Zweifel auch an Drittstaaten-Plan
Droht der EU wieder Asyl-Chaos? „Das Risiko ist durchaus real“
VonFlorian Naumannschließen
Schon wieder streitet die EU bei einem Gipfel übers Asyl. Politologe Raphael Bossong sieht Probleme – und nur eine herausfordernde Lösung.
Beim EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag und Freitag (17./18. Oktober) dürfte es kräftig im Gebälk ächzen. Anlass sind einmal mehr: Asyl und Migration. Obwohl die Zahl der ankommenden Geflüchteten offiziell zuletzt sogar sank. Polen hat dennoch mit seiner Ankündigung, das Asylrecht auszusetzen, für einigen Wirbel gesorgt.
Das Vorpreschen aus Warschau sei durchaus eine „gewisse Kampfansage“, sagt der Politikwissenschaftler Raphael Bossong im Gespräch mit IPPEN.MEDIA – wenn auch angesichts Polens genereller Haltung nicht direkt überraschend. Der Migrationsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik warnt davor, dass der erst im Mai nach zehn Jahren Streit geschlossene Migrationspakt wieder platzt: „Das Risiko ist durchaus real, dass wir diese Einigung zunehmend zerschießen.“ Dann könne erneutes Chaos drohen. Insbesondere, weil viele Elemente des Paktes ineinandergriffen.
EU-Deal zur Migration droht zu platzen: Auch Deutschland hat ein „Signal“ gesetzt
Polens Premier Donald Tusk begründete den Vorstoß mit gelenkten Migrationsströmen aus Belarus. Dessen ungeachtet sei ein Aussetzen des Asylrechts aber ein „offener Rechtsbruch“, betont Bossong – das bringe die Kommission in eine schwierige Lage. Und verschärfe „die aktuelle politische Dynamik“, in der „alle möglichen Staaten jetzt mit solchen Anmeldungen“ kommen.
Auch Deutschland habe in dieser Hinsicht mit den Grenzkontrollen ein Signal gesetzt: Die Einführung der allgemeinen Grenzkontrollen nach der Attacke in Solingen könne man zwar als Einschwenken auf den allgemein restriktiven Kurs der EU-Staaten werten – aber auch als „Destabilisierungssignal“ für einen „Unterbietungswettbewerb“. Immerhin: Den Schengen-Raum habe der neue Kurs trotz der aufgeheizten Debatte nicht „zerstört“.
Einige Staaten – inklusive der Bundesrepublik – dringen aber auch auf eine schnellere Umsetzung von Teilen des Paktes; etwa mit Blick auf „geschlossene Asyl-Verfahren in Grenznähe“. In solchen Fällen sollen unter anderem Menschen aus Ländern mit niedriger Asylanerkennungsquote an den Grenzen in Schnellverfahren einen Bescheid bekommen. Das erfordert entsprechende Einrichtungen. Eigentlich sollte diese Klausel ab 2026 greifen.
Experte Bossong sieht eine Beschleunigung skeptisch. „Wir wissen, dass auch in Deutschland in der Umsetzung alles immer sehr viel länger dauert“ – dabei habe die Bundesrepublik anders als Staaten an den EU-Außengrenzen nur an Flug- und Seehäfen Vorkehrungen für solche Verfahren zu treffen. Von den Ländern bis zu Flughafenbetreibern werde es schon dabei Bedenken, Forderungen und Einwände geben. Staaten an der EU-Außengrenze sind noch stärker gefordert. Und Ungarn verweigere sich dem Plan vollständig.
Asylpakt-„Kartenhaus“ wackelt – Melonis Lösung könnte (teurer) Einzelfall bleiben
„Der Kompromiss, der im Mai geschlossen wurde, war so kompliziert und unbefriedigend, weil er eben auch ein Kompromiss war, in dem viele Elemente ineinander greifen“, warnt der Experte. So haben man den Staaten an der EU-Außengrenze „Solidarität“ versprochen, wenn sie Ankommende lückenlos registrieren. „Wenn man sagt, jetzt dürft ihr registrieren, aber Solidarität gibt es in zwei Jahren – warum sollen die sich darauf einlassen?“ Es drohe ein Kartenhaus einzustürzen.
Bossong mahnte auch mit Blick auf die vielstimmig geforderten Abkommen mit Drittstaaten und ausgelagerten Asylverfahren zu Realismus. Giorgia Melonis frisch eröffnetes Asylzentrum in Albanien sei zwar „nicht so kategorisch abzulehnen, wie das meiner Meinung nach mit Ruanda musste“. Voraussichtlich aber werde das Modell sehr teuer sein und eher dazu beitragen, Menschen in andere EU-Länder zu lenken. Albanien aber wolle explizit nur für Italien die Rolle übernehmen – und andere Bereitwillige seien kaum in Sicht.
Asyl-Streit in der EU: Hoffnung auf Drittstaaten? „Man müsste sich noch mehr die Hände schmutzig machen“
Abkommen mit Drittländern, um Migrationsströme abzufangen, seien ebenfalls kritisch zu betrachten. Sie seien zwar möglich, aber kein „Gamechanger“. Die Türkei, Tunesien oder Marokko noch stärker einzuspannen, „das sehe ich beim besten Willen nicht“, warnte Bossong. „Das heißt: Wenn man wirklich in Richtung Drittstaaten weitergehen will, muss man sich noch mehr als bisher die Hände schmutzig machen. Und das tun wir schon, in sehr großem Umfang.“ Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen etwa lobe explizit Libyen und Tunesien – in beiden Fällen sei seit Jahren klar, dass systematisch Menschenrechtsverletzungen stattfänden.
Man könne zwar noch die ein oder andere Restriktion durchsetzen – letztlich müsse Europa aber vor allem „robust und krisenresistent“ werden, sich der Situation stellen. Asyl auszulagern aber sei „nebensächlich oder nicht ehrlich“: Gegen Entwicklungen im ukrainischen Kriegs-Winter, im Nahen Osten, Sudan oder am Horn von Afrika könne man sich nicht vollständig abschotten. Bossong zeigte sich allerdings skeptisch: „Das ist alles nicht schön und ich wünschte, ich könnte es konstruktiver sagen – aber ich sehe momentan leider nur sehr viele Forderungen und Ideen mit sehr, sehr vielen Risiken und wenig Realismus.“ Von der Leyen hatte sich zuletzt mit einem „Zehn-Punkte-Plan“ eingeschaltet. (fn)
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