Gefahr der „Eskalation“

Putin oder EU: Drei Szenarien für die Schicksalswahl in Georgien – „Was macht ihr dann?“

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Fällt Georgien in Russlands Hände? Die Wahl am Samstag könnte es entscheiden. Ein Experte und ein Oppositionspolitiker erklären die Aussichten.

Hoffnung und Sorge sind in Georgien groß: Bei der Wahl am Samstag (26. Oktober) will die Opposition die vielleicht letzte Chance nutzen, die Demokratie zu retten – und den Kurs des Beitrittskandidaten Richtung EU. Denn die Regierung steuert scharf Richtung Autokratie. Und Richtung Wladimir Putins Russland. Auch die EU schaut genau zu. Von einer „schicksalhaften Wahl“ spricht der deutsche Grünen-Europapolitiker Sergey Lagodinsky: „Weil klar ist: So geht es nicht weiter. Wir brauchen ein positives Signal in Richtung Europa. Sonst werden wir alles abwickeln, was bisher geschehen ist. Das wäre ein großer Verlust.“

Stephan Malerius ist nahe dran. Er arbeitet in Georgiens Hauptstadt Tiflis als Regionalprogrammleiter für die Konrad-Adenauer-Stiftung. Malerius sieht angesichts der Umfragen prinzipiell Chancen für die Opposition. Aber auch große Gefahren. Bleibe Georgien auf dem autoritären Kurs der vergangenen Jahre, „wage ich mir kaum auszumalen, wie das Land in einem Jahr aussieht“, warnt er im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Der Experte sieht mehrere Szenarien für die Zeit unmittelbar nach der Wahl. Fragen und Antworten im Überblick:

Wahl in Georgien: Was sagen die Umfragen?

Fraglich ist, wie belastbar die Daten sind. Die „am ehesten neutralen, objektiven“ Erhebungen sähen die Regierungspartei Georgischer Traum zwischen gut 30 und 35 Prozent, sagt Malerius – die vier Oppositionsblöcke zusammen rangierten bei etwa 55 Prozent. Das gebe den Regierungsgegnern Anlass zur Hoffnung: „Sie sind zum Teil sehr überzeugt, dass sie gewinnen werden.“

Im Mai protestierten in Georgiens Hauptstadt Tiflis immer wieder Menschen gegen das „Agenten-Gesetz“ – und für den EU-Beitritt.

Allerdings gibt es Fallstricke. Repression, Druck und Einschüchterung gebe es schon im Vorfeld. Opposition, Staatsbedienstete, Lehrer oder Mitglieder der Wahlkommission könnten ins Visier geraten. Zudem seien am Wahltag „Stimmenkauf“ oder Mehrfach-Stimmabgaben im Sinne der Regierungspartei Georgischer Traum zu befürchten, meint Malerius. Das bekräftigt im Gespräch mit IPPEN.MEDIA auch der Politiker Surab Tschiaberaschwili von der Mitte-Rechts-Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung. Er glaubt, dass die Regierung die Ergebnisse in ihrem Sinne manipulieren kann – bei einer klaren Niederlage aber nicht ausreichend, um den Wahl-Ausgang zu kippen.

Georgien am Scheideweg – was passiert nach der Wahl?

Im Falle einer – unerwarteten – erneuten absoluten Mehrheit des Georgischen Traums wäre das Schicksal des Landes wohl vorerst besiegelt. Mit Konsequenzen nicht nur für den angedachten EU-Beitritt, sondern vor allem für die Menschen im Land: Die graue Eminenz hinter dem Georgischen Traum, der Milliardär Bidsina Iwanischwili, hat angekündigt, die Opposition zu verbieten und „Nürnberger Prozesse“ abzuhalten. Ein Verweis auf die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes nach 1945 – „völlig inadäquat auch in der Bildsprache“, wie Malerius betont. Georgien werde dann wohl „in Richtung Autoritarismus voranschreiten“ und „eng mit Russland zusammenarbeiten“. Sollte die Opposition gewinnen, scheinen verschiedene Fortgänge möglich.

Auf dem Weg nach Europa: Die Aufnahmekandidaten der EU

EU Parlament Straßburg
Jeder europäische Staat hat laut Artikel 49 des EU-Vertrags das Recht, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen. Wichtig dabei: „Europäisch“ wird politisch-kulturell verstanden und schließt die Mitglieder des Europarats mit ein. Das betrifft zum Beispiel die Republik Zypern. Eine wichtige Rolle spielt im Beitrittsverfahren das EU-Parlament in Straßburg (im Bild). Verschiedene Delegationen verfolgen die Fortschritte in den Beitrittsländern und weisen auf mögliche Probleme hin. Zudem müssen die Abgeordneten dem EU-Beitritt eines Landes im Parlament zustimmen. Derzeit gibt es neun Beitrittskandidaten und einen Bewerberstaat. © PantherMedia
Edi Rama Albanian EU
Albanien reichte 2009 den formellen EU-Mitgliedschaftsantrag ein – vier Jahre, bevor Edi Rama (im Bild) das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Es dauerte aber noch eine lange Zeit, bis die Verhandlungen beginnen konnten. Grund war ein Einspruch der Niederlande, die sich zusätzlich zu den EU-Kriterien auch die Sicherstellung der Funktion des Verfassungsgerichts und die Umsetzung eines Mediengesetzes wünschte. Im Juli 2022 konnte die Blockade beendet werden und die EU startete die Beitrittsverhandlungen. © John Thys/afp
Bosnien und Herzegowina EU
Auch Bosnien und Herzegowina drängt in die EU. Gut erkennen konnte man das zum Beispiel am Europatag 2021, als die Vijećnica in der Hauptstadt Sarajevo mit den Farben der Flaggen der Europäischen Union und Bosnien und Herzegowinas beleuchtet war. EU-Botschafter Johann Sattler nutzte sofort die Gelegenheit, um das alte Rathaus zu fotografieren. Vor den geplanten Beitrittsverhandlungen muss das Balkanland noch einige Reformen umsetzen. Dabei geht es unter anderem um Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen.  © Elvis Barukcic/afp
Georgien EU
Zum Kreis der EU-Beitrittskandidaten gehört auch das an Russland grenzende Georgien. Das Land, in dem rund 3,7 Millionen Menschen leben, hatte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs die Aufnahme in die EU beantragt. Auf schnelle Fortschritte im Beitrittsprozess kann Georgien allerdings nicht hoffen. Dabei spielt auch ein ungelöster Territorialkonflikt mit Russland eine Rolle. Nach einem Krieg 2008 erkannte Moskau die abtrünnigen georgischen Gebiete Südossetien (im Bild) und Abchasien als unabhängige Staaten an und stationierte Tausende Soldaten in der Region. © Dimitry Kostyukov/afp
Moldau EU
Seit Juni 2022 gehört auch Moldau offiziell zu den EU-Beitrittskandidaten. Das Land, das an Rumänien und die Ukraine grenzt, reichte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs das Beitrittsgesuch ein. Am 21. Mai 2023 demonstrierten 80.000 Menschen in der Hauptstadt Chișinău für einen Beitritt Moldaus in die Europäische Union. Die damalige Innenministerin Ana Revenco (Mitte) mischte sich damals ebenfalls unters Volk. © Elena Covalenco/afp
Montenegro EU
Das am kleine Balkanland Montenegro will beim EU-Beitritt zügig vorankommen. Direkt nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten Ende Oktober 2023 verkündete Milojko Spajic (im Bild), dass er den Beitritt Montenegros zur EU vorantreiben und die Justiz im Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen stärken wolle. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) hörte es damals sicher gerne. Montenegro verhandelt seit 2012 über einen Beitritt, hatte sich aber vor der Wahl nicht mehr ausgiebig um Reformen bemüht.  © Savo Prelevic/afp
Scholz Westbalkan-Gipfel Nordmazedonien EU
Nordmazedonien kämpft schon seit langer Zeit für den Beitritt in die EU. Leicht ist das nicht. So hat das kleine Land in Südosteuropa aufgrund eines Streits mit Griechenland sogar schon eine Namensänderung hinter sich. Seit 2019 firmiert der Binnenstaat amtlich unter dem Namen Republik Nordmazedonien. Auch Bulgarien blockierte lange den Beginn von Verhandlungen. Bei einem Gipfeltreffen im Oktober 2023 drängte Kanzler Olaf Scholz dann aber auf eine möglichst schnelle Aufnahme der Balkanstaaten in die EU. Nordmazedoniens Ministerpräsident Dimitar Kovacevski (rechts) war sichtlich erfreut. © Michael Kappeler/dpa
Serbien EU
Auch Serbien strebt in die EU. Wann es zu einem Beitritt kommt, scheint derzeit aber völlig offen. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat sich die serbische Regierung geweigert, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Damit ist Serbien der einzige Staat in Europa, der keine Sanktionen verhängt hat. Offen bleibt, welche Auswirkungen das auf die seit 2014 laufenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt Serbiens hat. Die politische Führung in Belgrad, die seit 2012 von Präsident Aleksandar Vučić (im Bild) dominiert wird, zeigt zudem wenig Willen zu Reformen. Demokratie und Medienpluralismus höhlt sie zunehmend aus. © Andrej Isakovic/afp
Türkei EU
Die Türkei ist bereits seit 1999 Beitrittskandidat. Die Verhandlungen selbst haben im Oktober 2005 begonnen. Inzwischen hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Beziehungen wieder auszubauen, sofern sich die Regierung in Ankara unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan (im Bild) in einigen Punkten bewegt. Zuvor waren Projekte wie die geplante Modernisierung der Zollunion und eine Visaliberalisierung wegen Rückschritten bei Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit in der Türkei auf Eis gelegt worden. Ein EU-Beitritt scheint aktuell weiter entfernt denn je. © Adem Altan/afp
Ukraine EU
Im Dezember 2023 wurde der Beginn von Verhandlungen mit der Ukraine grundsätzlich beschlossen. Allerdings muss die Ukraine sämtliche Reformauflagen erfüllen. So waren nach dem letzten Kommissionsbericht manche Reformen zur Korruptionsbekämpfung, zum Minderheitenschutz und zum Einfluss von Oligarchen im Land nicht vollständig umgesetzt. Ohnehin gilt es als ausgeschlossen, dass die Ukraine vor dem Ende des Ukraine-Kriegs EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew laut EU-Vertrag militärischen Beistand einfordern – und die EU wäre offiziell Kriegspartei. © Roman Pilipey/afp
Kosovo EU
Kosovo hat einen Mitgliedsantrag eingereicht, jedoch noch nicht den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Das Land hat 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Die Freude darüber war damals bei den Menschen riesengroß. Das Bild macht auch deutlich, dass vor allem Menschen albanischer Herkunft im Kosovo beheimatet sind. Die Flagge Albaniens (links) ist ebenso zu sehen wie die des neuen Landes (hinten). Mehr als 100 Länder, darunter auch Deutschland, erkennen den neuen Staat an. Russland, China, Serbien und einige EU-Staaten tun dies aber nicht. Ohne die Anerkennung durch alle EU-Länder ist eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aber nicht möglich.  © Dimitar Dilkoff/afp

Georgien-Wahl: Drei Szenarien nach dem Wahlabend

Szenario 1 – Die Regierung erkennt das Ergebnis an, trickst aber: So oder so wird der Georgische Traum wohl stärkste Einzelpartei werden – und damit zwangsläufig den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten, wie Malerius erklärt. Dann könne Iwanischwilis finanzielle Stärke eine Rolle spielen. „Er kann versuchen, sein Geld einzusetzen, um Abgeordnete zu kaufen“, mutmaßt der Experte. „Wenn der Georgische Traum etwa 70 Parlamentssitze hat und die Opposition 80, dann halte ich für durchaus möglich, dass einfach sechs Abgeordnete ‚gekauft‘ werden.“

Szenario 2 – Die Regierung erklärt sich einfach zum Sieger: Parteieigene Umfragen des Georgischen Traums sehen die Partei bei knapp 60 Prozent. „Niemand glaubt, dass das in Reichweite ist“, sagt Malerius, „aber das könnte natürlich trotzdem einfach zum Ergebnis erklärt werden.“ Dann sei eine „Eskalation eigentlich absehbar“. „Ich habe die Oppositionsparteien auch immer wieder gefragt, was macht ihr dann, was passiert denn in so einem Fall?“, so Malerius. Die Antwort habe gelautet: „Wir lassen uns unseren Sieg nicht stehlen, dann gehen wir auf die Straße.“ Allerdings habe die Regierung auch die landesweiten Proteste gegen das nach russischem Muster erstellte „Agenten-Gesetz“ schlicht ausgesessen.

Szenario 3 – Ein friedlicher Machtwechsel gelingt: Oppositionspolitiker Tschiaberaschwili glaubt an eine kommende Koalitionsregierung. Ein „Manipulationsrisiko“ gebe es zwar. Aber: „Ich kann mir kaum vorstellen, dass es ein ‚Venezuela-Szenario‘ gibt, in dem einfach ein willkürliches Wahlergebnis verkündet wird“, sagt er. „Wenn die Wahlbeteiligung hoch ist, wird der Georgische Traum keine Chance haben.“ Notfalls seien die Menschen im Land auch „mobilisiert, ihre Wahl zu verteidigen“ – in Straßenprotesten. Schon vor der Wahl demonstrierten Zehntausende. „Wir werden in der Lage sein, eine friedliche Machtübergabe zu schaffen“, gibt er sich optimistisch. Ziel sei es dann vor allem, wieder Kurs auf EU-Beitrittsgespräche zu nehmen.

Ringen um die Macht in Georgien: Droht eine Eskalation?

Weder Malerius noch Tschiaberaschwili glauben, dass wie in Belarus 2020 oder in der Ukraine 2014 massive Gewalt von Sicherheitskräften gegen Demonstrierende droht. Sicherheitsberatern zufolge werde das georgische Militär nicht gegen die eigene Bevölkerung vorgehen, berichtet Malerius. Offen bleibt aber eben die Frage, was passiert, wenn die Proteste vorerst erfolglos bleiben.

Milliardär Bidsina Iwanischwili ist der Strippenzieher hinter der Regierungspartei „Georgischer Traum“.

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist Russland. Nicht im Sinne eines militärischen Einmarsches – dazu habe Moskau im Ukraine-Krieg wohl nicht die Mittel, sagen beide Männer übereinstimmend. Zwar nicht wahrscheinlich, aber doch denkbar, sei ein Hilfsersuchen Iwanischwilis über seinen heißen Draht in den Kreml, meint Malerius. Iwanischwili habe bereits angekündigt, nicht zu weichen, anders als etwa der einstige Präsident Eduard Schewardnadse nach Georgiens „Rosenrevolution“ 2003.

In den seit 2008 besetzten Gebieten Südossetien und Abchasien stehen weiterhin russische Truppen. Militärbeobachter sähen zwar keine Vorbereitungen oder Truppenverstärkungen. Theoretisch könne Russland aber „Signale der Destabilisierung“ setzen, sagt Malerius. Wenige hundert Meter von der „Grenze“ zu Südossetien verlaufe Georgiens wichtigste Ost-West-Verkehrsachse. Die Straße könne Russland beispielsweise blockieren: „Ich halte das nicht für wahrscheinlich, aber es ist auch nicht auszuschließen.“ (Florian Naumann)

Rubriklistenbild: © IMAGO/HELENE DECAESTECKER