Lhoist und Rheinkalk
Der „Everest“ der deutschen Industrie: Wie die größte Kalkfirma der Welt klimaneutral werden will
VonAmy Walkerschließen
Der Wirtschaftsstandort Deutschland steht in der Kritik. Manche befürchten sogar eine Deindustrialisierung. Doch der größte Kalkhersteller der Welt will hier bleiben – und investiert.
Brüssel/Wülfrath – Die deutsche Industrie ist aktuell von vielen Problemen geplagt. Einige Unternehmen drohen sogar damit, deswegen abzuwandern. Deutschland sei als Standort unattraktiv – zu teuer, zu bürokratisch. Doch es gibt auch positive Entwicklungen. Es finden auch noch Investitionen statt, die das Gegenteil bezeugen.
So auch gerade in Wülfrath, in Nordrhein-Westfalen. Der weltweit größte Hersteller von Kalk und dessen Erzeugnissen, die Lhoist Gruppe, betreibt dort Europas größtes Kalkwerk. Es ist energieintensiv und aktuell sehr klimaschädlich – Lhoist produziert momentan mehr CO₂ als Kalk. Ein guter Kandidat für die Abwanderung ins Ausland könnte man meinen. Doch genau dort werden gerade Milliarden investiert, um die gesamte Branche nachhaltig in Deutschland und Europa zu halten. Dafür hat Lhoist Deutschland im September sogar den Deutschen Nachhaltigkeitspreis erhalten.
Lhoist: 1,8 Millionen Tonnen CO₂ werden in Wülfrath jährlich emittiert
Einer der Personen, der bei Lhoist für diese Entwicklungen zuständig ist, ist Andreas Bode. Er ist in Belgien der Vice President für CO₂ und Prozessinnovation – damit trägt der Ingenieur also eine hohe Verantwortung. Er beaufsichtigt die verschiedenen Projekte zur Dekarbonisierung der Kalkindustrie. Eines davon, im beschaulichen Wülfrath, hat gerade von der EU grünes Licht für Fördermittel in dreistelliger Millionenhöhe erhalten. Ein weiteres, das in Frankreich in Kooperation mit Air Liquide läuft, befindet sich gerade in der Phase der „milliardenschweren Schreibtischarbeit“, wie es Andreas Bode selbst ausdrückt. Auch dieses Vorhaben wird von der EU gefördert.
Die Kalkindustrie ist zusammen mit der Zementindustrie für ganze 25 Prozent der Industrieemissionen in der EU verantwortlich. Das waren 2022 insgesamt 27 Millionen Tonnen CO₂. Allein in Wülfrath werden 1,8 Millionen Tonnen emittiert. Das Problem nur: die meisten Emissionen - zwei Drittel davon - die in der Kalkindustrie entstehen, entstehen nicht etwa durch Energieverbrauch, sondern sind Teil des Prozesses zur Gewinnung des gewünschten Produkts. Anders gesagt: Die Emissionen sind unvermeidbar.
Nun könnte man vielleicht meinen, dass die Lösung darin besteht, Kalk nach und nach zu ersetzen. So wie wir Kohle ersetzen, könnten wir auch eine Kalkalternative finden, oder? So einfach ist das leider nicht. Das wird klar, wenn man sich vor Augen führt, wo überall Kalk verwendet wird und wozu.
Kalk fungiert in vielen Industrien als eine Art „Reiniger“. So wird es in der Stahlbranche verwendet, oder in der Glasindustrie. Damit ein Glas klar und nicht trüb wird, muss Kalk verwendet werden. Es wird auch in der Trinkwasseraufbereitung verwendet. Ganz anders funktioniert der Stoff in der Papierbranche: Dort sorgt Kalk dafür, dass das Papier, auf dem wir später schreiben wollen, gut beschreibbar, reißfest und weiß wird. Auch als Baustoff kommt Kalk seit langer Zeit zum Einsatz, als eine Art Putz an den Wänden. Neue Technologien setzen ebenfalls auf Kalk, zum Beispiel für die Herstellung von Batteriematerialien und Elektromobilität.
Kalk ist also irgendwie überall mit dabei, ist schwer zu ersetzen und noch dazu ein echter Klimakiller. An letzterer Stelle wollen aber Andreas Bode und sein Kollege Martin Volmer ansetzen. Sie müssen das Unmögliche möglich machen. Nicht umsonst hat das Dekarbonisierungsprojekt in Wülfrath den Namen „Everest“ erhalten.
Lhoist muss von Kohle auf Erdgas umstellen – und dann auf Biomasse
„Im ersten Schritt sind wir natürlich an die Emissionen gegangen, die wir ersetzen können. Also vorrangig die Energie, die wir für unsere Verbrennungsanlagen brauchen“. Lhoist ist gerade dabei, von Kohle auf Erdgas umzustellen. „Erdgas ist jetzt an vielen Stellen natürlich auch ein Problem“, wie es Bode formuliert, weshalb sie schon weiter gesucht haben und jetzt auf Biomasse gekommen sind. Und zwar die Biomasse, für die sonst wenig Verwendung gefunden werden kann. „Oliven- und Traubenkerne zum Beispiel. Die Kerne kompostieren nicht schnell, sodass sich die regionalen Landwirtschaftsbetriebe auch freuen, wenn sie die loswerden.”
Diese Form der Biomasse, die von unterschiedlichen Standorten in der Umgebung der Industrieanlage bezogen werden kann, könnte man regionale Energie nennen. Lhoist steckt gerade nach Angaben von Bode „viel Geld“ in die Umstellung der Öfen auf diese Biomasse. Ob das als alleinige Energiequelle für eine Kalkanlage reicht, darüber werde noch diskutiert. Er ist aber der Auffassung, dass es reichen kann. „Wir sind uns noch nicht hundertprozentig sicher, ob es überall reicht. Bei den kleineren Anlagen in Regionen mit Landwirtschaft ist es aber kein Problem“. Aber die Hoffnung ist, dass langfristig auch auf erneuerbaren Strom umgestellt werden kann, obwohl die elektrische Beheizung von Kalköfen noch in der Forschung ist.
CO₂-Speicherung und Nutzung für Lhoist unausweichlich
Damit hat Andreas Bode ein Drittel der Emissionen - theoretisch zumindest - vom Tisch. Der große Brocken kommt aber erst noch. „Da müssen wir über CO₂-Speicherung und Nutzung sprechen. Was anderes geht nicht. Ich wüsste von keiner Möglichkeit“. Also: Das CO₂ wird während der Produktion nicht, wie bisher, in die Luft geblasen, sondern abgetrennt und dann entweder verwendet oder unter der Erde gespeichert.
Verwenden kann man CO₂ zum Beispiel, indem man es in mineralisierter Form speichert, beispielsweise in Beton. Das Problem daran ist nur: So viel Beton, wie man theoretisch herstellen müsste, um all die Emissionen aufzufangen, kann man mit heutigen Verfahren nicht herstellen. „Da kann man lange überlegen, das ist eine schöne Sache und auch richtig für einen Teil der Emissionen, aber nicht für alle Emissionen aus der Kalkherstellung machbar“, so Bode.
Weitere Nutzungsmöglichkeiten für das abgeschiedene CO₂ wäre als Brennstoff im Schwerlastverkehr. Doch damit ist eigentlich niemandem geholfen, schließlich würde das CO₂ dann doch wieder frei werden. Im Grunde bleibt nur noch die CO₂-Speicherung übrig. Das ist auch das, was Lhoist jetzt machen will, wofür die Milliarden ausgegeben werden sollen – auch in Deutschland.
Haushaltskrise verunsichert auch Lhoist in Wülfrath
Das Projekt in Wülfrath wird von Martin Volmer, Senior Manager CO₂ Transformation für Lhoist Germany, beaufsichtigt. Die Fördergelder von der EU sind aktuell für das Projekt „reserviert“, wie er erklärt, man arbeite derzeit an einer Vereinbarung, die noch im Dezember gezeichnet werden könnte. Danach kann es in der Planung konkreter werden, 2025 will Lhoist dann die Investitionsentscheidung treffen.
In Wülfrath sollen zwei Ansätze zur CO₂-Vermeidung verfolgt werden: Zum einen will Lhoist an bestehende Öfen eine CO₂-Abscheideanlage bauen. Zum anderen aber auch vollkommen neuartige Öfen bauen, die mit weniger Energieeinsatz das CO₂ abtrennen können. „Wir sind die ersten, die das in diesem Maße bauen wollen. Wir gehen damit auch große Risiken ein“, erklärt Volmer. Wenn alles klappt wie geplant, kann der erste CO₂-arme Kalk voraussichtlich 2029 sozusagen vom Band rollen. Ab 2032 wollen sie in Wülfrath nahezu vollständig dekarbonisiert wirtschaften.
Insgesamt sollen in Wülfrath alleine schon weit über eine halbe Milliarde Euro investiert werden. Bei dem Projekt in Frankreich werden 200 Millionen Euro investiert. Um das Geld in die Hand zu nehmen, und die Risiken auf sich zu nehmen, ist Lhoist aber auch von einer verlässlichen Politik abhängig – die in Berlin gerade durch das Haushaltsurteil verpufft ist.
„Ich mache mir schon Sorgen, was das für uns bedeutet“, sagt Martin Volmer. Sie brauchen zwar keine direkten Subventionen, das ist nicht das Problem. Vielmehr gehe es darum, eine Art Versicherung im Hintergrund zu haben, zum Beispiel durch die sogenannten Klimaschutzverträge, die zwischen der Bundesrepublik und den Industrieunternehmen geschlossen werden sollten. Ob diese noch kommen, wird gerade in Berlin intensiv beraten. Sollte es im Zuge dieser Transformation – die alle wollen und brauchen – Probleme geben, dann müsse es zwischen den Unternehmen und dem Wirtschaftsministerium eine faire Risikoverteilung geben, so Volmer.
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