„Domino-Effekt“ befürchtet

Milliardenloch im Gesundheitssystem: Chef einer Gesetzlichen Krankenkasse warnt vor Kollaps

  • VonMark Simon Wolf
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Ein wachsendes Milliarden-Defizit belastet die Gesetzlichen Krankenkassen. GKV-Chefs befürchten einen Systemzusammenbruch, sollte die zukünftige Regierung nicht unverzüglich eingreifen.

Berlin – Die Finanzlage der Gesetzlichen Krankenkassen spitzt sich weiter zu: Laut einem Bericht von Politico belief sich das Defizit im Jahr 2024 auf bis zu 6,2 Milliarden Euro – und damit über 500.000 Euro mehr als von dem GKV-Spitzenverband im Dezember noch angenommen. Der Schätzkreis der GKV hatte im Oktober sogar nur mit einer Beitragslücke von 4,9 Milliarden Euro gerechnet. Andreas Storm, Vorsitzender der DAK Gesundheit, schlug in einem Podcast der ÄrzteZeitung Alarm und warnte vor einem „Domino-Effekt“ – vergleichbar mit dem Flächenbrand im Bankensektor während der Finanzkrise 2008/09.

Minus der Gesetzlichen Krankenkassen steigt auf über sechs Milliarden Euro – DAK-Chef warnt vor Kollaps

Sollten einzelne Krankenkassen in die Zahlungsunfähigkeit rutschen, könnten Teile der Kassenlandschaft an den Rand des Zusammenbruchs kommen, erklärte Storm. Ein derartiges Szenario ist nicht unwahrscheinlich, immerhin sind von der finanziellen Schieflage rund 95 Prozent der Gesetzlichen Krankenkassen betroffen: So meldete der Verband der Ersatzkassen, dem die Techniker Krankenkasse, Barmer und DAK angehören, unlängst ein Minus von 2,5 Milliarden Euro. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) beziffern das Defizit auf 1,5 Milliarden Euro, die Betriebskrankenkassen auf 1,4 Milliarden Euro und die Innungskrankenkassen (IKK), die besonders kleinere Betriebe und Selbstständige versichern, auf 622 Millionen Euro.

Aus den Budgetverhandlungen zwischen Krankenhäusern und den Krankenkassen drohen in den kommenden Wochen zudem weitere Zusatzkosten, die der Schätzkreis auf weitere eine Milliarde Euro beziffert. Durch das Defizit könnte der Rücklagenbestand der GKV von 8,3 Milliarden Euro im Jahr 2023 künftig auf zwei bis 4,7 Milliarden Euro sinken.

Beitragsstopp, Zuschüsse und Bürgergeld: Krankenkassen fordern mehr Unterstützung von neuer Regierung

Laut Storm sei die Gesundheitsversorgung somit im schlechtesten Szenario nur noch für zweieinhalb Tage gesichert. „Das ist völlig unzureichend und zeigt, dass die Funktionsfähigkeit des Systems gefährdet ist“, ergänzt der DAK und appelliert an die neue Bundesregierung: Die Branche benötige ein politisches Sofortprogramm innerhalb der ersten sechs Monate, das direkte Maßnahmen zur Stabilisierung der Kassenlandschaft umfasst:

  • Beitragserhöhungen stoppen. Anfang des Jahres wurde der durchschnittliche Zusatzbeitrag auf ein Rekordniveau von 2,5 Prozent angehoben – 0,8 Prozentpunkte mehr als 2024. Insgesamt liegt der Gesamtbeitragssatz der GKV nun zwischen 16,2 und 17,2 Prozent, je nach Krankenkasse. Für Storm ist die Belastung der Versicherten zu hoch und könnte sich langfristig negativ auf das Konsumklima auswirken. Übrigens spricht sich auch TK-Chef Jens Baas für einen Beitragsstopp aus: „Jetzt sind wir bei 17, 18 Prozent und die Beiträge werden auf über 20 Prozent steigen, wenn weiterhin nichts passiert“, erklärte Baas gegenüber dem Focus.
  • Staatliche Finanzierung versicherungsfremder Leistungen: Kosten für Familienversicherungen, Mutterschaftsleistungen oder die medizinische Versorgung von Sozialhilfeempfängern sollten nicht aus Beiträgen der Versicherten gedeckt, sondern durch Steuermittel finanziert werden. Ansonsten seien die Kosten zu hoch, meint Storm, gibt aber auch zu: „Da sind die Möglichkeiten allerdings begrenzt.“ Auch Baas fordert, dass der Staat besonders bei den Bürgergeldempfänger die finanzielle Hauptlast trägt: So sei der staatliche Beitrag von 100 Euro pro Versicherten zu wenig. Die Differenz zu den Gesamtkosten von 300 Euro zahlen „unsere Mitglieder und die Arbeitgeber“.
Blick in die Zukunft der Krankenkassen: Die Chef der DAK und Techniker Krankenkasse warnen vor einen Kollaps des Systems – wenn die Politik nicht gegensteuert.

Reform der Gesundheitsversorgung: Fortschritt nicht durch „überzogenen Datenschutz“ blockieren

Baas sieht ebenfalls Handlungsbedarf auf politischer Ebene und wünscht sich eine generelle Umverteilung im Gesundheitssystem. Speziell in der Organisation, etwa dem Zusammenspiel zwischen stationären und ambulanten Bereich, gehe eine Menge Geld verloren: „Ich bin überzeugt, dass extrem viel Potenzial darin liegt, die Menschen besser durch das System zu leiten“, erklärt Baas und verweist auf unnötige Behandlungen. Laut Baas liegt ein grundlegendes Problem im Abrechnungsmodell: Umfangreiche, zeitintensive Beratungen sind für Ärzte finanziell weniger attraktiv als kurzfristige Zusatzbehandlungen – selbst wenn diese medizinisch nicht immer notwendig sind.

Neben politischen Reformen sieht Baas auch die Digitalisierung als wichtigen Hebel für ein effizienteres Gesundheitssystem. Um diesen Schritt allerdings tatsächlich umzusetzen, dürfe der Fortschritt nicht durch „überzogenen Datenschutz oder andere Totschlagargumente“ blockiert werden.

Rubriklistenbild: © Robert Schlesinger/dpa