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Alles Russlands Schuld: Warum die Moral-Frage im Ukraine-Krieg komplexer ist

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Wie weiter im Ukraine-Krieg? Das ethische Kalkül ist weniger klar als man meinen könnte, warnt der Publizist und Politologe Stephen M. Walt.

  • Russland hat den Ukraine-Krieg begonnen und führt ihn brutal - doch welche moralischen Schlüsse lassen sich aus diesem Fakt ziehen?
  • Kolumnist Stephen M. Walt warnt in diesem Kommentar den Westen davor, die Hände in Unschuld zu waschen.
  • Zugleich fordert Walt dazu auf, auch die Folgen und ein mögliches Ende des Krieges nüchtern in ethische Erwägungen einzubeziehen.
  • Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 22. September 2023 das Magazin Foreign Policy.

Washington, D.C. - Was ist die moralisch beste Vorgehensweise im Ukraine-Krieg? Auf den ersten Blick scheint die Antwort offensichtlich: Die Ukraine ist das Opfer eines widerrechtlichen Krieges, ihr Territorium ist besetzt, ihre Bürger haben in den Händen der Invasoren schwer gelitten - und ihr Widersacher ist ein autokratisches Regime mit einer Reihe unangenehmer Eigenschaften.

Von strategischem Kalkül einmal abgesehen ist der moralisch saubere Kurs sicherlich, die Ukraine bis zum Äußersten zu unterstützen. Wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im September beim „Jalta“-Strategiegipfel in Kiew sagte: „Wenn wir über diesen Krieg sprechen, sprechen wir immer über Moral“. Es überrascht nicht, dass er bei seinem Besuch in Washington wenig später die gleiche Botschaft vermittelte.

Wenn die moralischen Fragen nur tatsächlich so einfach zu beantworten wären.

„Gut gegen Böse“ und ein Kampf für die Souveräntit aller Staaten im Ukraine-Krieg? So einfach ist es nicht

Seit Beginn des Krieges haben diejenigen, die der Ukraine „alles“, „solange wie nötig“ geben wollen, versucht, den Krieg in üblicher US-Manier darzustellen: als reinen Kampf zwischen Gut und Böse.

Ihrer Ansicht nach trägt Russland die alleinige Schuld an dem Krieg, und die westliche Politik hat mit der daraus resultierenden Tragödie absolut nichts zu tun. Sie stellen die Ukraine als eine umkämpfte, aber tapfere Demokratie dar, die von einer korrupten, imperialistischen Diktatur brutal angegriffen wurde.

Für sie steht moralisch fast alles auf dem Spiel, weil der Ausgang des Krieges angeblich weitreichende Auswirkungen auf die Zukunft der Demokratie, das Schicksal Taiwans, die Bewahrung einer auf Regeln basierenden Ordnung und so weiter haben wird. Es überrascht nicht, dass sie jeden, der diese Sichtweise infrage stellt, schnell als naiven Appeasement-Politiker, Lakaien Russlands oder jemanden ohne jegliches moralisches Urteilsvermögen verurteilen.

Keine dieser Behauptungen sollte ohne Einschränkung akzeptiert werden.

Russland hat den Ukraine-Krieg begonnen - doch die westliche Politik hat ihren Anteil

Es steht außer Frage, dass Russland den Krieg begonnen hat und dafür verurteilt werden muss. Aber die Behauptung, die westliche Politik habe nichts damit zu tun, ist lächerlich, wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kürzlich einräumte. Ja, die Ukraine ist eine Demokratie, aber auch eine, die immer noch einige unappetitliche Elemente enthält, auch wenn die Darstellung des russischen Präsidenten Wladimir Putin der Ukraine als „Nazi-Regime“ stark übertrieben ist.

Die Behauptung, dass der Ausgang dieses Konflikts tiefgreifende Auswirkungen auf die ganze Welt haben wird, ist noch weniger überzeugend: Der Koreakrieg endete mit einer Pattsituation und einem ausgehandelten Waffenstillstand, und die Kriege in Vietnam, Irak und Afghanistan waren klare Niederlagen der USA. Aber die geopolitischen Folgen dieser Misserfolge waren meist lokal begrenzt; das dürfte auch auf die Ukraine zutreffen, unabhängig vom endgültigen Ergebnis.

Ukraine-Krieg: Die Ursprünge des Konflikts mit Russland

Menschen in Kiews feiern die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion
Alles begann mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Die Öffnung der Grenzen zunächst in Ungarn leitete das Ende der Sowjetunion ein. Der riesige Vielvölkerstaat zerfiel in seine Einzelteile. Am 25. August 1991 erreichte der Prozess die Ukraine. In Kiew feierten die Menschen das Ergebnis eines Referendums, in dem sich die Bevölkerung mit der klaren Mehrheit von 90 Prozent für die Unabhängigkeit von Moskau ausgesprochen hatte. Im Dezember desselben Jahres erklärte sich die Ukraine zum unabhängigen Staat. Seitdem schwelt der Konflikt mit Russland. © Anatoly Sapronenkov/afp
Budapester Memorandum
Doch Anfang der 1990er Jahre sah es nicht danach aus, als ob sich die neuen Staaten Russland und Ukraine rund 30 Jahre später auf dem Schlachtfeld wiederfinden würden. Ganz im Gegenteil. Im Jahr 1994 unterzeichneten Russland, das Vereinigte Königreich und die USA in Ungarn das „Budapester Memorandum“ – eine Vereinbarung, in der sie den neu gegründeten Staaten Kasachstan, Belarus und der Ukraine Sicherheitsgarantien gaben.  © Aleksander V. Chernykh/Imago
Ukrainedemo, München
Als Gegenleistung traten die drei Staaten dem Atomwaffensperrvertrag bei und beseitigten alle Nuklearwaffen von ihrem Territorium. Es sah danach aus, als ob der Ostblock tatsächlich einen Übergang zu einer friedlichen Koexistenz vieler Staaten schaffen würde. Nach Beginn des Ukraine-Kriegs erinnern auch heute noch viele Menschen an das Budapester Memorandum von 1994. Ein Beispiel: Die Demonstration im Februar 2025 in München.  © Imago
Orangene Revolution in der Ukraine
Bereits 2004 wurde deutlich, dass der Wandel nicht ohne Konflikte vonstattengehen würde. In der Ukraine lösten Vorwürfe des Wahlbetrugs gegen den Russland-treuen Präsidenten Wiktor Janukowytsch Proteste  © Mladen Antonov/afp
Ukraine proteste
Die Menschen der Ukraine erreichten vorübergehend ihr Ziel. Der Wahlsieg Janukowytschs wurde von einem Gericht für ungültig erklärt, bei der Wiederholung der Stichwahl setzte sich Wiktor Juschtschenko durch und wurde neuer Präsident der Ukraine. Die Revolution blieb friedlich und die Abspaltung von Russland schien endgültig gelungen. © Joe Klamar/AFP
Wiktor Juschtschenko ,Präsident der Ukraine
Als der Moskau kritisch gegenüberstehende Wiktor Juschtschenko im Januar 2005 Präsident der Ukraine wurde, hatte er bereits einen Giftanschlag mit einer Dioxinvariante überlebt, die nur in wenigen Ländern produziert wird – darunter Russland. Juschtschenko überlebte dank einer Behandlung in einem Wiener Krankenhaus.  © Mladen Antonov/afp
Tymoschenko Putin
In den folgenden Jahren nach der Amtsübernahme hatte Juschtschenko vor allem mit Konflikten innerhalb des politischen Bündnisses zu kämpfen, das zuvor die demokratische Wahl in dem Land erzwungen hatte. Seine Partei „Unsere Ukraine“ zerstritt sich mit dem von Julija Tymoschenko geführten Parteienblock. Als Ministerpräsidentin der Ukraine hatte sie auch viel mit Wladimir Putin zu tun, so auch im April 2009 in Moskau. © Imago
Das Bündnis zerbrach und Wiktor Janukowitsch nutzte bei der Präsidentschaftswahl 2010 seine Chance.
Das Bündnis zerbrach und Wiktor Janukowytsch nutzte bei der Präsidentschaftswahl 2010 seine Chance. Er gewann die Wahl mit knappem Vorsprung vor Julija Tymoschenko. Amtsinhaber Wiktor Juschtschenko erhielt gerade mal fünf Prozent der abgegebenen Stimmen.  © Yaroslav Debely/afp
Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew, Ukraine, 2014
Präsident Wiktor Janukowytsch wollte die Ukraine wieder näher an Russland führen – auch aufgrund des wirtschaftlichen Drucks, den Russlands Präsident Wladimir Putin auf das Nachbarland ausüben ließ. Um die Ukraine wieder in den Einflussbereich Moskaus zu führen, setzte Janukowytsch im November 2013 das ein Jahr zuvor verhandelte Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union aus.  © Sergey Dolzhenko/dpa
Maidan-Proteste Ukraine
Es folgten monatelange Massenproteste in vielen Teilen des Landes, deren Zentrum der Maidan-Platz in Kiew war. Organisiert wurden die Proteste von einem breiten Oppositionsbündnis, an dem neben Julija Tymoschenko auch die Partei des ehemaligen Boxweltmeisters und späteren Bürgermeisters von Kiew, Vitali Klitschko, beteiligt waren. © Sandro Maddalena/AFP
Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine
Die Forderung der Menschen war eindeutig: Rücktritt der Regierung Janukowiysch und vorgezogene Neuwahlen um das Präsidentenamt. „Heute ist die ganze Ukraine gegen die Regierung aufgestanden, und wir werden bis zum Ende stehen“, so Vitali Klitschko damals. Die Protestbewegung errichtete mitten auf dem Maidan-Platz in Kiew ihr Lager. Janukowytsch schickte die Polizei, unterstützt von der gefürchteten Berkut-Spezialeinheit. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die über mehrere Monate andauerten. © Sergey Dolzhenko/dpa
Der Platz Euromaidan in Kiew, Hauptstadt der Ukraine, ist nach den Protesten verwüstet.
Die monatelangen Straßenkämpfe rund um den Maidan-Platz in Kiew forderten mehr als 100 Todesopfer. Etwa 300 weitere Personen wurden teils schwer verletzt. Berichte über den Einsatz von Scharfschützen machten die Runde, die sowohl auf die Protestierenden als auch auf die Polizei gefeuert haben sollen. Wer sie schickte, ist bis heute nicht geklärt. Petro Poroschenko, Präsident der Ukraine von 2014 bis 2019, vertrat die These, Russland habe die Scharfschützen entsendet, um die Lage im Nachbarland weiter zu destabilisieren. Spricht man heute in der Ukraine über die Opfer des Maidan-Protests, nennt man sie ehrfürchtig „die Himmlischen Hundert“. © Sergey Dolzhenko/dpa
Demonstranten posieren in der Villa von Viktor Janukowitsch, ehemaliger Präsident der Ukraine
Nach rund drei Monaten erbittert geführter Kämpfe gelang dem Widerstand das kaum für möglich Gehaltene: Die Amtsenthebung Wiktor Janukowytschs. Der verhasste Präsident hatte zu diesem Zeitpunkt die UKraine bereits verlassen und war nach Russland geflohen. Die Menschen nutzten die Gelegenheit, um in der prunkvollen Residenz des Präsidenten für Erinnerungsfotos zu posieren. Am 26. Februar 2014 einigte sich der „Maidan-Rat“ auf eigene Kandidaten für ein Regierungskabinett. Präsidentschaftswahlen wurden für den 25. Mai anberaumt. Die Ukraine habe es geschafft, eine Diktatur zu stürzen, beschrieb zu diesem Zeitpunkt aus der Haft entlassene Julija Tymoschenko die historischen Ereignisse.  © Sergey Dolzhenko/dpa
Ein Mann stellt sich in Sewastopol, eine Stadt im Süden der Krim-Halbinsel, den Truppen Russlands entgegen.
Doch der mutmaßliche Frieden hielt nicht lange. Vor allem im Osten der Ukraine blieb der Jubel über die Absetzung Janukowytschs aus. Gouverneure und Regionalabgeordnete im Donbass stellten die Autorität des Nationalparlaments in Kiew infrage. Wladimir Putin nannte den Umsturz „gut vorbereitet aus dem Ausland“. Am 1. März schickte Russlands Präsident dann seine Truppen in den Nachbarstaat. Wie Putin behauptete, um die russischstämmige Bevölkerung wie die auf der Krim stationierten eigenen Truppen zu schützen. In Sewastopol, ganz im Süden der Halbinsel gelegen, stellte sich ein unbewaffneter Mann den russischen Truppen entgegen. Aufhalten konnte er sie nicht. © Viktor Drachev/afp
Bürgerkrieg in Donezk, eine Stadt im Donbas, dem Osten der Ukraine
Am 18. März 2014 annektierte Russland die Halbinsel Krim. Kurz darauf brach im Donbass der Bürgerkrieg aus. Mit Russland verbündete und von Moskau ausgerüstete Separatisten kämpften gegen die Armee und Nationalgarde Kiews. Schauplatz der Schlachten waren vor allem die Großstädte im Osten der Ukraine wie Donezk (im Bild), Mariupol und Luhansk. © Chernyshev Aleksey/apf
Prorussische Separatisten kämpfen im Donbas gegen Einheiten der Ukraine
Der Bürgerkrieg erfasste nach und nach immer mehr Gebiete im Osten der Ukraine. Keine der Parteien konnte einen nachhaltigen Sieg erringen. Prorussische Separatisten errichteten Schützengräben, zum Beispiel nahe der Stadt Slawjansk. Bis November 2015 fielen den Kämpfen laut Zahlen der Vereinten Nationen 9100 Menschen zum Opfer, mehr als 20.000 wurden verletzt. Von 2016 an kamen internationalen Schätzungen zufolge jährlich bis zu 600 weitere Todesopfer dazu. © Michael Bunel/Imago
Trümmer von Flug 17 Malaysian Airlines nach dem Abschuss nahe Donezk im Osten der Ukraine
Aufmerksam auf den Bürgerkrieg im Osten der Ukraine wurde die internationale Staatengemeinschaft vor allem am 17. Juli 2014, als ein ziviles Passagierflugzeug über einem Dorf nahe Donezk abstürzte. Alle 298 Insassen kamen ums Leben. Die Maschine der Fluggesellschaft Malaysian Airlines war von einer Boden-Luft-Rakete getroffen worden. Abgefeuert hatte die Rakete laut internationalen Untersuchungen die 53. Flugabwehrbrigade der Russischen Föderation. In den Tagen zuvor waren bereits zwei Flugzeuge der ukrainischen Luftwaffe in der Region abgeschossen worden. © ITAR-TASS/Imago
Russlands Präsident Putin (l.), Frankreichs Präsident Francois Hollande, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Petro Poroschenko in Minsk
Die Ukraine wollte den Osten des eigenen Landes ebenso wenig aufgeben wie Russland seine Ansprüche darauf. Im September 2014 kamen deshalb auf internationalen Druck Russlands Präsident Putin (l.), Frankreichs Präsident François Hollande, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Petro Poroschenko in Minsk zusammen. In der belarussischen Hauptstadt unterzeichneten sie das „Minsker Abkommen“, das einen sofortigen Waffenstillstand und eine schrittweise Demilitarisierung des Donbass vorsah. Die OSZE sollte die Umsetzung überwachen, zudem sollten humanitäre Korridore errichtet werden. Der Waffenstillstand hielt jedoch nicht lange und schon im Januar 2015 wurden aus zahlreichen Gebieten wieder Kämpfe gemeldet. © Mykola Lazarenko/afp
Wolodymyr Selenskyj feiert seinen Sieg bei der Präsidentschaftswahl in der Ukraine 2019
Während die Ukraine im Osten zu zerfallen drohte, ereignete sich in Kiew ein historischer Machtwechsel. Wolodymyr Selenskyj gewann 2019 die Präsidentschaftswahl und löste Petro Poroschenko an der Spitze des Staates ab.  © Genya Savilov/afp
Wolodymyr Selenskyj
Selenskyj hatte sich bis dahin als Schauspieler und Komiker einen Namen gemacht. In der Comedy-Serie „Diener des Volkes“ spielte Selenskyj von 2015 bis 2017 bereits einen Lehrer, der zunächst Youtube-Star und schließlich Präsident der Ukraine wird. Zwei Jahre später wurde die Geschichte real. Selenskyj wurde am 20. Mai 2019 ins Amt eingeführt. Kurz darauf löste der bis dato parteilose Präsident das Parlament auf und kündigte Neuwahlen an. Seine neu gegründete Partei, die er nach seiner Fernsehserie benannte, erzielte die absolute Mehrheit.  © Sergii Kharchenko/Imago
Russische Separatisten in der Ost-Ukraine
Selenskyj wollte nach seinem Wahlsieg die zahlreichen innenpolitischen Probleme der Ukraine angehen: vor allem die Bekämpfung der Korruption und die Entmachtung der Oligarchen. Doch den neuen, russland-kritischen Präsidenten der Ukraine holten die außenpolitischen Konflikte mit dem Nachbarn ein. © Alexander Ryumin/Imago
Ukraine Militär
Im Herbst 2021 begann Russland, seine Truppen in den von Separatisten kontrollierte Regionen in der Ost-Ukraine zu verstärken. Auch an der Grenze im Norden zog Putin immer mehr Militär zusammen. Selenskyj warnte im November 2021 vor einem Staatsstreich, den Moskau in der Ukraine plane. Auch die Nato schätzte die Lage an der Grenze als höchst kritisch ein. In der Ukraine wurden die Militärübungen forciert. © Sergei Supinsky/AFP
Putin
Noch drei Tage bis zum Krieg: Am 21. Februar 2022 unterzeichnet der russische Präsident Wladimir Putin verschiedene Dekrete zur Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Lugansk. © Alexey Nikolsky/AFP
Explosion in Kiew nach Beginn des Ukraine-Kriegs mit Russland
Am 24. Februar 2022 wurde der Ukraine-Konflikt endgültig zum Krieg. Russische Truppen überfielen das Land entlang der gesamten Grenze. Putins Plan sah eine kurze „militärische Spezialoperation“, wie die Invasion in Russland genannt wurde, vor. Die ukrainischen Streitkräfte sollten mit einem Blitzkrieg in die Knie gezwungen werden. Moskau konzentrierte die Attacken auf Kiew. Innerhalb weniger Tage sollte die Hauptstadt eingenommen und die Regierung Selenskyjs gestürzt werden. Doch der Plan scheiterte und nach Wochen intensiver Kämpfe und hoher Verluste in den eigenen Reihen musste sich die russische Armee aus dem Norden des Landes zurückziehen. Putin konzentrierte die eigene Streitmacht nun auf den Osten der Ukraine. © Ukrainian President‘s Office/Imago
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, bei einer Fernsehansprache aus Kiew
Seit Februar 2022 tobt nun der Ukraine-Krieg. Gesicht des Widerstands gegen Russland wurde Präsident Wolodymyr Selenskyj, der sich zu Beginn des Konflikts weigerte, das Angebot der USA anzunehmen und das Land zu verlassen. „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, sagte Selenskyj. Die sollte er bekommen. Zahlreiche westliche Staaten lieferten Ausrüstung, Waffen und Kriegsgerät in die Ukraine. Hunderttausende Soldaten aus beiden Ländern sollen bereits gefallen sein, ebenso mehr als 10.000 Zivilpersonen. Ein Ende des Kriegs ist nach wie vor nicht in Sicht. © Ukraine Presidency/afp

Das Gleiche gilt übrigens auch in umgekehrter Richtung: Der überwältigende Sieg des Westens im ersten Golfkrieg und die Niederlage Serbiens im Kosovo-Krieg haben keine dauerhafte demokratische Renaissance ausgelöst. Die Demokratie ist vielerorts in Schwierigkeiten - auch in den Vereinigten Staaten -, aber militärische Rückschläge im Ausland sind nicht der Hauptgrund dafür, und ein entscheidender ukrainischer Sieg würde die Republikanische Partei in den USA nicht wieder zur Vernunft bringen oder Marine Le Pen in Frankreich und Viktor Orban in Ungarn dazu bringen, ihre illiberalen politischen Programme aufzugeben.

Die Moral spricht für die Ukraine - aber die Überlegung darf damit nicht enden

Dennoch ist es verständlich, warum fast jeder im Westen - mich eingeschlossen - der Meinung ist, dass die Moral für die Ukraine spricht. Was auch immer Moskaus Ängste oder Beschwerden vor dem Krieg gewesen sein mögen, Russland hat einen illegalen Präventivkrieg begonnen. Diese Tatsache macht Russland nicht zu einem einzigartig bösen Land („Operation Iraqi Freedom“ gefällig?), aber die Ukraine ist trotzdem das Opfer.

Russland hat vorsätzlich zivile Ziele angegriffen und andere Kriegsverbrechen in einem Ausmaß begangen, das die Verstöße der Ukraine gegen die Kriegsgesetze bei weitem übertrifft (obwohl die Entscheidung der USA, Kiew mit Streumunition auszustatten, dieses Bild etwas trübt). Es fällt schwer, in einem russischen Regime, das Exilanten vergiftet und zentrale Menschenrechtsprinzipien ablehnt und in dem Oppositionelle mit statistisch unwahrscheinlicher Häufigkeit aus Fenstern hoher Stockwerke fallen oder andere tödliche „Unfälle“ erleiden, viel moralische Tugend zu sehen. Diese und andere Merkmale erklären zu einem guten Teil, warum die meisten von uns echte Sympathie für die Ukraine empfinden und sich einen Sieg Kiews wünschen.

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Was dieser Sichtweise jedoch fehlt, ist die Anerkennung der Tatsache, dass die Moralität einer bestimmten Politik auch von den potenziellen Kosten der verschiedenen Handlungsoptionen und den Erfolgswahrscheinlichkeiten jeder einzelnen abhängt. Wenn es um Menschenleben geht, müssen wir über abstrakte Prinzipien hinausgehen und die realen Folgen der verschiedenen Entscheidungen berücksichtigen.

Man muss auch darüber nachdenken, was ein Sieg der Guten kosten wird

Es reicht nicht aus, zu verkünden, dass die Guten gewinnen müssen; man muss auch ernsthaft darüber nachdenken, was es kosten wird, dieses Ergebnis zu erzielen - und ob es tatsächlich erreicht werden kann. Obwohl es unmöglich ist, eine 100-prozentig sichere Prognose zu den wahrscheinlichen Kosten oder Erfolgswahrscheinlichkeit zu stellen, ist die Weigerung, diese Aspekte auch nur in Betracht zu ziehen, eine Vernachlässigung der moralischen Verantwortung. (Einen seltenen Versuch, die Art von Analyse durchzuführen, für die ich plädiere, finden Sie hier in einem Bericht der RAND-Corporation).

Wolodymyr Selenskyj (li.) bei Joe Biden im Weißen Haus.

Der lange Krieg in Afghanistan bietet ein aufschlussreiches Beispiel für dieses Problem. Einige Beobachter hofften, dass die Taliban ihre Ansichten im Laufe der Zeit mäßigen würden - doch fast allen war klar, dass ein Sieg der Taliban für die meisten Afghanen und insbesondere für die afghanischen Frauen eine moralische Katastrophe bedeuten würde. Diejenigen von uns, die einen Abzug der USA befürworteten, taten das nicht, weil uns das Leiden der Afghanen gleichgültig war, sondern weil wir glaubten, dass ein längerer Verbleib das Endergebnis in keiner Weise verändern würde.

Diejenigen, die den Kurs beibehalten wollten, betonten immer wieder, dass die Nato und ihre afghanischen Partnerregierungen „die Kurve kriegen“ und dass weitere ein, zwei oder drei Jahre schließlich zum Sieg führen würden; aber sie haben nie eine plausible Strategie zur Erreichung dieses Ziels genannt (und die internen Einschätzungen waren noch viel pessimistischer). Was auch immer die ursprünglichen Absichten der Vereinigten Staaten gewesen sein mögen, die Leben der Afghanen, die starben, während Washington die Dinge auf die lange Bank schob, waren für keinen guten Zweck verloren.

Ukraine-Krieg als Wiedergänger der Afghanistan-Krise? Es braucht Bemühungen für ein Ende des Kriegs

Ich befürchte, dass sich in der Ukraine jetzt etwas Ähnliches abspielt. Das moralische Argument für das Streben nach Frieden - auch wenn die Aussichten unwahrscheinlich und die Ergebnisse nicht so sind, wie wir es uns wünschen - liegt in der Erkenntnis, dass der Krieg das Land zerstört und dass der Schaden umso größer und dauerhafter sein wird, je länger er andauert. Zum Unglück der Ukraine wird jeder, der darauf hinweist und eine ernsthafte Alternative anbietet, wahrscheinlich lautstark und scharf verurteilt und mit ziemlicher Sicherheit von den zuständigen politischen Führern ignoriert werden.

Selbst heute weiß niemand von uns mit Sicherheit, wie sich der weitere Verlauf des Krieges gestalten wird. Unsere kollektive Unwissenheit legt nahe, dass alle Teilnehmer an diesen Debatten etwas mehr Demut an den Tag legen sollten.

Stephen M. Walt

Diejenigen, die glauben, dass die langfristige Antwort darin besteht, der Ukraine modernere Waffen zu schicken und sie so schnell wie möglich in die Nato und die Europäische Union zu bringen - wie New York Times-Kolumnist Thomas Friedman Mitte September meinte -, sehen das genau andersherum. Putin ist in erster Linie in den Krieg gezogen, um diese Möglichkeiten auszuschließen, und er wird den Krieg fortsetzen. Entweder um diese Szenarien zu verhindern oder um sicherzustellen, dass das, was von der Ukraine übrig bleibt, von geringem Wert ist. Es ist sinnvoll, die Ukraine so weit zu unterstützen, dass Russland keinen Frieden diktieren kann, aber diese Unterstützung sollte an ernsthafte Bemühungen um eine Beendigung des Krieges geknüpft sein.

Ukraine will weiter gegen Russland kämpfen - die Moral kann auch ein Kontra verlangen

Die Hardliner haben natürlich eine klare Antwort auf diese Argumente. „Die Ukraine will weiterkämpfen“, beharren sie - zu Recht - „und wir sollten ihr deshalb alles geben, was sie braucht“. Die Entschlossenheit der Ukraine ist außergewöhnlich, und ihre Wünsche sollten nicht leichtfertig abgetan werden. Dennoch ist dieses Argument nicht entscheidend. Wenn ein Freund etwas tun will, was Sie für unklug oder gefährlich halten, sind Sie nicht moralisch verpflichtet, ihn in seinen Bemühungen zu unterstützen, egal wie stark er sich engagiert. Im Gegenteil, Sie würden sich moralisch schuldig machen, wenn Sie ihm helfen würden, so zu handeln, wie er es sich wünscht, und das Ergebnis wäre katastrophal.

Wolodymyr Selenskyj in Kiew.

Natürlich verringern sich diese moralischen Abwägungen, wenn man glaubt, dass die Ukraine zu einem akzeptablen Preis gewinnen kann und dass dieses Ergebnis eine tiefgreifende positive Auswirkung auf die ganze Welt haben wird. Wie bereits erwähnt, ist dies das zentrale Argument der Kriegspartei. Angesichts der enttäuschenden (wenn nicht gar katastrophalen) Ergebnisse der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer wird es jedoch immer schwieriger, diese Position zu vertreten.

Bringen weitere Waffen der Ukraine den Sieg? Viele Fragen bleiben offen

Die Hardliner hoffen nun, dass fortschrittlichere Waffen (taktische Raketensysteme der Armee wie ATACMS, F-16-Flugzeuge, M-1-Gewehre, Heerscharen von Drohnen und so weiter) das Gleichgewicht zugunsten der Ukraine verschieben werden. Oder sie spekulieren darauf, dass Russland die Reserven ausgehen und es bald am Ende sein wird.

Ich hoffe, dass sie recht haben, aber es ist bezeichnend, dass diese Falken die Frage der eigenen Verluste der Ukraine weitgehend verschweigen. Um genau zu sein: Wie viele Ukrainer wurden getötet oder verwundet, und wie lange kann Kiew sie noch ersetzen? Diese Frage ist für jeden Versuch, die Aussichten der Ukraine zu beurteilen, von entscheidender Bedeutung, aber es ist fast unmöglich, zuverlässige Informationen darüber zu erhalten.

Selbst heute weiß niemand von uns mit Sicherheit, wie sich der weitere Verlauf des Krieges gestalten wird. Unsere kollektive Unwissenheit legt nahe, dass alle Teilnehmer an diesen Debatten etwas mehr Demut an den Tag legen sollten. Es ist möglich, dass ich die Chancen Kiews und die negativen Folgen eines ausgehandelten Abkommens unterbewerte. Sollte ich mich irren, gebe ich das gerne zu und werde mich über den Erfolg der Ukraine freuen. Aber ich wünschte, die Hardliner würden anerkennen, dass ihr kompromissloses Vorgehen im Krieg der Ukraine auf lange Sicht mehr schaden könnte. Nicht, weil die Hardliner das wollen, sondern weil ihre politischen Empfehlungen genau das bewirken könnten.

Teilschuld für den Ukraine-Krieg liegt im Westen - die Verantwortlichen sind auch jetzt unter den Lautesten

Ein letzter Punkt, den Sie bedenken sollten: Wenn Sie immer noch darauf erpicht sind, die moralische Verantwortung für den Krieg zuzuweisen, dann liegt sie nicht bei denjenigen von uns, die vor den Gefahren einer unbegrenzten NATO-Erweiterung und den Risiken einer zu offenen Einmischung in die ukrainische Innenpolitik gewarnt und darauf hingewiesen haben, dass unüberlegte Bemühungen um eine Aufrüstung der Ukraine nach hinten losgehen könnten.

Putin ist dafür verantwortlich, dass der Krieg begonnen hat und wie Russland ihn geführt hat, aber ein Teil der Schuld an dieser Tragödie liegt bei denjenigen im Westen, die all diese früheren Warnungen darüber, wohin ihre Politik führen könnte, zurückgewiesen haben. Angesichts der Tatsache, dass viele dieser Leute zu den lautesten Stimmen gehören, die dazu aufrufen, den Krieg fortzusetzen, den Einsatz zu erhöhen und die Unterstützung des Westens zu verstärken, kann man sich zu Recht fragen, ob ihre Ratschläge der Ukraine heute genauso viel Schaden zufügen wie in der Vergangenheit.

Zum Autor

Stephen M. Walt ist Kolumnist bei Foreign Policy und Robert und Renée Belfer Professor für internationale Beziehungen an der Harvard University. Twitter (X): @stephenwalt

Wir testen zurzeit maschinelle Übersetzungen. Dieser Artikel wurde aus dem Englischen automatisiert ins Deutsche übersetzt.

Dieser Artikel war zuerst am 22. September 2023 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. 

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