine Entscheidung offenbar nicht vorhersehen, da er noch im letzten Monat darauf bestand, dass die EU-Wahl nur politische Konsequenzen für Europa, nicht aber für Frankreich habe.

Glücksspiel oder Verrücktheit? Die Diagnosen für Macrons Entscheidung zu Neuwahlen

Politische Akteure und Kommentatoren haben Macrons Entscheidung – die er vor seiner Ankündigung mit einer kleinen Gruppe enger Berater besprochen hat, von denen einige, darunter Premierminister Gabriel Attal, versucht haben sollen, ihn davon abzubringen – wiederholt als Glücksspiel bezeichnet. Weniger schmeichelhaft ist, dass andere es als die Tat eines pyromanischen Feuerwehrmanns abgetan haben, oder als jemanden, der Brände legt, um sie zu löschen. Wichtiger als eine Bezeichnung für die Entscheidung zu finden, ist es jedoch, einen Grund für sie zu finden. Es gibt mehrere mögliche Erklärungen.

Erstens: Ähnlich wie die Figur des Revolutionärs Georges Danton, der erklärte: „Kühnheit, mehr Kühnheit, für immer Kühnheit, und die Nation wird gerettet sein“, ist Macron stolz darauf, kühne Schritte zu unternehmen. Und zumindest anfangs hat die Absicht seiner Ankündigung, die anderen Parteien zu überrumpeln, funktioniert – mit Ausnahme der RN, die ironischerweise die Auflösung des Parlaments gefordert hatte und bereits Pläne schmiedete.

Nicht weniger entscheidend ist, dass er dies zu einem Zeitpunkt tat, zu dem es nicht nur eine, sondern mehrere linke Parteien gibt. Die Neue Ökologische und Soziale Volksunion, die linke Koalition, die sich vor den Parlamentswahlen 2022 zusammenfand, erwies sich als ebenso unübersichtlich wie ihr Name. Die Politik und die Persönlichkeit des Mannes, der die Koalition ins Leben gerufen hat, Jean-Luc Mélenchon von der linksextremen Partei La France Insoumise (LFI), haben die anderen Parteien, darunter die Sozialisten und die Grünen, bald entfremdet, was zur Implosion der Koalition führte.

Wandel in Europa: Die Geschichte der EU in Bildern

Karte der Europäische Union
Die Europäische Union ist eine wirtschaftliche und politische Vereinigung von 27 europäischen Ländern. Insgesamt leben etwa 450 Millionen Menschen im Gebiet der EU. Ursprünglich als Wirtschaftsverbund gegründet, hat sie sich zu einer Organisation entwickelt, die eine Vielzahl von Feldern abdeckt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist der europäische Binnenmarkt der größte gemeinsame Markt weltweit. Er ermöglicht die freie Bewegung der meisten Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen. © PantherMedia (Montage)
Römischen Verträge EU
Der Grundstein für die heutige EU wurde am 25. März 1957 gelegt. Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg unterzeichneten damals die Römischen Verträge. Für Deutschland setzten Kanzler Konrad Adenauer (links) und Walter Hallstein, der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, ihre Unterschriften unter das Dokument. Damit waren die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) besiegelt. © dpa
Margaret Thatcher und François Mitterrand
Am 1. Januar 1973 traten Dänemark, die Republik Irland und das Vereinigte Königreich der EG bei. Einfach war das Verhältnis zwischen Großbritannien und Europa nie. Auch Premierministerin Margaret Thatcher (links) war keine Freundin Europas. Mit der Forderung „We want our money back“ setzte die Eiserne Lady 1984 beim Gipfel in Fontainebleau einen Rabatt bei den Zahlungen Großbritanniens in die Gemeinschaftskasse durch. Verhandlungspartner wie der französische Präsident François Mitterrand (rechts) waren machtlos. © Daniel Janin, Gabriel Duval/afp
Militärjunta in Griechenland
Zum 1. Januar 1981 trat Griechenland der Europäischen Gemeinschaft bei. Die Aufnahme des Landes war heftig umstritten. Europa befürchtete, sich einen unangenehmen Partner ins Nest zu holen. So sorgte zum einen das konfliktreiche Verhältnis Griechenlands zur Türkei für Unbehagen. Noch schwerer wog die Diktatur der rechtsextremen Militärjunta, die erst im Juli 1974 zu Ende gegangen war. Ein interner Machtwechsel am 25. November 1973, als Panzer im Athener Zentrum auffuhren (im Bild), konnte den Wandel nicht mehr aufhalten. © Imago
Von wegen grenzenlos - Ärger in Schengen über Grenzkontrollen
1985 unterzeichneten Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten das „Schengener Abkommen“ über den schrittweisen Abbau der Personenkontrollen an ihren gemeinsamen Grenzen. Die weitgehende Reisefreiheit erleichterte das Leben und Arbeiten in anderen europäischen Ländern erheblich. Alle Bürgerinnen und Bürger der EU haben das Recht und die Freiheit, selbst zu entscheiden, in welchem EU-Land sie arbeiten, studieren oder ihren Ruhestand verbringen möchten.  © Harald Tittel/dpa
Franco und Juan Ćarlos
1986 nahm die EG zwei neue Mitglieder auf: Portugal und Spanien. Damit konnten beide Staaten ihre Isolation auf dem Kontinent beenden. Vor allem für Spanien war der Beitritt in die EG ein markanter Wendepunkt, um die Folgen der jahrzehntelangen Diktatur unter Francisco Franco (rechts) zu überwinden. Juan Carlos (links), der zwei Tage nach Francos Tod am 20. November 1975 zum König proklamiert worden war, spielte eine entscheidende Rolle bei der Überwindung der Diktatur. Bei der Aufnahme des Bildes im Jahr 1971 hatte er noch im Schatten Francos gestanden. © afp
Silvester 1989 am Brandenburger Tor
Eine Erweiterung im eigentlichen Sinne war es nicht. Doch als am 3. Oktober 1990 die Länder der DDR der Bundesrepublik Deutschland beitraten, wurde die EG automatisch um ein gutes Stück größer. Mit der Wiedervereinigung erstreckte sich das gesamte Gemeinschaftsrecht nun auch auf das Beitrittsgebiet. Mit einer Bevölkerungszahl von mehr als 80 Millionen Menschen ist Deutschland seitdem der bevölkerungsreichste Mitgliedsstaat. © Wolfgang Kumm/dpa
Genscher und Waigel unterzeichnen Maastrichter Vertrag
Anfang der Neunziger war die Zeit reif für einen Wandel. Die Römischen Verträge hatten ausgedient. Am 7. Februar 1992 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der EU ein neues Vertragswerk. Für Deutschland unterzeichneten Außenminister Hans-Dietrich Genscher (links) und Finanzminister Theo Waigel (rechts) das Dokument. Der Vertrag von Maastricht zur Gründung der Europäischen Union trat am 1. November 1993 in Kraft. Mit dem EU-Vertrag entwickelte sich die europäische Gemeinschaft zu einer politischen Union. © dpa
Volksabstimmung zum EU-Beitritt in Norwegen 1994
1995 nahm die EU drei neue Länder auf. In Österreich, Schweden und Finnland hatten zuvor die Menschen in Volksentscheiden dem Beitritt zugestimmt. Auch Norwegen ließ das Volk in einem Referendum darüber abstimmen. Doch hier sah das Ergebnis anders aus. 52,2 Prozent der Wahlberechtigten in Norwegen votierten in einer Volksabstimmung gegen einen Beitritt.  © Berit Roald/Imago
Tschechien feiert EU-Beitritt
Neun Jahre später kam es zur ersten Osterweiterung. Am 1. Mai 2004 traten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und die Republik Zypern der EU bei. Die neuen EU-Länder feierten den Beitritt, in Prag (hier im Bild) und anderen Hauptstädten freuten sich die Menschen über eine Zukunft unter dem Dach der EU. Die Europäische Union setzte sich somit aus 25 Mitgliedstaaten zusammen. © Michal Svacek/afp
Rumänien - EU
Der zweite Teil der Osterweiterung ließ nicht lange auf sich warten. Am 25. April 2005 unterzeichneten Rumänien und Bulgarien den Beitrittsvertrag zur EU. Beide Länder wurden zum 1. Januar 2007 in die Europäische Union aufgenommen. Für die Menschen in Bukarest (hier im Bild) gab es also mehr als nur einen Grund, die Nacht zum Tage zu machen. Die Fläche der EU wuchs mit dieser Erweiterung auf etwas mehr als 4,3 Millionen Quadratkilometer.  © Robert Ghement/dpa
Kroatien wird EU-Mitglied
Schon im Juni 2004 war Kroatien der Status eines offiziellen Beitrittskandidaten verliehen worden. Doch die Verhandlungen verzögerten sich mehrmals, erst sieben Jahre später konnten sie erfolgreich abgeschlossen werden. Kurz danach stimmten 66,3 Prozent der Wahlberechtigten bei einem Referendum für den Beitritt in die EU. Am 1. Juli 2013 war schließlich der Zeitpunkt gekommen, um vor dem Europäischen Parlament in Straßburg die Flagge Kroatiens zu hissen. Die EU bestand damit aus 28 Mitgliedsstaaten. © Frederick Florin/afp
EU Parlament Straßburg
Jeder europäische Staat hat laut Artikel 49 des EU-Vertrags das Recht, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen. Wichtig dabei: „Europäisch“ wird politisch-kulturell verstanden und schließt die Mitglieder des Europarats mit ein. Das betrifft zum Beispiel die Republik Zypern. Eine wichtige Rolle spielt im Beitrittsverfahren das EU-Parlament in Straßburg (im Bild). Verschiedene Delegationen verfolgen die Fortschritte in den Beitrittsländern und weisen auf mögliche Probleme hin. Zudem müssen die Abgeordneten dem EU-Beitritt eines Landes im Parlament zustimmen. Derzeit gibt es neun Beitrittskandidaten und einen Bewerberstaat. © PantherMedia
Edi Rama Albanian EU
Albanien reichte 2009 den formellen EU-Mitgliedschaftsantrag ein – vier Jahre, bevor Edi Rama (im Bild) das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Es dauerte aber noch eine lange Zeit, bis die Verhandlungen beginnen konnten. Grund war ein Einspruch der Niederlande, die sich zusätzlich zu den EU-Kriterien auch die Sicherstellung der Funktion des Verfassungsgerichts und die Umsetzung eines Mediengesetzes wünschte. Im Juli 2022 konnte die Blockade beendet werden und die EU startete die Beitrittsverhandlungen. © John Thys/afp
Bosnien und Herzegowina EU
Auch Bosnien und Herzegowina drängt in die EU. Gut erkennen konnte man das zum Beispiel am Europatag 2021, als die Vijećnica in der Hauptstadt Sarajevo mit den Farben der Flaggen der Europäischen Union und Bosnien und Herzegowinas beleuchtet war. EU-Botschafter Johann Sattler nutzte sofort die Gelegenheit, um das alte Rathaus zu fotografieren. Vor den geplanten Beitrittsverhandlungen muss das Balkanland noch einige Reformen umsetzen. Dabei geht es unter anderem um Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen.  © Elvis Barukcic/afp
Georgien EU
Zum Kreis der EU-Beitrittskandidaten gehört auch das an Russland grenzende Georgien. Das Land, in dem rund 3,7 Millionen Menschen leben, hatte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs die Aufnahme in die EU beantragt. Auf schnelle Fortschritte im Beitrittsprozess kann Georgien allerdings nicht hoffen. Dabei spielt auch ein ungelöster Territorialkonflikt mit Russland eine Rolle. Nach einem Krieg 2008 erkannte Moskau die abtrünnigen georgischen Gebiete Südossetien (im Bild) und Abchasien als unabhängige Staaten an und stationierte Tausende Soldaten in der Region. © Dimitry Kostyukov/afp
Moldau EU
Seit Juni 2022 gehört auch Moldau offiziell zu den EU-Beitrittskandidaten. Das Land, das an Rumänien und die Ukraine grenzt, reichte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs das Beitrittsgesuch ein. Am 21. Mai 2023 demonstrierten 80.000 Menschen in der Hauptstadt Chișinău für einen Beitritt Moldaus in die Europäische Union. Die damalige Innenministerin Ana Revenco (Mitte) mischte sich damals ebenfalls unters Volk. © Elena Covalenco/afp
Montenegro EU
Das am kleine Balkanland Montenegro will beim EU-Beitritt zügig vorankommen. Direkt nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten Ende Oktober 2023 verkündete Milojko Spajic (im Bild), dass er den Beitritt Montenegros zur EU vorantreiben und die Justiz im Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen stärken wolle. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) hörte es damals sicher gerne. Montenegro verhandelt seit 2012 über einen Beitritt, hatte sich aber vor der Wahl nicht mehr ausgiebig um Reformen bemüht.  © Savo Prelevic/afp
Scholz Westbalkan-Gipfel Nordmazedonien EU
Nordmazedonien kämpft schon seit langer Zeit für den Beitritt in die EU. Leicht ist das nicht. So hat das kleine Land in Südosteuropa aufgrund eines Streits mit Griechenland sogar schon eine Namensänderung hinter sich. Seit 2019 firmiert der Binnenstaat amtlich unter dem Namen Republik Nordmazedonien. Auch Bulgarien blockierte lange den Beginn von Verhandlungen. Bei einem Gipfeltreffen im Oktober 2023 drängte Kanzler Olaf Scholz dann aber auf eine möglichst schnelle Aufnahme der Balkanstaaten in die EU. Nordmazedoniens Ministerpräsident Dimitar Kovacevski (rechts) war sichtlich erfreut. © Michael Kappeler/dpa
Serbien EU
Auch Serbien strebt in die EU. Wann es zu einem Beitritt kommt, scheint derzeit aber völlig offen. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat sich die serbische Regierung geweigert, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Damit ist Serbien der einzige Staat in Europa, der keine Sanktionen verhängt hat. Offen bleibt, welche Auswirkungen das auf die seit 2014 laufenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt Serbiens hat. Die politische Führung in Belgrad, die seit 2012 von Präsident Aleksandar Vučić (im Bild) dominiert wird, zeigt zudem wenig Willen zu Reformen. Demokratie und Medienpluralismus höhlt sie zunehmend aus. © Andrej Isakovic/afp
Türkei EU
Die Türkei ist bereits seit 1999 Beitrittskandidat. Die Verhandlungen selbst haben im Oktober 2005 begonnen. Inzwischen hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Beziehungen wieder auszubauen, sofern sich die Regierung in Ankara unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan (im Bild) in einigen Punkten bewegt. Zuvor waren Projekte wie die geplante Modernisierung der Zollunion und eine Visaliberalisierung wegen Rückschritten bei Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit in der Türkei auf Eis gelegt worden. Ein EU-Beitritt scheint aktuell weiter entfernt denn je. © Adem Altan/afp
Ukraine EU
Im Dezember 2023 wurde der Beginn von Verhandlungen mit der Ukraine grundsätzlich beschlossen. Allerdings muss die Ukraine sämtliche Reformauflagen erfüllen. So waren nach dem letzten Kommissionsbericht manche Reformen zur Korruptionsbekämpfung, zum Minderheitenschutz und zum Einfluss von Oligarchen im Land nicht vollständig umgesetzt. Ohnehin gilt es als ausgeschlossen, dass die Ukraine vor dem Ende des Ukraine-Kriegs EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew laut EU-Vertrag militärischen Beistand einfordern – und die EU wäre offiziell Kriegspartei. © Roman Pilipey/afp
Kosovo EU
Kosovo hat einen Mitgliedsantrag eingereicht, jedoch noch nicht den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Das Land hat 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Die Freude darüber war damals bei den Menschen riesengroß. Das Bild macht auch deutlich, dass vor allem Menschen albanischer Herkunft im Kosovo beheimatet sind. Die Flagge Albaniens (links) ist ebenso zu sehen wie die des neuen Landes (hinten). Mehr als 100 Länder, darunter auch Deutschland, erkennen den neuen Staat an. Russland, China, Serbien und einige EU-Staaten tun dies aber nicht. Ohne die Anerkennung durch alle EU-Länder ist eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aber nicht möglich.  © Dimitar Dilkoff/afp
Banksy-Kunstwerk zu EU und Brexit
Seit dem 31. Januar 2020 besteht die EU nur noch aus 27 Staaten. Nach 47 Jahren verließ das Vereinigte Königreich als erstes Mitgliedsland die Europäische Union. Im Juni 2016 hatte eine knappe Mehrheit in einem Referendum für den Abschied aus der EU gestimmt. Der britische Street-Art-Künstler Banksy kommentierte den Brexit auf seine Art. In der Hafenstadt Dover malte er eine riesige EU-Flagge an eine Hauswand – zusammen mit einem Handwerker, der einen der Sterne entfernt. © Glyn Kirk/afp
Friedensnobelpreis für EU.
2012 wurde die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Herman Van Rompuy, José Manuel Barroso und Martin Schulz (von links nach rechts) nahmen den Preis bei der Verleihung im Osloer Rathaus am 10. Dezember 2012 in Empfang. © Cornelius Poppe/afp

Linke Parteien Frankreichs gründeten Allianz für Neuwahlen

Doch Macrons Kühnheit hat nun auch die linken Parteien dazu veranlasst, kühn zu sein. Am Montagabend war es ihnen gelungen, ihre Differenzen zu überbrücken, anstatt sie zu vertiefen. (Dazu trug auch die Sozialistische Partei bei, die dank der Rolle des charismatischen Listenführers Raphaël Glucksmann bei den EU-Wahlen ein starkes Ergebnis erzielte.)

Unter Berufung auf den Namen der 1936 nach einem Putschversuch rechtsextremer Kräfte gebildeten Koalition linker Parteien kündigten die Führer der LFI, der Sozialisten, der Kommunisten und der Grünen (jetzt Ökologen genannt) die Gründung einer neuen Volksfront an, die die humanistischen, gewerkschaftlichen und bürgerlichen Bewegungen des Landes repräsentiert“. Sie kamen überein, in jedem Wahlkreis mit einem einzigen, gemeinsam vereinbarten Kandidaten gegen die Kandidaten der Rechten und der extremen Rechten anzutreten. Das Ziel, so erklärten sie in einem gemeinsamen Kommuniqué, sei es, „eine Alternative zu Emmanuel Macron aufzubauen und das rassistische Projekt der extremen Rechten zu bekämpfen“.

Allianz zwischen Rassemblement National und Les Républicains? Kritik an Republikaner-Chef Ciotti

Auf der rechten Seite könnte sich Macrons Schachzug jedoch ausgezahlt haben. Am Dienstagmorgen kündigte Éric Ciotti, der Vorsitzende der konservativen Les Républicains (LR), an, die Partei solle die Einladung der RN annehmen, sich ihnen anzuschließen. Seine Erklärung löste sofort einen Feuersturm der Empörung und Ratlosigkeit bei anderen Mitgliedern der traditionell Mitte-Rechts-Partei aus.

Sie widersprach nicht nur der Position der Partei, dass die Agenda der RN im Gegensatz zu ihren eigenen republikanischen Werten stehe, sondern auch Ciottis eigener Behauptung vom Januar, dass „tiefe ideologische Unterschiede“ bedeuteten, dass es niemals ein Bündnis zwischen den beiden Parteien geben könne.

Führende Stimmen in der LR stimmten am Mittwoch für die Absetzung Ciottis (der darauf bestand, Vorsitzender zu bleiben, und sich in der Parteizentrale einschloss, um seine Absetzung zu verhindern). In der Zwischenzeit rufen Stimmen sowohl aus Le Pens als auch aus Macrons Partei dazu auf, dass enttäuschte LR-Mitglieder zu ihren jeweiligen Parteien „auswandern“ sollen.

Macrons Wahlkampf half Le Pens Partei mit „Entdämonisierung“

Zweitens spiegelt Macrons Schritt die Wahlkampfstrategie wider, die er erstmals 2017 verfolgte: c‘est moi ou le chaos (Es ist: ich oder das Chaos). Wie er die Franzosen unablässig daran erinnert hat, wird das Chaos zum Teil von Le Pen und ihrer Partei verkörpert. Doch dieser Fokus hatte den perversen Effekt, dass er Le Pen half, die RN neu zu gestalten.

Seit 2011, als Le Pen den Front National faktisch von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen erbte, hat sie zielstrebig eine Strategie der „Entdämonisierung“ verfolgt. Sie hat die Partei von den Neonazis und Vichy-Apologeten gesäubert, die anfangs in ihren Reihen waren; sie hat sie von ihrem Namen befreit, indem sie sie in die freundlichere und sanftere Rassemblement National umgetauft hat; und sie hat sie von ihrem Vater befreit, der nicht aufhören konnte, darauf zu bestehen, dass der Holocaust nicht mehr als ein „Detail der Geschichte“ ist.

Le Pen ist es gelungen, eine Partei zu normalisieren, die nach wie vor zutiefst fremdenfeindlich, islamfeindlich, autoritär und illiberal ist, aber sie hat auch den politischen Diskurs in Frankreich so verändert, dass genau diese Eigenschaften als normal wahrgenommen werden.

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Krankheit oder Heilmittel? Macrons Neuwahlen sind eine gewagte Strategie für Frankreich

Doch Macrons Strategie birgt das Risiko, die Krankheit zu sein, für die sie vorgibt, das Heilmittel zu sein. Seit 2017 hat er die Zukunft Frankreichs konsequent als manichäischen Kampf zwischen den Mächten des Guten, dem Macronismus, und des Bösen, dem Lepenismus, dargestellt.

Doch in seinem Bemühen, konservative Wähler auf seine Seite zu ziehen, hat Macron wiederholt in den giftigen Gewässern des Lepenismus gewildert, zuletzt mit der erzwungenen Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes, das Ausländern bestimmte Sozialleistungen verweigert und ihren auf französischem Boden geborenen Kindern die automatische Staatsbürgerschaft verweigert. Entscheidend ist, dass beide Klauseln stillschweigend eine von Le Pens langjährigen einheimischen Forderungen – die sogenannte nationale Präferenz – in Kraft setzten.

Gleichzeitig hat er viele Linke verprellt, indem er Mélenchon, der mit seinen regelmäßigen Störmanövern zwar gegen parlamentarische Normen, nicht aber gegen republikanische Grundsätze verstoßen hat, in das gleiche autoritäre und antirepublikanische Lager wie die RN gestellt hat.

Strategischer Schachzug? Macron und Attal kämpften oft mit der Nationalversammlung Frankreichs

Drittens wurde Macrons Renaissance nach den Parlamentswahlen 2022 die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verwehrt, und die nachfolgenden Regierungen, zunächst unter Élisabeth Borne und dann unter Attal, hatten Mühe, Gesetze wie das Renten- und das Einwanderungsgesetz zu verabschieden. Infolgedessen haben sie sich wiederholt auf Artikel 49.3 berufen – eine Klausel, die es der Regierung erlaubt, Gesetze ohne Parlamentsabstimmung zu erlassen –, die zwar verfassungsgemäß ist, aber nur in Ausnahmefällen angewendet werden darf. Andernfalls wird, wie bei der Weltanschauung der RN, das Abweichende zur Norm.

Möglicherweise hat sich Macron für die Auflösung des Parlaments entschieden, weil er die parlamentarische Lähmung satt hatte. Wie der Politikwissenschaftler Bruno Cautrès feststellte, ist die Entscheidung, eine parlamentarische Versammlung aufzulösen, „alles andere als ein harmloser Akt in einer Demokratie“. Dies erklärt, warum er in Frankreich seit 1958 und der Gründung der Fünften Republik nur fünfmal angewendet wurde. Der denkwürdigste Fall war das Werk von Charles de Gaulle selbst.

Horrorszenario für Macron: Le Pens Rassemblement National bekommt gaullistisches Ergebnis

Im Mai 1968 war seine Präsidentschaft, vielleicht sogar die Republik, durch rebellierende Studenten und streikende Arbeiter bedroht, die Frankreich zum Stillstand gebracht hatten. In einer bemerkenswerten Rede an die Nation kündigte de Gaulle die Auflösung der Nationalversammlung an und verkündete, dass „die Republik nicht abdanken wird!“ (Es war der Premierminister Georges Pompidou – ebenfalls ein erfahrener Würfelspieler –, der einem zweifelhaften de Gaulle ein Ultimatum stellte: Entweder er rufe die Auflösung der Nationalversammlung aus oder er verliere seinen Premierminister.)

De Gaulle würfelte eine Elf: Die französischen Wähler gaben seiner Partei eine solide Mehrheit. Andere Präsidenten, die sich an der Wahl versucht haben, hatten jedoch weniger Glück. Als Jacques Chirac 1997 nach zwei Jahren seine Präsidentschaft antrat, überraschte auch er die Nation, indem er das Parlament auflöste und Neuwahlen ankündigte.

Sein Ziel, so sagte er, war es, „dem Volk seine Stimme zurückzugeben“, d. h. seine Position sowohl auf der rechten als auch auf der mittleren Seite zu stärken. Doch das Volk stellte sich hinter die linke Opposition und zwang einen enttäuschten Chirac, die Macht für den Rest seiner Amtszeit mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin zu teilen.

Parallelen zwischen US-Wahl und Neuwahlen in Frankreich: Hoffnung auf Wählerentscheidung

Genauso wie die Demokratische Partei vielleicht magisch davon ausgeht, dass die amerikanischen Wähler, obwohl sie sich größtenteils die Nase zuhalten, ihre Stimme für die Wiederwahl von Präsident Joe Biden abgeben werden, wenn die Franzosen am 30. Juni und am 7. Juli zu zwei Wahlgängen ins Wahllokal gehen, ist auch Macrons Lager von dieser Überzeugung überzeugt.

So erklärt sich seine strenge Warnung, dass die Franzosen durch die Abstimmung gezwungen sein werden, „ihre Verantwortung zu übernehmen“. Oder, wie die Renaissance-Abgeordnete Cécile Rilhac betonte, zwingt Macron die Wähler, eine Frage zu beantworten: „Sind Sie wirklich sicher, dass Sie unser Land von der Nationalversammlung regiert sehen wollen?“

Europawahlen für die Unzufriedenheit? Neuwahlen werden wirkliches Ergebnis in Frankreich zeigen

Rilhac mag Recht haben. In der Vergangenheit waren die Europawahlen in Frankreich (wie auch in anderen EU-Mitgliedstaaten) eher eine Gelegenheit, allgemeine Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, als eine tatsächliche Wahlabsicht. Wie die Politikwissenschaftlerin Nonna Mayer argumentiert, besteht die Funktion der Europawahlen, insbesondere in Frankreich, darin, eine „Sanktionsstimme“ abzugeben, die die Politiker auf den Plan ruft.

Außerdem gehen bei diesen Wahlen weniger Bürger an die Urnen als bei nationalen Wahlen. Da fast die Hälfte der französischen Bevölkerung am vergangenen Wochenende nicht zur Wahl gegangen ist, gibt es keine breite statistische oder verhaltensbezogene Grundlage für eine genaue Prognose der Parlamentswahlen.

Sollte die Frage von Rilhac bejaht werden, stellen sich andere drängende Fragen, nämlich die, ob die Ausübung der Macht dem RN eher schadet als nützt.

Nach Mitterrand nun mit Macron: Folgt die Kohabitation in Frankreich?

Macron könnte an der Aussicht auf einen Sieg der RN interessiert sein, in der Hoffnung, das zu wiederholen, was Präsident François Mitterrand von der Sozialistischen Partei während seiner ersten Amtszeit in den 1980er Jahren erreicht hat, als die gaullistische Opposition die Parlamentswahlen gewann – der erste, wenn auch nicht letzte Fall einer Kohabitation (wenn die Exekutive von einer Partei und die Legislative von einer anderen gehalten wird).

Damals präsentierte sich Mitterrand als republikanisches Gegengewicht zur konservativen Agenda, die sein damaliger Premierminister Chirac durchzusetzen versuchte. Dazu gehörten harte Gesetze gegen Einwanderer ohne Papiere, einschließlich der Aufhebung der automatischen französischen Staatsbürgerschaft für die auf französischem Boden geborenen Kinder dieser Einwanderer, sowie Pläne, die öffentlichen Universitäten selektiver und teurer zu machen. Als Hunderttausende von Studenten die Boulevards von Paris und anderen Städten aus Protest füllten, erklärte Mitterrand seine Unterstützung.

Die Regierung Chirac, die gezwungen war, das Gesetz zurückzuziehen, machte sich immer unbeliebter, so dass der 71-jährige Mitterrand bei den Präsidentschaftswahlen 1988 seinen ehemaligen Premierminister deutlich besiegte.

Macron ist unbeliebt – Neuwahlen inmitten der Vorbereitungen für die Olympischen Sommerspiele

Aber das war Mitterrand und damals, nicht Macron und heute. Macrons Politik und seine Person haben viele Wähler verprellt, vor allem jene aus der linken Mitte, die ihn einst unterstützten. Tatsächlich ist seine Unbeliebtheit so tief und so breit, dass einer Umfrage vom Mai zufolge fast 70 Prozent derjenigen, die bei der Europawahl ihre Stimme abgeben wollten, durch ihre Ablehnung von Macron motiviert waren; nur die katastrophalste Amtszeit der RN könnte diesen Trend umkehren.

Angesichts der Tendenz Macrons, seine Herrschaft als jupiterianisch zu bezeichnen, ist dies alles nicht überraschend, ebenso wenig wie ein Sieg der RN bei den Parlamentswahlen, ein Ereignis, zu dem Macron – sollte es eintreten – beigetragen hat.

Die Wahlen finden passenderweise zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich Frankreich auf die Olympischen Sommerspiele vorbereitet. Es besteht die Chance, dass die Athleten der Welt nicht nur vom französischen Präsidenten, der angeblich die universellen und humanistischen Werte des französischen Republikanismus verkörpert, begrüßt werden, sondern auch von einem ethno-nationalistischen Premierminister, den er maßgeblich an die Macht gebracht hat.

Die Spiele können beginnen.

Zum Autor

Robert Zaretsky ist Professor für Geschichte am Honors College der Universität Houston und Autor von Victories Never Last: Reading and Caregiving in a Time of Plague.

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Dieser Artikel war zuerst am 12. Juni 2024 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung.

Rubriklistenbild: © MIGUEL MEDINA, LUDOVIC MARIN / AFP