Kontroversen auch um Russland

Ärger über Melonis Postfaschist an der Seite von der Leyens – „Geiselnahme“ in der EU droht

  • Florian Naumann
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Die neue EU-Kommission ist ein fragiles Konstrukt. Ein Politiker aus Giorgia Melonis Partei könnte Vize werden – der Plan sorgt für Zündstoff.

Brüssel – Ein funktionierendes Bundeskabinett aufzustellen, ist keine leichte Aufgabe – Olaf Scholz kann ein Lied davon singen. Noch eine höhere Schwierigkeitsstufe hat aber das Schmieden einer EU-Kommission. Am Dienstag (12. November) hat das Ringen um die EU-„Regierung“ einen vorläufigen Höhepunkt erreicht: In Brüssel sprechen Ursula von der Leyens designierte Kommissions-Vizepräsidenten vor dem Parlament vor. Und mindestens eine Kandidatenkür schlägt dabei so hohe Wellen, dass schon über „Geiselnahmen“ spekuliert wird.

EU-Zoff: Bestätigung für von der Leyens Vizes liegt auf Eis – wegen Melonis Mann für Brüssel

Gemeint ist natürlich kein Kidnapping mit Lösegeldforderung. Es geht um die gegenseitige Drohung, einen lagerfremden Kandidaten durchfallen zu lassen, wenn der eigene nicht die Bestätigung des Parlaments erhält. Von der Leyens Kommission umfasst nicht nur Politikerinnen und Politiker aus allen Mitgliedsstaaten, sondern auch von Parteien von der sozialdemokratischen S&D bis zur rechten EKR. Kritische Fragen gab es bei mehreren Kandidaten – aber dass Raffaele Fitto von Giorgia Melonis Fratelli d‘Italia Vizepräsident werden soll, sorgt für besonders heftige Kontroversen.

Der Stein des Anstoßes: Giorgia Melonis Parteifreund Raffele Fitto am Dienstag im Europaparlament.

Die Koordinatoren der Parlamentsausschüsse haben die Entscheidung über die prominentesten Personalien, die sechs Vizepräsidenten auf Dienstag vertragt. Neben Fitto betrifft das auch Kaja Kallas, die wohl kommende Außenbeauftragte der EU. Ihre Bestätigung gilt zwar als sicher; schließlich haben die Staats- und Regierungschefs sie ausdrücklich nominiert. Dennoch muss nun auch sie warten. Und mit den russlandfreundlichen Fraktionen vom rechten und linken Rand lag sie in ihrer Anhörung hörbar über Kreuz.

Meloni-Parteigänger soll Kommissions-Vize werden – im Hintergrund droht Orbán

Fitto soll, so der Plan, künftig die Kohäsionspolitik verantworten – also die Angleichung der Lebensverhältnisse in den EU-Regionen. Für die Grundidee, das Amt mit einem Vizepräsidentenposten zu verknüpfen, gab es sogar Lob. Dass aber Melonis Mann für Brüssel so weit aufsteigt, erzürnt Linke, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale.

Die Liberale Raquel Garcia Hermida-van der Walle warf Fitto unter anderem vor, sich etwa in Abstimmungen zum Rechtsstaatlichkeitsverfahren auf Ungarns Seite geschlagen zu haben. „Jeder von uns hat seinen politischen Werdegang“, entgegnete dieser. Die Rechtsstaatlichkeit gehöre zu seinen europäischen Überzeugungen. Die spanische Grüne Miranda Paz warf von der Leyen vor, mit Fitto die gesamte extreme Rechte „reinzuwaschen“.

Großer Auflauf in Brüssel: Kaja Kallas bei ihrer Anhörung.

Ungarns Regierungschef Viktor Orbán – für einen Teil der Fraktionen vom rechten Rand eine Art Säulenheiliger – beschäftigte indirekt auch Kallas in ihrer Befragung. Der griechische Sozialdemokrat Ioannis Maniatis wollte wissen, wie Alleingänge Orbáns zu verhindern seien. Orbáns Parteifreundin Kinga Gál, wie die außenpolitische Souveränität der Staaten zu wahren sei, wenn die Kommission andere Haltungen vertrete. Kallas‘ Antwort war kurioserweise beide Male (fast) die gleiche: Wenn alle mit einer Stimme sprächen, habe die EU außenpolitisch einen „doppelten Hebel“; Kommission und nationale Minister. Es klang ein wenig nach Pfeifen im Walde.

Kallas forderte zudem einen stärkeren Kurs gegen Chinas Unterstützung für Russland im Ukraine-Krieg. Und betonte auf verschiedene Fragen von Rechts- und Linksaußen immer wieder: Die Ukraine müsse siegen. Die Lage auf dem Schlachtfeld sei aber „schwierig“, nötig sei Hilfe. Und auch Ausdauer bei den Sanktionen. Die EU dürfe Russland nicht das „Vergnügen einräumen“, den längeren Atem zu haben, „weil dann die Weltsicherheit bedroht ist“. Für Aussagen zum Ukraine-Krieg erntete Kallas wiederholt Applaus. Die Estin gilt als profilierte Mahnerin vor Putins Regime.

„Geiselnahme“ oder „Nichtangriffspakt“ in der EU? Auch von der Leyens Kommission polarisiert

Trotz gewisser Meinungsverschiedenheiten zum Ukraine-Krieg dürfte aber Fitto der größere Streitpunkt bleiben. Gemutmaßt wird aber, dass die konservative EVP um CDU und CSU die spanische Sozialdemokratin Teresa Ribera und den französischen Liberalen Stephane Séjourné blockieren könnte, wenn Fittos Posten wackelt. Das würde Verzögerungen bedeuten – eine unangenehme Lage, angesichts der Kriege in der Ukraine und Nahost, der erneuten Wahl Donald Trumps und weiterer Krisen.

Auf dem Weg nach Europa: Die Aufnahmekandidaten der EU

EU Parlament Straßburg
Jeder europäische Staat hat laut Artikel 49 des EU-Vertrags das Recht, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen. Wichtig dabei: „Europäisch“ wird politisch-kulturell verstanden und schließt die Mitglieder des Europarats mit ein. Das betrifft zum Beispiel die Republik Zypern. Eine wichtige Rolle spielt im Beitrittsverfahren das EU-Parlament in Straßburg (im Bild). Verschiedene Delegationen verfolgen die Fortschritte in den Beitrittsländern und weisen auf mögliche Probleme hin. Zudem müssen die Abgeordneten dem EU-Beitritt eines Landes im Parlament zustimmen. Derzeit gibt es neun Beitrittskandidaten und einen Bewerberstaat. © PantherMedia
Edi Rama Albanian EU
Albanien reichte 2009 den formellen EU-Mitgliedschaftsantrag ein – vier Jahre, bevor Edi Rama (im Bild) das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Es dauerte aber noch eine lange Zeit, bis die Verhandlungen beginnen konnten. Grund war ein Einspruch der Niederlande, die sich zusätzlich zu den EU-Kriterien auch die Sicherstellung der Funktion des Verfassungsgerichts und die Umsetzung eines Mediengesetzes wünschte. Im Juli 2022 konnte die Blockade beendet werden und die EU startete die Beitrittsverhandlungen. © John Thys/afp
Bosnien und Herzegowina EU
Auch Bosnien und Herzegowina drängt in die EU. Gut erkennen konnte man das zum Beispiel am Europatag 2021, als die Vijećnica in der Hauptstadt Sarajevo mit den Farben der Flaggen der Europäischen Union und Bosnien und Herzegowinas beleuchtet war. EU-Botschafter Johann Sattler nutzte sofort die Gelegenheit, um das alte Rathaus zu fotografieren. Vor den geplanten Beitrittsverhandlungen muss das Balkanland noch einige Reformen umsetzen. Dabei geht es unter anderem um Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen.  © Elvis Barukcic/afp
Georgien EU
Zum Kreis der EU-Beitrittskandidaten gehört auch das an Russland grenzende Georgien. Das Land, in dem rund 3,7 Millionen Menschen leben, hatte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs die Aufnahme in die EU beantragt. Auf schnelle Fortschritte im Beitrittsprozess kann Georgien allerdings nicht hoffen. Dabei spielt auch ein ungelöster Territorialkonflikt mit Russland eine Rolle. Nach einem Krieg 2008 erkannte Moskau die abtrünnigen georgischen Gebiete Südossetien (im Bild) und Abchasien als unabhängige Staaten an und stationierte Tausende Soldaten in der Region. © Dimitry Kostyukov/afp
Moldau EU
Seit Juni 2022 gehört auch Moldau offiziell zu den EU-Beitrittskandidaten. Das Land, das an Rumänien und die Ukraine grenzt, reichte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs das Beitrittsgesuch ein. Am 21. Mai 2023 demonstrierten 80.000 Menschen in der Hauptstadt Chișinău für einen Beitritt Moldaus in die Europäische Union. Die damalige Innenministerin Ana Revenco (Mitte) mischte sich damals ebenfalls unters Volk. © Elena Covalenco/afp
Montenegro EU
Das am kleine Balkanland Montenegro will beim EU-Beitritt zügig vorankommen. Direkt nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten Ende Oktober 2023 verkündete Milojko Spajic (im Bild), dass er den Beitritt Montenegros zur EU vorantreiben und die Justiz im Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen stärken wolle. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) hörte es damals sicher gerne. Montenegro verhandelt seit 2012 über einen Beitritt, hatte sich aber vor der Wahl nicht mehr ausgiebig um Reformen bemüht.  © Savo Prelevic/afp
Scholz Westbalkan-Gipfel Nordmazedonien EU
Nordmazedonien kämpft schon seit langer Zeit für den Beitritt in die EU. Leicht ist das nicht. So hat das kleine Land in Südosteuropa aufgrund eines Streits mit Griechenland sogar schon eine Namensänderung hinter sich. Seit 2019 firmiert der Binnenstaat amtlich unter dem Namen Republik Nordmazedonien. Auch Bulgarien blockierte lange den Beginn von Verhandlungen. Bei einem Gipfeltreffen im Oktober 2023 drängte Kanzler Olaf Scholz dann aber auf eine möglichst schnelle Aufnahme der Balkanstaaten in die EU. Nordmazedoniens Ministerpräsident Dimitar Kovacevski (rechts) war sichtlich erfreut. © Michael Kappeler/dpa
Serbien EU
Auch Serbien strebt in die EU. Wann es zu einem Beitritt kommt, scheint derzeit aber völlig offen. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat sich die serbische Regierung geweigert, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Damit ist Serbien der einzige Staat in Europa, der keine Sanktionen verhängt hat. Offen bleibt, welche Auswirkungen das auf die seit 2014 laufenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt Serbiens hat. Die politische Führung in Belgrad, die seit 2012 von Präsident Aleksandar Vučić (im Bild) dominiert wird, zeigt zudem wenig Willen zu Reformen. Demokratie und Medienpluralismus höhlt sie zunehmend aus. © Andrej Isakovic/afp
Türkei EU
Die Türkei ist bereits seit 1999 Beitrittskandidat. Die Verhandlungen selbst haben im Oktober 2005 begonnen. Inzwischen hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Beziehungen wieder auszubauen, sofern sich die Regierung in Ankara unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan (im Bild) in einigen Punkten bewegt. Zuvor waren Projekte wie die geplante Modernisierung der Zollunion und eine Visaliberalisierung wegen Rückschritten bei Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit in der Türkei auf Eis gelegt worden. Ein EU-Beitritt scheint aktuell weiter entfernt denn je. © Adem Altan/afp
Ukraine EU
Im Dezember 2023 wurde der Beginn von Verhandlungen mit der Ukraine grundsätzlich beschlossen. Allerdings muss die Ukraine sämtliche Reformauflagen erfüllen. So waren nach dem letzten Kommissionsbericht manche Reformen zur Korruptionsbekämpfung, zum Minderheitenschutz und zum Einfluss von Oligarchen im Land nicht vollständig umgesetzt. Ohnehin gilt es als ausgeschlossen, dass die Ukraine vor dem Ende des Ukraine-Kriegs EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew laut EU-Vertrag militärischen Beistand einfordern – und die EU wäre offiziell Kriegspartei. © Roman Pilipey/afp
Kosovo EU
Kosovo hat einen Mitgliedsantrag eingereicht, jedoch noch nicht den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Das Land hat 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Die Freude darüber war damals bei den Menschen riesengroß. Das Bild macht auch deutlich, dass vor allem Menschen albanischer Herkunft im Kosovo beheimatet sind. Die Flagge Albaniens (links) ist ebenso zu sehen wie die des neuen Landes (hinten). Mehr als 100 Länder, darunter auch Deutschland, erkennen den neuen Staat an. Russland, China, Serbien und einige EU-Staaten tun dies aber nicht. Ohne die Anerkennung durch alle EU-Länder ist eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aber nicht möglich.  © Dimitar Dilkoff/afp

Der deutsche Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky glaubte im Gespräch mit IPPEN.MEDIA allerdings an ein Go für die neue Kommission. Er verwies auf eine Art „Nichtangriffspakt“ zwischen Sozialisten und Konservativen, womöglich auch Liberalen. Ohnehin ließe sich das EU-„Kabinett“ notfalls auch mit Stimmen von Melonis EKR „durchboxen“. Das „höchste der Gefühle“ sei, Fitto den Vizepräsidenten-Posten zu nehmen – als „Denkzettel“, nicht mit Postfaschisten zu kooperieren.

Der deutsche Außenausschuss-Vorsitzende David McAllister (CDU) betonte nach Kallas‘ Befragung die besondere Bedeutung der Anhörungen. Sie seien ein wichtiger Teil der demokratischen Legitimierung der Kommission. Demokratie, das zeigte auch der Dienstag im Europaparlament, bleibt in Zeiten der Polarisierung und starker politischer Ränder aber ein schwieriges Geschäft. (Aus Brüssel berichtet Florian Naumann)

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