Aprilscherz zu Nato-Chefposten
„Königin von Europa“? Estlands Regierungschefin Kallas bietet Putin und Russland vor Nato-Treffen die Stirn
VonChristiane Kühlschließen
Estlands Regierungschefin Kaja Kallas warnte schon vor Russland, als es kaum jemand hören wollte. Inzwischen prägt sie die Debatte. Nato-Generalsekretärin aber wird die unerschrockene Politikerin nicht.
Nein, Kaja Kallas wird nicht Nachfolgerin von Jens Stoltenberg an der Spitze der Nato. Eine entsprechende Meldung diese Woche des Online-Magazins Estonian World entpuppte sich als Aprilscherz. Die Ministerpräsidentin von Estland habe „die Unterstützung der Vereinigten Staaten, Frankreichs, Deutschlands und des Vereinigten Königreichs für das Amt des nächsten Nato-Generalsekretärs erhalten und wird damit die erste Frau und die erste Frau aus Ost- und Mitteleuropa an der Spitze des Bündnisses sein“, hatte das Magazin geschrieben und mit einem Foto von Kallas und Bundeskanzler Olaf Scholz garniert. Es gab bereits Gratulanten auf X. „Das war ein Aprilscherz von jemandem. Nicht wahr“, musste Kallas einräumen. Doch der Spaß ging noch weiter. „Kaja Kallas wird nicht neue NATO-Chefin, sondern wird zur Königin von ganz Europa ernannt“, meldete das Satiremagazin Le Chou News. „Der ist gut“, kommentierte Kallas; Kommentare zeigten die Estin mit Krone.
Estlands Ministerpräsidentin wurde tatsächlich kurz als Nato-Chefin diskutiert und ist auch als künftige EU-Chefdiplomatin im Gespräch. Doch die Skepsis ist groß bei manchen, denen die 46-Jährige zu forsch ist, zu feindselig gegenüber Russland. Kallas an der Spitze von Nato oder EU-Außenpolitik sei für viele Hauptstädte „heikel“, zitierte die US-Nachrichtenplattform Politico Europe anonyme EU-Quellen. Wolle man für solche Posten wirklich eine, die „Russen zum Frühstück esse“? Kaja Kallas antwortete prompt und zeigte den „lieben Politico-Europe-Lesern“ auf X ihr wahres Frühstück: Müsli mit Blaubeeren und einem Pott Tee.
Wenige Tage vor dem Nato-Außenministertreffen unterstützte Kallas in einem Interview mit dem estnischen Fernsehen diplomatisch den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte als Nachfolger Stoltenbergs – allerdings auch seinen Konkurrenten, Rumäniens erst spät ins Rennen eingestiegenen Präsidenten Klaus Iohannis. Der Kandidat müsse alle Verbündeten dazu bringen können, mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung (BIP) für die Sicherheit auszugeben, betonte sie. „Jemand aus einem Staat, der dies tatsächlich tut, ist dabei glaubwürdiger als jemand aus einem Land, das dies nicht tut“ – ein kleiner Seitenhieb auf den Favoriten Rutte: Die Niederlande geben derzeit nur rund 1,64 Prozent des BIP für die Verteidigung aus. In Estland sind es in diesem Jahr 3,2 Prozent. Auch brachte Kallas in dem Interview estnische Spitzenbeamte für den Posten des Vize-Generalsekretärs ins Spiel. Denn geographische Ausgewogenheit zwischen Ost und West müsse sein.
Kallas als Stimme der Osteuropäer in der Nato
Kallas und andere Osteuropäer wollen nicht nur aus Fairnessgründen gleiche Präsenz am Nato-Tisch. Sie haben aufgrund ihrer geographischen Nähe zu Russland auch eine andere Wahrnehmung der Gefahr, die von Moskau ausgeht – und werben beharrlich für ihre Sicht. Allen voran Kaja Kallas: Sie möchte die Ukraine in die Nato aufnehmen. Auf das BIP gerechnet ist Estland der weltgrößte zivile und militärische Unterstützer der Ukraine. Der estnische Geheimdienst warnte unlängst in seinem alljährlich veröffentlichten Sicherheitsbericht vor einem massiven russischen Truppenaufbau entlang der Grenze zu den baltischen Staaten und zum Nato-Neumitglied Finnland. Kein anderer Geheimdienst macht solche Berichte öffentlich.
Vor einem Monat schrieb Moskau Kaja Kallas zur Fahndung aus – offiziell, weil sie sowjetische Denkmäler in Estland entfernen ließ. Falls ihr das Angst macht, so zeigt sie es nicht. „Angst ist eine Falle, die Putin gegen uns alle in der freien Welt aufgestellt hat. Drohungen der russischen Führung und Bilder von Atomexplosionen im russischen Staatsfernsehen sollen unsere Völker verängstigen und unsere Entscheidungen beeinflussen“, sagte sie in einer viel beachteten Rede beim Matthiae-Mahl in Hamburg, zu dem die Hanseaten seit dem 14. Jahrhundert an jedem 24. Februar befreundete Mächte einladen. Seit zwei Jahren ist das auch der Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Kaja Kallas prägt die Ukraine-Debatten der EU
Kallas rief die Teilnehmer des edlen Traditionsdinners, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz, zu schnellen Hilfen für Kiew auf, etwa zur Lieferung von Munition. Die brauche die Ukraine gerade dringender als langfristige Zusagen: „Gemeinsam können wir der Ukraine helfen, diesen Krieg zu gewinnen. Wir haben die Ressourcen, die Wirtschaftskraft, das Fachwissen. Unsere Stärke ist größer als die Russlands. Wir sollten keine Angst vor unserer eigenen Macht haben.“ Das deutliche Wort scheut sie selten. So sagte sie bei ihrem kürzlichen Besuch bei Scholz in Berlin auf eine Frage zu den Gedankenspielen von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, den Ukraine-Krieg einzufrieren: „In einer Welt voller Gewalt wäre Pazifismus Selbstmord – ganz einfach ausgedrückt.“
Vor dem Ukraine-Krieg war manchem westeuropäischen Politiker die Mahnerin aus dem Nordosten zu anstrengend. Ihre Warnungen schlugen viele in den Wind. Doch inzwischen hört man ihr zu. „Da sich Estlands Warnungen vor einer russischen Aggression als richtig herausstellten, gewann Estland in den europäischen Debatten und Entscheidungsprozessen an Glaubwürdigkeit“, meint Kristi Raik, Vizedirektorin des International Centre for Defence and Security in Tallinn. „Estland prägte die Gestaltung des Narrativs mit, die Festlegung der Agenda und der Orchestrierung der EU-Politik als Reaktion auf den Krieg.“ Und das obwohl Estland ein winziges Land ist. Insbesondere Kallas selbst habe ständig im Rampenlicht gestanden, so Raik.
Von Kallas stammt etwa der inzwischen konkret diskutierte Vorschlag, als EU gemeinsam für die Ukraine Munition zu beschaffen. Am Rande des Brüsseler EU-Gipfels Mitte März betonte sie, dass die Ramstein-Koalition – der die 31 Nato-Mitgliedstaaten und 23 weitere Verbündete der Ukraine wie Australien, Japan und Südkorea angehören – stärker als Russland sei, wenn jedes Mitglied der Ukraine 0,25 Prozent seines BIP als Militärhilfe zur Verfügung stelle. Kanzler Scholz begrüßte den Vorstoß nach dem Gipfel.
Dieser Text erschien ursprünglich am 29.3.2024 und wurde aus Anlass der Aprilspäße um eine Beförderung von Kaja Kallas aktualisiert.
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