Interview

SPD-Nahostexperte über Gaza-Krieg: „Man muss als Deutscher Israel kritisieren“

  • Peter Sieben
    VonPeter Sieben
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Die geplante Offensive Israels in Rafah stößt auf Kritik. Der SPD-Politiker und Nahost-Experte Macit Karaahmetoğlu sieht bereits jetzt Anzeichen für Kriegsverbrechen.

Berlin – Der Dominostein ist womöglich längst gefallen und die Dinge nehmen ihren Lauf: Trotz eindringlicher Appelle hält Israels Minister Benjamin Netanjahu am Plan einer Offensive in der Stadt Rafah fest. Dort, im Süden Gazas, leben mehr als eine Million Flüchtlinge. Beobachter fürchten weitere zivile Opfer.

Krieg in Israel und Gaza: Kritik an Netanjahu wird lauter

Israels Regierung reagiert mit voller Härte auf den abscheulichen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Manche finden: Allmählich wird es zu hart. Die Kritik der Verbündeten wird lauter, aus den USA, aber allmählich auch aus Deutschland. Aufgrund seiner Historie und der speziellen Verantwortung Deutschlands ist das immer eine Gratwanderung. Doch man müsse jetzt Tacheles mit Israel reden, wenn man eine Katastrophe verhindern wolle, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoğlu. Der Jurist ist stellvertretender rechtspolitischer Sprecher seiner Fraktion und Nahost-Kenner. Für ihn gebe es nur eine Lösung im Konflikt zwischen Israel und Palästina, erklärt er im Interview.

Macit Karaahmetoğlu ist seit 2021 Bundestagsabgeordneter für die SPD. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag und Mitglied der AG Migration.
Die Sicherheit Israels ist Staatsräson. Darf man als Deutscher Israel kritisieren? 
Ja, man muss es sogar, wenn einem Israel am Herzen liegt. Es gibt ein türkisches Sprichwort, das lautet sinngemäß: Freunde reden stets bitter. 
Was bedeutet das? 
Wenn Ihnen jemand egal ist, dann sagen Sie zu allem, was er macht: Ja, schön, sehr gut. Aber wenn Ihnen jemand etwas wert ist, dann reden sie Tacheles. Israel ist gerade dabei, unter Präsident Netanjahu zum Pariastaat zu werden, der über kurz oder lang isoliert sein wird. In Gaza bahnt sich eine Katastrophe historischen Ausmaßes an, über die man womöglich noch in 50 Jahren sprechen wird. 30.000 Menschen, darunter 70 Prozent Frauen und Kinder, sind gestorben. Im Süden leben 1,5 Millionen Menschen als Flüchtlinge zusammengepfercht, es werden Seuchen ausbrechen und vielleicht sogar noch mehr Menschen sterben. Man muss Israel klarmachen, dass es so nicht weitergehen darf. 
SPD-Bundestagsabgeordneter Macit Karaahmetoğlu im Gespräch mit Redakteur Peter Sieben.
Was meinen sie damit? 
Der Umgang mit den Palästinensern in den letzten Jahren hat eben keine Sicherheit gebracht. Es ist ein Teufelskreis. Viele Angehörige der 30.000 Getöteten werden offen für eine Radikalisierung durch die Hamas sein, werden sich den Terroristen anschließen. 

Nahost-Konflikt: „Es gibt keine Sicherheit ohne Frieden mit den Palästinensern“

Wie lässt sich dieser Teufelskreis denn Ihrer Meinung nach durchbrechen?
Es gibt keine Sicherheit ohne Frieden mit den Palästinensern. Wir sehen, dass die Dominanz der westlichen Welt immer weiter abnimmt. Das heißt, die globale Unterstützung Israels wird zumindest zum Teil wegbrechen, in 20 Jahren wird sich der Staat in einer ganz neuen Situation wiederfinden. Dieses Zeitfenster muss Israel für einen Frieden nutzen, in 20 Jahren wird es nicht mehr möglich sein. 
Dazu gehören zwei Seiten, und der jetzige Krieg ist die Folge vom 7. Oktober 2023. 
Das stimmt, der furchtbare Terrorangriff der Hamas war ein Verbrechen, bei dem 1200 unschuldige Menschen getötet und zahlreiche Menschen verschleppt worden sind. Netanjahu nutzt das allerdings nun, um sein politisches Überleben zu sichern. Dafür braucht er Krieg und nimmt keine Rücksicht auf Verluste. Als Jurist kann ich sagen, dass viel dafür spricht, dass auch von israelischer Seite Kriegsverbrechen begangen wurden. 
Was genau spricht aus Ihrer Sicht dafür?
Als Beispiel möchte ich die versehentliche Erschießung von drei israelischen Geiseln anführen. Man muss ich das vorstellen: drei Menschen, mit weißer Fahne, die sich ergeben wollen. Und dann von israelischen Sicherheitskräften erschossen werden. Wir haben davon nur erfahren, weil es israelische Geiseln waren. Wenn man so ein Extrembeispiel mitbekommt, dann kann man aus Erfahrung sagen, dass eine solche Erschießung kein Einzelfall war.

Erdoğan als Vermittler im Israel-Palästina-Konflikt?

Der türkische Präsident Erdoğan bietet sich immer wieder offensiv als Vermittler im Konflikt an. Aber man lässt ihn offenbar nicht. Woran liegt das? 
Die Menschen trauen ihm nicht. Er hat sich mit sämtlichen Staatsführern, gerade auch der muslimischen Länder, überworfen. Ich will da ein einfaches Beispiel nennen: 2010 wollten Aktivisten mit dem Schiff „Mavi Marmara“ die Gaza-Blockade durchbrechen und Hilfsgüter in den Gazastreifen bringen. Neun von ihnen wurden von israelischen Soldaten getötet. Später hat Israel zehn Millionen Euro als Entschädigung überwiesen. Kritiker haben Erdoğan vorgeworfen, dass er sich die Menschenleben mit Geld habe bezahlen lassen. Er hat dann nur eiskalt erwidert: Habt ihr mich denn gefragt, als ihr hingefahren seid? Solche Geschichten werden nicht vergessen.
Viele Menschen werden womöglich irgendwann aus Gaza Richtung Westen fliehen. Müssen wir uns als Gesellschaft darauf vorbereiten? 
Ja, auf jeden Fall. Deutschland hat in der Vergangenheit viel geleistet, wir haben aus Syrien damals sehr viele Menschen aufgenommen und jetzt aus der Ukraine. Aber ich möchte auch den früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck zitieren: Unsere Herzen sind weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich. So sehe ich das auch. Deshalb müssen wir Abkommen mit umliegenden Ländern treffen und Geflüchteten im Idealfall in ihrer Heimat helfen. 

Rubriklistenbild: © Mohammed Talatene/dpa & Peter Sieben/Montage:IDZRAGENDA