„Weckt man jetzt falsche Erwartungen“

Immer mehr Experten einig: Rente mit 70 unausweichlich

  • Lisa Mayerhofer
    VonLisa Mayerhofer
    schließen

Die Ampel-Koalition hat der „Rente mit 70“ eine Absage erteilt. Doch immer mehr Experten fürchten: Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters ist unausweichlich, damit das Rentensystem nicht kollabiert.

Berlin – Für die Ampel-Koalition ist es ein Tabuthema: die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Doch immer mehr Experten fordern eine Reform des Rentensystems mit einer Anhebung des Eintrittsalters. Denn sonst würden die steigenden Beitragssätze die jüngeren Generationen übermäßig belasten.

Arbeitsminister Heil: „Eine Rente mit 70 wird es mit mir nicht geben“

Schon jetzt steigt das gesetzliche Renteneintrittsalter – und zwar schrittweise bis 2031 auf 67 Jahre. Wer 2024 abschlagsfrei in Rente gehen will, muss 66 Jahre alt sein. Wer auf besonders viele Versicherungsjahre kommt, darf sogar etwas früher abschlagsfrei in den Ruhestand treten – umgangssprachlich „Rente mit 63“ genannt, auch wenn hier ebenso das Alter gerade schrittweise auf 65 angehoben wird. Experten diskutieren sogar bereits eine Rente mit 70 für bestimmte Jahrgänge.

Die Ampel-Koalition will daran nicht rütteln: Zuletzt hatte sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in einem Interview mit den Zeitungen der Funke Mediengruppe gegen eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters ausgesprochen. „Eine Rente mit 70 wird es mit mir nicht geben“, sagte Heil. Auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) ist gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. Die Ampel-Regierung hat sich zudem im Koalitionsvertrag gegen Rentenkürzungen und eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters gewandt.

Wann kommt die Rente mit 70? Immer mehr Experten sind für eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. (Symbolfoto)

Stattdessen will Heil in der kommenden Woche das neue Rentenpaket II vorstellen. Darin sollen das Rentenniveau festgeschrieben und die sogenannte Aktienrente eingeführt werden. Das Rentenniveau soll auch langfristig nicht auf weniger als 48 Prozent eines Durchschnittslohns sinken. Auf Betreiben vor allem der FDP soll mithilfe neuer Schulden ein Kapitalstock angelegt werden, mit dem an den Kapitalmärkten eine Rendite erwirtschaftet werden soll, die ab Mitte der 30er-Jahre die Beiträge zur Rentenversicherung entlasten soll.

Wann kommt die Rente mit 70? Wirtschaftsweiser fordert Anhebung des Rentenalters

Experten geht das aber nicht weit genug – sie warnen vor den Konsequenzen, wenn das Rentensystem nicht ausreichend reformiert wird. So hat jüngst der Wirtschaftsweise Martin Werding Arbeitsminister Heils Haltung zum Renteneintrittsalter kritisiert. „Weckt man jetzt falsche Erwartungen, in dem man sagt, man wolle nie mehr über das Thema reden, wird man die Menschen zwangsläufig irgendwann enttäuschen müssen“, sagte Werding den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Als Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verwies er auf Empfehlungen des Gremiums, wonach die Regelaltersgrenze alle 20 Jahre um ein Jahr angehoben werden sollte. „Dann reden wir eben nicht mehr über die Rente mit 67, sondern mit 68 und dann irgendwann mit 69. Erst etwa 2090 würden wir ein Rentenalter mit 70 erreichen, wenn die Lebenserwartung weiter so steigt wie bislang angenommen.“ Das liege also in ganz weiter Ferne. „Man sollte also vorsichtig sein, wie man über solche Vorschläge kommuniziert, die eigentlich vergleichsweise moderat sind. Denn sie passen einfach zu den demografischen Szenarien, vor denen wir stehen.“

Studie zur Rente: Beitragssätze könnten jüngere Generationen bald massiv belasten

Das veranschaulicht auch eine neue Studie, die von den Familienunternehmern und den Jungen Unternehmen in Auftrag gegeben wurde. Sie legt nahe, dass die Sozialabgaben massiv steigen werden, wenn keine grundsätzlichen Reformen beschlossen werden. Demnach könnte der Gesamtbeitragssatz für die Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung bis zum Jahr 2050 von aktuell rund 40,9 Prozent auf mehr als 50 Prozent ansteigen, wenn nichts unternommen werde. Das Problem: Der Kipppunkt sei aber schon 2030 erreicht, so die Gutachter Christian Hagist und Stefan Fetzer. Ab diesem Punkt werde der Sozialstaat, wie wir ihn aktuell kennen, demnach weder finanzierbar noch reformierbar sein.

Das liegt unter anderem am Umlageverfahren, auf dem das deutsche Rentensystem basiert: Dabei zahlen die jetzt Erwerbstätigen die Renten der Älteren. Durch den demografischen Wandel sinkt aber die Zahl der Erwerbstätigen gegenüber die der Ruheständler, es beziehen also immer mehr Menschen Gelder, während immer weniger eingezahlt wird. So kamen in den 1990er Jahren 20 Rentnerinnen und Rentner auf 100 Erwerbsfähige, nach 2030 werden es 40 Rentner sein, Mitte der 2060er Jahre kommen nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes sogar mehr als 45 Rentner auf 100 Erwerbsfähige. Das heutige Rentensystem führt also zu einer hohen Belastung der erwerbstätigen Bevölkerung, die die Renten finanziert.

Als Folge befürchten die Ökonomen, dass die Beitragssätze so stark steigen werden, dass die junge Generation den Generationenvertrag einseitig aufkündigt – entweder, indem sie abwandert oder auf Schwarzarbeit ausweicht. Sie fordern schnelle Reformen - und schlagen dabei unter anderem eine Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung vor.

Ökonomin über eine Reform des deutschen Rentensystems: „Wir brauchen den Mut zum Weitblick“

Auch das renommierte ifo Institut plädiert für die Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung. Die Niederlande, Schweden und Finnland hätten das bereits beschlossen, sagte ifo-Rentenexperte Joachim Ragnitz im Januar. Die Niederländer müssten bei einer Verlängerung der Lebenserwartung um drei Jahre zwei Jahre länger arbeiten, ein Jahr länger bekämen sie Rente. Das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen bleibe damit stabil bei rund 40 Prozent, statt auf fast 50 Prozent zu steigen, schrieben die Dresdner Wirtschaftsforscher in einem Aufsatz.

Wenn die Rentensteigerungen an die Inflationsrate gekoppelt würden statt wie heute an die Lohnsteigerungen, würde das den Anstieg der Rentenausgaben ebenfalls bremsen. In Deutschland könnten 65-Jährige heute mit durchschnittlich zehn bis elf Jahren „Lebenserwartung bei guter Gesundheit“ rechnen. Nach dem niederländischen Modell würde sich das Renteneintrittsalter bis 2061 schrittweise auf 69 Jahre erhöhen.

Im Tagesspiegel schlussfolgert die Ökonomin Ruth Maria Schüler vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln: „Wir brauchen keine Zeitenwende für die gesetzliche Rente. Wir brauchen den Mut zum Weitblick, um das deutsche Rentensystem resilient gegenüber demografischen Veränderungen zu machen. Eine dynamische Anpassung der Regelaltersgrenze an die Lebenserwartung wäre ein Schritt in diese Richtung.“

Mit Material von Reuters und der dpa

Rubriklistenbild: © IMAGO / Andreas Prost

Mehr zum Thema