75 Jahre Nato
Die Nato ist krisenerprobt – doch zwischen Putin und Trump könnte ihre heikelste Stunde noch kommen
VonChristiane Kühlschließen
Vor 75 Jahren schlossen zwölf Staaten den Nordatlantik-Pakt. Die daraus hervorgegangene Nato hat inzwischen 32 Mitglieder – und musste sich nach Krisen immer wieder neu aufstellen. So auch jetzt.
75 Jahre wird die North Atlantic Treaty Organisation, kurz Nato, am heutigen Donnerstag. Und sie befindet sich an einem heiklen Punkt ihrer Geschichte. Denn nicht nur tobt im Osten Europas der von Russlands Präsident Wladimir Putin losgetretene Krieg in der Ukraine. Sondern es droht sich zugleich der wichtigste militärische Partner in der Allianz abzuwenden, die USA. Sollte Ex-Präsident Donald Trump bei der US-Wahl im November erneut ins Weiße Haus einziehen, droht eine Rückkehr seines Wahlspruchs „America First“, Amerika zuerst. Schon jetzt blockieren Trumps Republikaner im US-Kongress 60 Milliarden US-Dollar Militärhilfen für die Ukraine.
Das laufende Nato-Außenministertreffen werde „erörtern, wie die Nato mehr Verantwortung für die Koordination von militärischer Ausrüstung und Ausbildung für die Ukraine übernehmen und dies in einem soliden Nato-Rahmen verankern könnte“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg daher am Mittwoch zum Auftakt in Brüssel. Er schlug dazu ein 100 Millionen Euro schweres gemeinsames Militärpaket vor.
Koreakrieg und Kubakrise: Erste dramatische Krisen für die Nato
Die aktuelle Krise ist allerdings nicht die erste schwierige Phase der Allianz. Die ersten dramatischen Stunden bescherten der Nato die Sowjetunion und Nordkorea. 1949 zündeten die Sowjets ihren ersten Atomtest, und 1950 marschierte das kommunistische Nordkorea in Südkorea ein und startete damit den Koreakrieg. Gerade erst gegründet, hatte die Nato damals nur zwölf Mitglieder und keinerlei militärische Struktur. Man realisierte, dass man dringend eine Kommandostruktur mit militärischem Hauptquartier brauchte. Erster Europa-Befehlshaber wurde der US-General und spätere Präsident Dwight D. Eisenhower. Wenig später folgte das zivile Sekretariat. Diese Struktur besteht noch heute.
75 Jahre Nato
Die Nato wurde am 4. April 1949 unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges mit 36,5 Millionen Toten in Europa und des beginnenden Ost-West-Konflikts von damals zwölf Unterzeichnern gegründet. Ziele war die Abschreckung der Sowjetunion durch militärische Stärke, eine Integration Europas – und durch eine starke US-Präsenz zu verhindern, dass sich erneut ein militanter Nationalismus in Europa ausbreitet. Vom ersten Nato-Generalsekretär Lord Ismay ist die Zielformel überliefert: „die Russen fernhalten, die Amerikaner im Spiel halten und die Deutschen kleinhalten“.
1952 traten Griechenland und die Türkei der Nato bei, 1955 folgte die westdeutsche Bundesrepublik. Als Reaktion auf den deutschen Beitritt gründete die Sowjetunion mit den sozialistischen Staaten Osteuropas einschließlich der DDR den Warschauer Pakt. 1961 folgte der Bau der Berliner Mauer. Damals beschloss die Nato nach eigenen Angaben die strategische Doktrin der „Massiven Vergeltung“: Auf einen Angriff der Sowjetunion würde die Allianz mit Atomwaffen antworten.
Die Kubakrise, bei der die Sowjetunion und die USA 1962 nur knapp einen Atomkrieg vermieden, nachdem Moskau auf der kommunistischen Karibikinsel hatte Atomraketen stationieren wollen, fand fernab der Nato und Europas statt – und hatte doch große Wirkung auf das Bündnis. US-Präsident John F. Kennedy sorgte damals für eine neue Doktrin, die der extremen Strategie – entweder Frieden oder totaler Atomkrieg – abschwor. Sein neues Nato-Konzept der „flexiblen Reaktion“ sah eine militärische Reaktion unterhalb der nuklearen Schwelle vor.
Nato-Jubiläum: Doppelbeschluss und Beginn der Abrüstung
Doch das Tauwetter währte nicht lang. 1979 marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein und stationierte SS20-Raketen mit Atomsprengköpfen in Osteuropa. Viele davon waren auf die Bundesrepublik gerichtet. Die Nato stand vor ihrer schwersten Sicherheitskrise. Sie reagierte nach zähem Ringen im Dezember 1979 mit dem sogenannten Nato-Doppelbeschluss: Man wollte mit der Sowjetunion über den Abbau der SS20-Raketen verhandeln – aber bei einem Scheitern dieser Gespräche ab 1983 US-amerikanische atomare Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II in Westeuropa stationieren. Der Doppelbeschluss löste stürmische Proteste in Westeuropa aus. Die Friedensbewegung mobilisierte Anfang der 1980-er Jahre allein in der Bundesrepublik Hunderttausende gegen Nachrüstung und die Nato allgemein.
Die Pershing-Raketen wurden 1983 trotzdem stationiert, auch in Deutschland – da die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der UdSSR gescheitert waren. Erst mit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow als Staats- und Parteichef der UdSSR 1985 kam Fahrt in die Abrüstung. 1987 unterzeichneten USA und UdSSR den ersten Vertrag zur Abrüstung von nuklearen Mittelstreckenraketen, der heute als erstes Anzeichen für das Ende des Kalten Krieges gilt.
75 Jahre Nato: Nach dem Kalten Krieg kam der Jugoslawienkrieg
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 schien dauerhafter Frieden in Europa möglich. Dennoch drängten die osteuropäischen Länder aus Furcht in die Nato; Polen (Beitritt 1999) und die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen (2004) haben ihre Angst vor Russland nie ganz verloren – zu Recht, wie sich heute zeigt.
Zunächst aber zerstörten die Kriege im zerfallenden Jugoslawien jäh die Hoffnung auf Frieden in Europa. Sie brachten 1995 einen Tabubruch für die Nato. Angesichts von Kriegsverbrechen und ethnischen Säuberungen setzte sie erst eine Flugverbotszone durch und verstieß dabei gegen UN-Resolutionen. 1995 dann bombardierte das Bündnis Stellungen der bosnischen Serben, die in Bosnien-Herzegowina immer wieder Massaker an Zivilisten anrichteten. Es war der erste militärische Einsatz der Nato in Europa überhaupt. Er war umstritten, aber brachte die Serben an den Verhandlungstisch und führte zum Friedensabkommen von Dayton.
Neue Herausforderungen für die Nato – vorübergehend
Zentrales Element der Nato war von Beginn an Artikel 5 ihres Vertrages, die sogenannte Beistandsgarantie, auch Bündnisfall genannt. In Artikel 5 heißt es: Eine Attacke gegen ein Mitglied oder mehrere werde „als Angriff gegen sie alle betrachtet“. Dieser Bündnisfall wurde nur ein einziges Mal ausgerufen, nach den islamistischen Terrorangriffen auf die USA am 11. September 2001.
Die Nato-Partner stellten sich an die Seite Washingtons, die gemeinsame Operation „Enduring Freedom“ schützte den Luftraum der USA und die Gewässer des östlichen Mittelmeers und am Horn von Afrika vor der Terrorgruppe Al-Qaida. Mehrere Nato-Partner nahmen an den Angriffen auf Terrorbasen in Afghanistan teil, die parallel das radikal-islamische Regime der Taliban stürzten.
Der 11. September veränderte die Nato. 2004 und 2005 folgten islamistische Terrorangriffe auf den öffentlichen Nahverkehr in Madrid und London mit vielen Toten. Man glaubte damals, dass die größten Bedrohungen transatlantischer Sicherheit nicht mehr von Europa ausgingen, sondern von Gefahren jenseits des Kontinents.
Nato-Jahrestag: Bedrohung durch Russland
In der Folge reformierte vor allem Europa sein Militär – weg von der Landesverteidigung, hin zu schnellen Eingreiftruppen für Konflikte in aller Welt. Die Militärbudgets fielen so stark, dass der Nato-Gipfel von 2014 beschloss, dass jedes Mitglied mindestens zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Verteidigung ausgeben werde. Damals schafften das grade mal drei Nato-Mitglieder. Ex-US-Präsident Donald Trump drohte ab 2017 säumigen Zahlern mit Entzug der Unterstützung, schon während seines Wahlkampfs Ende 2016 hatte er die Nato mehrfach für „obsolet“ erklärt. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Nato 2019 als „hirntot“. Die Nato stand vor einer Sinnkrise.
Der Ukraine-Krieg änderte das. Die Nato war plötzlich wieder zentral für die Sicherheit Europas; die Staaten entlang ihrer Ostflanke sehen sie als Existenzgarantie. Finnland und Schweden gaben ihre Neutralität auf und traten 2023 und 2024 der Nato bei. 18 Mitglieder werden in diesem Jahr das Zwei-Prozent-Ziel erfüllen. Derzeit läuft mit „Steadfast Defender“ das größte Nato-Manöver seit Ende des Kalten Krieges, es simuliert über Monate die Verlegung von Truppen Richtung Osten.
Die Nato hat einiges überstanden, doch die heikelste Stunde könnte ihr erst noch bevorstehen. Bei einem Sieg in der Ukraine werde Russland in ein paar Jahren in der Lage sein, die Nato herauszufordern, glauben viele Militärexperten. Darauf muss die Allianz sich vorbereiten – damit es gar nicht dazu kommt.
Rubriklistenbild: © bonn-sequenz/Imago
