Nach bundesweiten Demos

„Nicht nur die Juden haben Angst“: Radikalisierungsforscher ruft zur Gegenwehr gegen Kalifat-Anhänger auf

  • Erkan Pehlivan
    VonErkan Pehlivan
    schließen

Essen, Düsseldorf, Berlin: Bundesweit hat sich bei pro-palästinensischen Demos der Judenhass entladen. Radikalisierungsforscher Burak Çopur fordert ein Umdenken.

Essen – Es sind tausende Unterstützer. Am Wochenende kam es bundesweit im Zuge des Israel-Krieges zu zahlreichen pro-palästinensischen Demonstrationen in deutschen Städten. In Düsseldorf versammelten sich am Samstag (4. November) 17.000 Menschen. Auch in Berlin gab es Protestzüge. Doch vor allem eine Pro-Palästina-Demonstration in Essen am Freitagabend wirft viele Fragen auf. 3.000 Teilnehmer, getrennt nach Geschlechtern, hatten in Sprechchören und auf Plakaten die Errichtung eines Kalifats gefordert.

Judenhass im Israel-Krieg: Tausende versammeln sich zu Demonstrationen – Radikalisierungsforscher warnt

Deutsche Politiker wie Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der in einer Video-Botschaft eindringlich zur Zerstörung der Hamas aufrief, sehen die Entwicklung mit Sorge. Bekommt Deutschland den Antisemitismus und den Judenhass in den Griff? Der Leiter des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention (ZRP), Professor Burak Çopur, mahnt ebenfalls zur Vorsicht und fordert im Gespräch mit fr.de von IPPEN.MEDIA ein klares Umdenken. Ein Interview:

Protest in Essen: Hamas-Unterstützer wollen Kalifat errichten – wie groß ist die Gefahr?

Herr Professor Çopur, am Freitag haben Islamisten zur Errichtung eines Kalifats aufgerufen, und zwar in Essen. Dort haben sie auch das ZRP gegründet. Warum gerade in dieser Stadt?
Das ist natürlich kein Zufall. Der Standort Essen wurde bewusst von uns gewählt. Das Ruhrgebiet ist eine Region – wie wir auch an den aktuellen Vorfällen sehen können –, die eine Herausforderung in dem Bereich der Radikalisierung mit sich bringt. Man denke zum Beispiel an die Neonazi-Szene der Essener Steeler Jungs oder auch an die türkischen Rechtsextremisten, die sogenannten Grauen Wölfe, die hier sehr stark organisiert sind. Das Ruhrgebiet ist zudem eine Hochburg der türkischen Regierungspartei AKP. Ganz großes Thema hier ist auch die Radikalisierung von Islamisten. Denken Sie da nur an die Schüsse auf die Essener Synagoge 2022.
Rufe nach einem Kalifat bei der Pro-Palästina-Demo in Hessen werfen viele Fragen auf.
Am Freitag demonstrierten rund 3.000 Menschen für ein Kalifat. Angemeldet war das Ganze aber nur als eine Pro-Palästina-Demo. Was genau war da los?
Hier muss man das Kind beim Namen nennen. Das war keine Solidaritäts-Demo für Palästina. Das war eindeutig eine Islamisten-Demo. Das Ziel war eine politische Instrumentalisierung des Islam, die die Propaganda und Verherrlichung des Kalifats und Dschihadismus zum Ziel hatte. Bei der Demonstration wurde nach Geschlechtern getrennt und nach der Gründung eines Kalifats gerufen. Sogar auf den Plakaten wurde ihr Wunsch nach einem Kalifat gezeigt. Das ist eindeutig demokratie- und verfassungsfeindlich.
Türkei-Experte und Politologe Prof. Dr. Burak Çopur ist Leiter des Essener Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention (ZRP) der IU (Internationale Hochschule).
Die Polizei teilt allerdings mit, dass sie in den Symbolen und Rufen nichts Verbotenes erkennen konnte – und somit kein Verstoß gegen das Versammlungsrecht vorlag.
Wie die Polizei darauf kommt, dass sie hier nichts strafrechtlich Relevantes erkennen kann, ist schon verwunderlich. Dass aber die Polizei nachträglich nochmal das Bildmaterial der Demo überprüfen will, zeigt eher, dass die Sicherheitskräfte im Vorfeld wohl nicht die erforderliche Achtsamkeit und Sorgfalt gezeigt haben. Spätestens als nach einem Kalifat gerufen und die Flagge der Hizb ut Tahrir gezeigt wurde, hätte man doch eingreifen müssen. Es sind nicht nur Jüdinnen und Juden, die vor diesen Menschen Angst haben, sondern auch Minderheiten, die selbst aus den islamischen und nahöstlichen Ländern wie Iran, Irak und Türkei vor Islamisten geflohen sind und hier Schutz gefunden haben.

Antisemitismus in Deutschland: Forscher mahnt Bildung in Schule und bei Polizei an

Wie kann in Zukunft Antisemitismus und eine Radikalisierung von Islamisten in Deutschland verhindert werden?
Wir brauchen ein ganz klares Umdenken. Wir als Forscherinnen und Forscher am ZRP haben uns sehr lange mit diesem Thema auseinandergesetzt und auch vor islamistischen Tendenzen gewarnt. Jetzt ist das Kind aber fast schon in den Brunnen gefallen. Wir müssen jetzt dringend gegensteuern. Wir brauchen präventive Maßnahmen und innovative Konzepte in der schulischen Bildung, in der politischen Jugendbildung und Erwachsenbildung gegen Antisemitismus. Mit traditionell deutschem Mittelschichts-Geschichtsunterricht in der Schule kommen wir hier nicht weiter.
Und sonst noch was?
Auch in der Polizeiausbildung ist mehr zu tun. Wir benötigen auch Polizisten, die frühzeitig Radikalisierung erkennen und in der Lage sind, die Symboliken und Sprechchöre auf diesen Demonstrationen einzuordnen und rechtzeitig handeln. Darüber hinaus ist das Thema aufsuchende Onlinearbeit ein zentraler Präventionsansatz. Die Radikalisierung in der Islamistenszene findet verstärkt auch im Netz statt. „Generation Islam“ und „Realität Islam“ haben auf Instagram insgesamt rund 100.000 Follower. Hinzukommen auch Tik-Tok-Accounts, in denen permanent radikalisiert und mobilisiert wird. Auch in der politischen Bildung darf man nicht nur kleckern, sondern muss klotzen und stärker in die Jugend- und Familien- und Sozialarbeit intensivieren.

Das Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention (ZRP): Das neu gegründete Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention (ZRP) der Internationalen Hochschule in Essen besteht aus fachlich breit aufgestellten, praxisorientierten, mehrsprachigen und interkulturell geschulten Professorinnen und Professoren. Der renommierte Türkei-Experte und Politologe Prof. Dr. Burak Çopur ist Leiter des Essener Forschungszentrums.

Rubriklistenbild: © IMAGO

Mehr zum Thema