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„Man darf das nicht sagen, aber ...“: Wann hinter dem Dauerbrenner-Satz Kalkül steckt
VonFlorian Naumann
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Die Klage über vermeintliche Sprechverbote scheint längst Gewohnheit. Was steckt dahinter? Politologe Vicente Valentim erläutert seine Erkenntnisse.
Eigentlich ist es paradox – und doch ständig zu hören. Menschen auf Podien, in Talkshowsesseln oder im Gespräch mit Bekannten oder Kollegen beginnen Sätze mit den Worten: „Man darf ja nicht sagen, dass ...“ – um im selben Atemzug das vermeintlich Unaussprechliche auszusprechen.
Diese Äußerungen haben eine politische Dimension. Und sie verweisen – jedenfalls in liberalen Demokratien – auf soziale Normen, wie der Politikwissenschaftler Vicente Valentim in seinem neuen Buch „The Normalization of the Radical Right“ nahelegt. Justiziabel sind hier schließlich die wenigsten Meinungsäußerungen. Im Gespräch mit IPPEN.MEDIA erklärt Valentim: „Man darf ja nicht sagen, aber ...“-Sätze verweisen im Alltag einerseits auf Wahrnehmungen der Äußernden – sind andererseits aus Politikermunde aber auch Kalkül auf der Mission Stimmenfang.
Spiel mit „political correctness“: „Unter dem Strich ist das eine Mobilisierungstechnik“
Valentim hat sich mit dem Aufstieg von rechtsradikalen Parteien beschäftigt. Rechtsradikale nutzten diese Wendungen immer wieder, sagt er. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern quer durch Europa. „Oder sie verweisen auf ‚political correctness‘ – was eine andere Art ist, dasselbe zu sagen.“
Politiker, die das tun, gäben „Meinungen eine Stimme, die bereits als Gedanken in den Köpfen von Wählerinnen und Wählern existieren, aber nicht in der Öffentlichkeit ausgesprochen werden“, erläutert Valentim. Eine der Kernthesen seiner Forschung lautet, dass rechtsradikale Haltungen nicht in den vergangenen Jahren neu entstanden sind, sondern mit scharf rechten Parteien nun ein Sprachrohr finden.
Wenn Politikerinnen und Politiker in dieser Weise sprechen, betonten sie sogar, dass es soziale Normen gegen die angesprochenen Haltungen gebe, erläutert Valentim. „Und sie sagen typischerweise implizit oder explizit, dass diese Normen verschwinden sollten.“ Damit bringe man sich als Zielpunkt der Stimmen dieser Wähler in Stellung: „Unter dem Strich ist das eine Mobilisierungstechnik.“
Die AfD-Spitze im Wandel der Zeit: von Bernd Lucke bis Alice Weidel
Nicht alle der vermeintlich verfemten Standpunkte zögen tatsächlich „soziale Sanktionen“ nach sich, sagt Valentim IPPEN.MEDIA – einige aber durchaus. Soziale Sanktionen können etwa Ausschluss aus Freundeskreisen oder berufliche Konsequenzen sein. Das gebe es im Gegensatz zu juristischen Folgen auch in liberalen Demokratien, schreibt er in seinem Buch. „Wer diese Standpunkte hat, will natürlich nicht, dass sie sanktioniert werden“, sagt der Politologe. Praktisch sei dabei weniger relevant, ob Meinungen seit langem geächtet, oder erst „im Wechsel der Generationen“ zum No-Go geworden seien. „Schlussendlich geht es in beiden Fällen um soziale Normen“. Diese zu brechen, sei eine allgemeine Tendenz rechtsradikaler Parteien.
Forschung in Deutschland: Scharfe CDU-Äußerungen noch folgenreicher als die der AfD
Folgenlos für die Gesellschaft bleibe diese Verschiebung von Grenzen nicht, sagt Valentim. „Wenn Parteien und Politiker Erfolg haben, obwohl sie diese Ansichten äußern, halten Wähler diese Standpunkte für akzeptabler, als sie selbst zuvor dachten.“ Und dabei spiele nicht einmal zwingend die radikalste Stimme – etwa die der AfD – die wichtigste Rolle.
Für ein Forschungspapier hat Valentim und mit den Kollegen Daniel Ziblatt und Elias Dinas „Antimigrations-Statements“ der AfD „mit sehr ähnlichen Äußerungen der CDU verglichen“, wie er berichtet. Zitatgeber waren etwa Friedrich Merz und Roland Koch. Das Ergebnis der Studie: „Wenn die CDU Rhetoriken annimmt, die typisch für Rechtsradikale sind, erodiert sie die Normen sogar noch mehr, als es die AfD tut.“ Mehrere Erklärungsansätze seien denkbar – er neige aber einer These zu: Als große „Mainstreampartei“ habe die CDU mehr Macht, „der Gesellschaft zu zeigen, was akzeptabel ist“.
Sorge nach den Wahlerfolgen der AfD – „Wie andere Parteien reagieren, ist entscheidend“
Zugleich zeige sich in vielen Ländern ein Muster: Nach Erfolgen der radikalen Rechten näherten sich alle Parteien im politischen Spektrum diesen rechtsradikalen Positionen an. „Wie andere Parteien auf den Erfolg Rechtsradikaler reagieren, ob sie Rhetoriken übernehmen oder nicht, ist entscheidend dafür, wie sich die Wahrnehmung des Akzeptablen und Inakzeptablen auf längere Sicht in der Gesellschaft entwickelt“, sagt Valentim.
Bleibt eine Frage offen: Ist es gut, wenn Haltungen der Bevölkerung einen Widerhall in der Politik und im Parlament finden – oder überwiegen die Gefahren, wenn Debatten Grenzen überschreiten und Gewalt oder Ausgrenzung „normalisieren“? Beide Haltungen seien rein fachlich möglich und nachvollziehbar, meint Valentim. Zwar nicht als empirisch arbeitender Wissenschaftler, aber als Bürger habe er dazu Meinung: „Ich denke, selbst wenn man in Sachen Repräsentation etwas gewinnt – die einhergehenden Verluste, mit Blick auf Minderheiten und unterprivilegierte Gruppen, die sich weniger sicher als zuvor fühlen, sind das nicht wert.“ (fn)