Erster Akt im Parlament glückt
EU-Parlament beschwört „Mehrheit der Hoffnung“ gegen Orbán, Le Pen und AfD – und erlebt erste Misstöne
VonFlorian Naumannschließen
Das neue EU-Parlament startet – mit großen Worten, aber auch kleinen Misstönen. Der erste Akt gelingt in Straßburg. Doch die Bewährungsprobe folgt.
Straßburg – Stünden nicht sehr ernste Probleme im Raum, es könnte ein Anflug von erstem Schultag durch den Saal wehen: „Ich verstehe durchaus, dass das etwas ist, das Verwirrung stiften kann!“, ruft die italienische Sitzungsleiterin Pina Picierno ins Plenum – und lässt sogar das Holzhämmerchen zu ihrer Rechten ein paar Mal niedersausen. Die erste verwirrende Aufgabe der frisch gewählten Europaparlamentarier am Dienstagmorgen (16. Juli) in Straßburg: am Platz bleiben, den Wahlzettel entgegennehmen und die neue Parlamentspräsidentin wählen.
Ganz trivial scheint das für das beinahe vollbesetzte Plenum nicht, 54 Prozent der Abgeordneten sind Neulinge. Aber es gelingt. Gegen 12.30 Uhr, mit einigen Minuten Verspätung, steht die Konservative Roberta Metsola als altes und neues Oberhaupt des Europäischen Parlaments (EP) fest, 562 Stimmen erhält sie. Die linke Gegenkandidatin Irene Montero ist mit 61 Stimmen chancenlos, 76 ungültige Stimmen gibt es zudem. Es ist ein gewisses Signal der Geschlossenheit. Und damit vielleicht eine Art Hoffnungsschimmer für die zuletzt so oft zerstrittene EU. Aber es war auch der wohl einfachste Part des Starts in Straßburg.
Die EU und die Rechtsaußen: Eiszeit rund um den Start in Straßburg
Die Malteserin Metsola wählt in ihrer Bewerbungs- und in ihrer Antrittsrede versöhnliche, große Worte. Es gehe darum, „Europa als besseren Ort zu hinterlassen“, betont sie immer wieder. Und: „Dies ist das Haus, das etwas aufbauen und nicht zerstören möchte, das auch die Stimme erhebt für das gemeinsame Wohl.“ Das sei keine Frage von Parteipolitik, mahnt sie.
Vor Journalisten wenig später muss Metsola den Elefanten im Raum offener ansprechen. Nach dem Rechtsrutsch bei den EU-Wahlen hat sich die Kräfteverteilung im EP ein Stück weit verändert: Drittstärkste Fraktion – hinter Konservativen und Sozialdemokraten – ist nun ein Rechtsbündnis um Viktor Orbáns Fidesz, die österreichische FPÖ und Marine Le Pens Rassemblement National. Dazu eine womöglich noch radikalere Fraktion samt der AfD.
Eine hart-rechte Mehrheit gibt es zwar nicht. Aber neuen Druck auf die Mitte, wenn sie handlungsfähig bleiben will. Metsola sagt jetzt, angesprochen auf eine „Brandmauer“ gegen Rechts: Es gebe eine „Mehrheit der Konstruktiven und der Hoffnung“. Das Parlament werde „liefern“. Die erste große Bewährungsprobe wird es am Donnerstag geben: Dann ist eine Mehrheit für die Kommissionsspitze gesucht, nominiert ist wieder Ursula von der Leyen.
Inhaltlich und politisch stehen weitere Drahtseilakte auf der Agenda – etwa „den Menschen in den Mittelpunkt“ zu stellen, auch beim Thema Migration, wie Metsola sagt: Keine Mutter solle ihr Kind an einen kriminellen Schleuser geben müssen, erklärt sie. Die Parlamentschefin verspricht in ihrer Bewerbungsrede auch: Aufgabe der neuen europäischen Volksvertretung werde es sein, „die anderen Institutionen zur Rechenschaft zu ziehen“. Und damit war vorsichtig ein weiteres der drängenden Probleme angesprochen. Es heißt Orbán und ist aktuell für ein halbes Jahr Chef des Europäischen Rates, des Gremiums der Staats- und Regierungschefs der EU-Länder.
Orbán und Co. bereiten in der EU Sorgen: Buhrufe von Rechts – Warnung vor „Wut und Hass“
Seit Orbán auf eigene Faust eine „Friedensmission“ mit Stationen auch bei Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump angetreten hat, bahnt sich eine Art Eiszeit im Herzen der europäischen Politik an. Die designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will keine ihrer Kommissare zu informellen Treffen mit Orbáns Ratspräsidentschaft senden. Auch eine Aussprache mit Orbán im Parlament wird es diesmal nicht geben – das liegt laut Parlamentspressesprecher Jaume Duch Guillot aber an länger feststehenden organisatorischen Problemen.
Eine neue Polarisierung im Parlament ist akustisch bereits während des traditionell eher staatstragenden Teils des ersten Parlamentstags in Straßburg zu vernehmen. Als Montero, die Metsola-Herausforderin der Linken, ihr Ziel eines „antifaschistischen, feministischen“ Europa bewirbt, regen sich deutlich vernehmbare Buhrufe von der rechten Seite des Plenums. Die Linke selbst ist geschwächt aus der EU-Wahl hervorgegangen, bringt aber auch Positionen mit Sprengkraft mit: Sowohl Montero als zuvor bei einer Pressekonferenz auch Fraktionschefin Manon Aubry sprechen von einem „Genozid in Palästina“ und einem „Kriegskonsens“, der Europa übergestülpt werde. Wer will, kann russlandfreundliche Töne heraushören.
Parlamentschefin Metsola spricht indes klar von einer „russischen Aggression gegen die souveräne Ukraine“, es gelte Beistand zu zeigen. Europa sei „aufgefordert, mehr zu tun, über das hinaus, was angenehm ist“. Bei Metsolas Bewerbungsrede passt die Liste des zu Erledigenden – von Nahostkonflikt bis Arbeitnehmerrechte – nicht ins vorgesehene Zeitfenster. Um zwei Minuten überzieht sie ihre fünfminütige Redezeit. In der Antrittsrede später betont Metsola auch: Man müsse „über Nullsummendenken hinwegkommen, das die Menschen spaltet, das nur Wut und Hass schafft“. Genau das könnte die größte Aufgabe des Parlaments werden. (fn)
Rubriklistenbild: © Philipp von Ditfurth/dpa/picture-alliance

