Buch solle „Verständnis wecken“
Ein „Tagesschau“-Insider berichtet: „Expertencanceln“ – aber auch wildes Misstrauen
VonFlorian Naumannschließen
„Zwischen Nachrichten und Meinungsmache“: Ein Ex-„Tagesschau“-Mitarbeiter schreibt aus dem Nähkästchen. Das steht im Buch:
Sag mir, wie hältst du es mit .... der „Tagesschau“? Gerade die 20-Uhr-Ausgabe der ARD-Nachrichten ist noch immer ein TV-Fixpunkt. 40,5 Prozent Marktanteil zur Primetime ermittelte der NDR für das Jahr 2024. Aber die Antwort auf die eigentlich harmlose Eingangsfrage kann mittlerweile ein Politikum sein. Es gibt Stimmen, die das öffentlich-rechtliche Newsflaggschiff für politisch gefärbt halten.
Eine Studie der Uni Mainz ging vergangenes Jahr nicht ganz so weit. „Themenvielfalt und Akteursvielfalt“ seien in neun untersuchten öffentlich-rechtlichen Formaten (inklusive „Tagesschau“) „durchweg hoch“ – aber „eine leichte Linksschiefe“ attestierten die Autoren eben auch. Wie quasi dem gesamten deutschen Mediensystem. Was steckt dahinter?
Alexander Teske hat sechs Jahre für die „Tagesschau“ beim NDR in Hamburg die Themen geplant, bis Sommer 2024. Nun zieht der Journalist mit seinem Buch „Inside Tagesschau“ (LMV-Verlag, 22,- Euro) aus, um zu erklären, wie er der Frankfurter Rundschau sagt. Aber auch, um zu kritisieren. Auf dem Cover prangt der eher drastische Zusatz „Angepasst. Aktivistisch. Abgehoben.“, der Inhalt ist etwas ausgewogener. Es geht um Mechanismen des Nachrichtengeschäfts, um eine Redaktion, in der schon rein personell gesellschaftliche Minderheiten wenig Raum haben. Oder um die umstrittene Frage, wie Nachrichtenjournalismus mit der AfD umgehen sollte.
Ex-Mitarbeiter findet ARD-„Tagesschau“-Redaktion „elitär“ – der Querschnitt fehle
„Elitär“ lautet Teskes Urteil über die Zusammensetzung der Redaktion. Schon weil ein abgeschlossenes Studium Voraussetzung für ein Volontariat ist, gebe es nur Akademiker bei der „Tagesschau“. „Aufgrund der Lage in Hamburg sind es viele Norddeutsche – aber es sind eben auch generell fast nur Westdeutsche“, sagt der gebürtige Ostdeutsche im Interview. Verwundert habe ihn, dass es wenige Migrantinnen und Migranten – und die vor allem als Sprecher – gebe, dass Frauen in Führungspositionen und Schwerbehinderte in der Redaktion fehlen.
Mein Anliegen war auch, Verständnis zu wecken, in sachlicher Sprache, und nicht etwa als eine Art Rachefeldzug eines enttäuschten Mitarbeiters.
Das gelte freilich auch für viele private Medien. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei aber „in einer ganz anderen Verantwortung“, erklärt Teske der FR seine Kritik. „Er müsste Vorbild sein und eher einen Querschnitt der Gesellschaft abbilden. Das muss man, wenn man für die ganze Gesellschaft Nachrichten machen will.“ Eine Perspektive etwa der „Ärmeren“ einzunehmen, sei sonst schwer – zumal die „Tagesschau“-Redaktion selbst keine Beiträge recherchiere und fertige und so wenig Kontakt zur „normalen Bevölkerung“ habe, während etwa ein MDR-Redakteur durchaus die Stimmung im Osten des Landes erlebe. Die Beiträge liefern die Redaktionen der Dritten im In- und Ausland auf Anfrage zu.
„Gesinnungsjournalismus“ bei der „Tagesschau“: „Würde niemand so sagen, aber ...“
Die brisanteste Frage ist aber vielleicht die mit dem populistischen Beiklang: Gibt es „Gesinnungsjournalismus“ in der „Tagesschau“? „Das würde so niemand sagen, aber es gibt doch starke Indizien dafür“, sagt Teske unserer Redaktion. Er fügt hinzu: „Ich weiß aber gar nicht, ob das den Handelnden bewusst, oder ein unbewusster Prozess ist. Dass man eben einfach denkt: ‚Ja, aber wenn wir das jetzt groß machen, dann hat das diese und jene Wirkung.‘“
Teske nennt in „Tagesschau inside“ Beispiele. Etwa, dass er große Widerstände dagegen erlebte, den Mord an einer jungen Frau bei Wiesbaden oder einen Todesfall nach einer physischen Attacke in Köthen mit größeren Beiträgen zu bedenken. In beiden Fällen waren die Täter Männer mit Migrationshintergrund, im zweiten vergifteten anschließend weitere Gerüchte das Klima. Oder dass eine Chefin vom Dienst auf einen kritischen Bericht über den Corona-Impfstoff von AstraZeneca verzichtete, um Impfmüdigkeit nicht zu befördern. Teske meint: „Diese Überlegungen sind nach meinem Verständnis eigentlich nicht unsere Aufgabe. Die ist es, zu prüfen, ob es eine relevante Nachricht ist. Das Weitere soll der Empfänger für sich selber entscheiden.“
„Tagesschau“ und die AfD: Ist es journalistische Aufgabe, eine „Partei kleinzuhalten“?
Eng verwandt scheint die Frage nach dem Umgang mit der AfD. Einer Studie zufolge befördert radikale Rhetorik aus dem Munde von Politikern der Mitte den Erfolg von radikalen Parteien. Aber wird er gedämpft, wenn die Radikalen selbst kaum medial vorkommen? Teske bezweifelt das stark. „Es ist meiner Meinung nach nicht Aufgabe von Journalisten eine Partei ‚klein zu halten‘”, sagt er. „Aber wenn man das schon möchte, stelle ich die These in den Raum, dass die Strategie, die AfD mit Missachtung zu strafen, nicht von Erfolg gekrönt war.“
Mit sozialen Themen wie Mindestlohn oder Mieten komme die AfD in der „Tagesschau“ jedenfalls nicht vor – auch, wenn Ex-Chefredakteur Gniffke das laut Teske forderte, wie in „Inside Tagesschau“ nachzulesen ist. Vielleicht wären genau diese Inhalte ein „Überraschungsmoment“, argumentiert Teske. Ohnehin vermisst er verbindliche Maßstäbe – schon bei der Frage, welche Sportereignisse in der „Tagesschau“ vorkommen. Aber auch bei der, welche Pressekonferenzen der Kanal Tagesschau24 zeigt. Solcherlei hänge letztlich davon ab, „wer gerade mit welcher Laune Dienst hat“: „Mich hat überrascht, wie unzuverlässig die Tagesschau in dieser Hinsicht ist.“
Lachanfälle, Versprecher, Verwechslungen: Diese „Tagesschau“-Pannen bleiben unvergessen




Mehr Vielfalt fordert Teske bei der Auswahl von Expertenstimmen. Teils beruhe deren Auswahl auf Banalitäten, heißt es im Buch: Wer ist schnell verfügbar, wer spricht gerne und flüssig vor der Kamera? Andere Fälle haben Teske irritiert: Etwa, dass der frühere Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat nach dem je nach Sichtweise erläuternden oder relativierenden Hinweis auf eine Rolle der Nato-Osterweiterung bei Russlands Überfall auf die Ukraine von der Tagesschau-Mattscheibe dauerhaft verschwand. „Ich finde es sehr fragwürdig, Experten zu canceln, wenn sie nicht ins Bild passen – oder gezielt nach Experten zu suchen, die das wiedergeben, was man gerne hören möchte.“
Früherer „Tagesschau“-Mitarbeiter wundert sich über Unwissen: „Am Morgen rufe das Kanzleramt an ...“
Ungeachtet dieser Fragen: Im Land gebe es „großes Unwissen“ über die Arbeit an Deutschlands meistgesehener Fernseh-Nachrichtensendung, sagt der Autor. Das reiche bis zu kruden Theorien – etwa, „am Morgen rufe das Kanzleramt an und bestimme die Themen“. Echten Einfluss schreibt Teske hingegen allgemeinen Mechanismen der Nachrichtenbranche zu: Den steten Blick auf das Angebot der Konkurrenz. Einen gefühlten Quotendruck, der auch zu einer Boulevardisierung der Sendung führe. Oder der Wunsch „Erster“ mit einer News zu sein – obwohl dieser Druck für die Öffentlich-Rechtlichen eigentlich geringer ist. „Ich würde mich lieber dafür feiern, ein gutes Gespräch im Programm zu haben oder gute Beiträge“, sagt Teske.
Dennoch: „Aus einzelnen Fehlern wird oft etwas konstruiert und eine ‚Systemfrage‘ gestellt. Da heißt es dann, müsste man gleich den ganzen öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschalten“, sagt Teske. „Das sehe ich nicht so. Auch, weil eine Frage immer lautet: Was kommt danach oder stattdessen?“
Der NDR will sich unterdessen gegen Teskes Darstellungen wehren. Er sendet unserer Redaktion nach Veröffentlichung dieses Artikels ein Statement zu. Darin heißt es: Die Vorwürfe seien einseitig und beruhten auf „subjektiven Erinnerungen eines einzelnen, ehemaligen Mitarbeiters“. Das Buch werde derzeit auf mögliche Rechtsverletzungen geprüft. (fn)
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