Gastbeitrag Prof. Achim Truger
Reform der EU-Fiskalregeln: Warum strikte Grenzwerte und hohe Strafen nicht funktionieren
VonProf. Dr. Achim Trugerschließen
Die EU-Kommission will die Schuldenregeln für die Mitgliedsländer umfassend überarbeiten. Danach sollen hoch verschuldete Länder künftig mehr Flexibilität beim Schulden-Abbau erhalten. Doch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) lehnt die Pläne als unzureichend ab. Dabei seien die Vorstellungen aus Brüssel ein „weiser Kompromissvorschlag“, schreibt der Wirtschaftsweise Prof. Achim Truger im Gastbeitrag. Die Gründe.
Seit Einführung der EU-Fiskalregeln 1992 im Maastricht-Vertrag wurden die bekannten Grenzwerte von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das staatliche Haushaltsdefizit und 60 Prozent für den Schuldenstand in vielen Mitgliedstaaten sehr häufig überschritten. Theoretisch gibt es strikte Anpassungsvorschriften und am Ende drohen hohe Strafzahlungen bei Nichteinhaltung. Doch sanktioniert wurde bislang niemand. Seit der Coronakrise stieg die durchschnittliche Schuldenstandsquote im Euroraum bis 2022 auf 91,6 Prozent. Deutschland lag bei 66 Prozent, Spanien, Portugal und Frankreich bei über 110 Prozent und Italien sogar bei 144 Prozent. Krisenbedingt sind die Fiskalregeln noch bis 2023 ausgesetzt; 2024 sollen sie aber in reformierter Form wieder angewandt werden.
Stimme der Ökonomen
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Die EU-Kommission hat kürzlich ihren Reformvorschlag vorgelegt. Einerseits sollen die Regeln transparenter und verbindlicher werden, andererseits sollen sie aber auch mehr Zeit für Anpassungen geben. Die genauen Anpassungspfade sollen nach einer Risikoanalyse zwischen Kommission und den Mitgliedstaaten länderspezifisch festgelegt werden. Die Höhe möglicher Strafzahlungen soll abgesenkt werden. Schon bahnt sich Streit an. Bundesfinanzminister Christian Lindner ist die Reform nicht strikt genug, er beharrt auf für alle Länder einheitlichen numerischen Zielen und verbindlichen jährlichen Vorgaben für den Abbau der Schuldenstandsquote. Sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire warf Lindner daraufhin vor, „alte und ineffiziente Ideen durch die Hintertür einzuführen“.
Neue EU-Schuldenregeln: Zusammenprall ökonomischer Weltanschauungen
Bei der Debatte prallen ökonomische Weltanschauungen aufeinander. Befürworter strikter Regeln und harter Strafen gehen davon aus, dass die Konsolidierung letztlich eine Frage des politischen Willens ist. Wenn Zielvorgaben nicht eingehalten werden, schließen sie daraus, dass die Politik durch härtere Regeln oder Strafen dazu gezwungen werden muss.
Befürworter von mehr Flexibilität weisen dagegen darauf hin, dass eine durch harte Regeln verordnete Kürzungspolitik die Wirtschaft schwächt und Arbeitslosigkeit erzeugt, wodurch die Steuereinnahmen sinken und die Sozialausgaben steigen. Das wiederum verhindert eine erfolgreiche Konsolidierung und erhöht kurzfristig sogar eher die Schuldenstandsquote. Hohe Strafzahlungen würden die Misere zusätzlich vergrößern.
Neue EU-Schuldenregeln: Weiser Kompromissvorschlag
Letztlich sind beide Positionen nicht ganz falsch: Einerseits wird ohne politischen Willen und Verbindlichkeit der Schuldenabbau nicht gelingen. Andererseits kann strikte Konsolidierung in eine tiefe Krise führen, wie die Erfahrungen der südeuropäischen Länder in der Eurokrise zeigen. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Kommissionsvorschlag als geradezu weise, denn er lässt einerseits den Staaten mehr Zeit beim Schuldenabbau, macht die Anpassung andererseits aber transparenter und verbindlicher. Sie soll sich nun auf Größen beziehen, die anders als das Haushaltsdefizit oder die Schuldenstandsquote von den Staaten nachprüfbar und tatsächlich aus eigener Kraft eingehalten werden können: Die Staaten müssten vier bis sieben Jahre nach einem mit der Kommission abgestimmten Plan strikte Obergrenzen für die Staatsausgaben einhalten.
Neue EU-Schuldenregeln versprechen leichtere Überwachung
Dadurch würde das Haushaltsdefizit schrittweise wirtschaftsverträglich auf ein Niveau schrumpfen, bei dem die Schuldenstandsquote automatisch auf einen nachhaltigen Pfad in Richtung des unveränderten Zielwertes von 60 Prozent einschwenkt. Überschreitungen der Ausgabengrenzen würden mit einem Defizitverfahren bestraft. Die Einhaltung der Ausgabengrenzen wäre viel leichter zu überwachen und daher auch verbindlicher als die bisherigen komplizierten und erfolglosen Regeln.
Der Grundsatzstreit ist durch den Kommissionsvorschlag also eigentlich längst geschickt überbrückt. Für die letzten technischen Details sollte sich eine konstruktive Lösung finden lassen, wenn die Politik in den Mitgliedstaaten verbal abrüstet und nicht wie bisher der Versuchung erliegt, den Streit wegen durchschaubarer innenpolitischer Motive anzufachen.
Zum Autor: Professor Achim Truger ist Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Professor für Staatstätigkeit und Staatsfinanzen an der Universität Duisburg-Essen.