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Dramatische Szenen in Gaza: Betroffene berichten von Tragödie um Hilfskonvoi
VonTadhg Nagel
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Die Tragödie um einen Hilfskonvoi in Gaza wirft Fragen auf. Israel spricht von einer Massenpanik. Berichte Überlebender zeichnen ein anderes Bild.
Gaza – Auch eine Woche nach den erschreckenden Szenen bei einer Hilfslieferung im Gazastreifen, die weit über 100 Palästinenser das Leben kosteten, konnten die Ereignisse des frühen 29. Februar noch immer nur teilweise rekonstruiert werden. Was passiert ist, und wer für das Blutbad im Israel-Gaza-Krieg verantwortlich ist, darüber gibt es sehr unterschiedliche Aussagen. Darstellungen von Augenzeugen weichen erheblich von der des israelischen Militärs ab.
Tal Heinrich, eine Sprecherin des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, behauptete am Donnerstag (7. März) gegenüber dem US-Sender Sky News erneut, dass die IDF „nicht auf verhungernde Menschen geschossen habe“. Israel sei nicht an der Katastrophe an der al-Rashid-Straße schuld. Zwar sei es „nicht so weit weg davon“ zu einem Vorfall gekommen, bei dem israelische Soldaten auf „einige“ Zivilisten gefeuert hätten, die eine Gefahr dargestellt hätten. Ein Großteil der Toten sei jedoch einer „tragischen Massenpanik“ zuzuschreiben - womit sie im Grunde lediglich frühere Erklärungen wiederholte. Bereits das am Sonntag vom israelischen Militärsprecher Daniel Hagari verkündete Ergebnis einer vorläufigen Untersuchung hatte ähnlich gelautet.
„Ihre Verzweiflung war riesig. Das macht der Hunger“ – eindeutige Hinweise auf israelisches Gewehrfeuer
So zweifelsfrei wie die IDF scheint das sonst aber niemand zu wissen. Der Uno-Mitarbeiter Georgios Petropoulos war in Nachhinein vor Ort - unter anderem im Al-Schifa-Krankenhaus, wo die Opfer der Katastrophe versorgt wurden. Im Spiegel erzählt er von seinen Eindrücken und den Gesprächen mit Augenzeugen und Betroffenen. Zunächst hebt er den Heldenmut der Ärzte und Helfer hervor, die allein im Al-Schifa-Krankenhaus rund 200 Menschen versorgten. Was genau passiert sei, hätten aber auch die Mediziner nicht endgültig feststellen können, so Petropoulos. Zweifelsfrei habe es zahlreiche Schussverletzungen gegeben, laut einem der Ärzte „viele Dutzend“. Es seien aber auch viele Brüche zu verzeichenen gewesen, wie sie bei Autounfällen typisch sind.
„Im Krankenhaus geht man aufgrund der schieren Menge von Schussverletzungen davon aus, dass es israelisches Gewehrfeuer war. Aber es gab auch Splitterverletzungen, womöglich von einem großkalibrigen Maschinengewehr“, so Petropulos. Beweise dafür gebe es aber keine. Auch die Überlebenden wüssten nicht genau, was passiert sei. Die Menschen seien in Panik geraten und übereinander gestürzt; es sei dunkel gewesen und „sehr chaotisch“ zugegangen. Trotz des Gewehrfeuers seien die Menschen teils mehrfach zu den Lastwagen gegangen, in der Hoffnung noch etwas von dem Mehl abzubekommen. „Ihre Verzweiflung war riesig. Das macht der Hunger: Menschen tun so etwas nur, wenn sie ums Überleben kämpfen“, ist er sich sicher.
Zehntausende warteten auf den Hilfskonvoi - „Es gab ein Gefühl der Hoffnung und sogar der Freude“
Bereits am Abend des 28. Februar hatten sich Zehntausende der im nördlichen Gazastreifen verbliebenen Palästinenser entlang der Al-Rashid-Straße im Westen von Gaza-Stadt versammelt, wie das israelische +972 Magazine schreibt. Unter ihnen waren auch der 22-jährige Abdel Jalil Al-Fayoumi, sein Onkel Abbas sowie sein Cousin Moatasem. Israelische Truppen hätten bereits am Abend die umstehenden Hochhäuser durchsucht und diese teilweise mit Panzern beschossen, so Al-Fayoumi gegenüber dem Magazin. Sein Onkel habe gehen wollen, doch die umstehenden Leute hätten ihnen versichert, dass die Razzien nur ein Einschüchterungsversuch seien.
„Es gab ein Gefühl der Hoffnung und sogar der Freude, dass wir Mehl bekommen würden, um es zu unseren Familien zurückzubringen“, so der junge Mann weiter. Noch vor Sonnenaufgang, um 4.45 Uhr Ortszeit, sei der Hilfskonvoi schließlich eingetroffen - und sofort von einer Menschenmenge umringt gewesen. „Ich konnte den Lastwagen nicht sehen, ich sah nur seine Lichter und die Menschen, die auf ihn zustürmten“, so Al-Fayoumi weiter. „Plötzlich brach heftiges Geschützfeuer von den israelischen Panzern aus. Ich wurde von meinem Onkel und meinem Cousin getrennt. Ich wusste nicht, was geschah; ich wollte nur überleben und fliehen. Alle schrien und flohen. Auf dem Boden lagen Leichen und Verwundete, die um Hilfe riefen.“
Große Anzahl von Schussverletzungen - hat die IDF „in den dichtesten Teil der Menge geschossen“?
Bis 9 Uhr morgens habe er sich verzweifelt umgesehen, seinen Verwandten jedoch nicht finden können. Mit seiner Tante sei er schließlich zum Al-Shifa-Krankenhaus gegangen, wo sie seinen Onkel Abbas vor einer Leiche in einer blutbesudelten weißen Decke gefunden hätten. Er habe erklärt, dass sein Sohn und er versucht hätten, hinter den Trümmern früherer Bombenangriffe in Deckung zu gehen, als die israelischen Streitkräfte das Feuer auf die Menge eröffnet hätten. Moatasem habe für eine Sekunde den Kopf gehoben und sei von einer israelischen Kugel getroffen worden.
Vor dem Gaza-Krieg: Die Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts in Bildern
Andere Augenzeugenberichte zeichnen ein ähnliches Bild, genau wie die Berichte aus den Krankenhäusern des Gazastreifens. Der Direktor des Kamal-Adwan-Krankenhauses sagte der New York Times, dass dort die Leichen von 12 durch Schüsse getöteten Menschen und weiteren 100 mit Schusswunden eingeliefert wurden. Der Interimsmanager des Al-Awda-Krankenhauses, Dr. Mohamed Salha, erklärte gegenüber der BBC, dass am Morgen des 29. Februar 176 Verletzte eingeliefert wurden, von denen 142 Schusswunden hatten. Ein UN-Beamter, der Al-Shifa nach dem Vorfall besuchte, erklärte gegenüber der BBC, dass die IDF laut Berichten „in den dichtesten Teil der Menge geschossen“ habe. (tpn)