„Sozialneid nach unten“
„Entsolidarisierungstendenzen“: Armutsforscher kritisiert niedrigere Steuern bei Superreichen
- VonOlivia Kowalakschließen
Ein Experte für Armut bemerkt in Deutschland einen „Sozialneid nach unten“ und eine Tendenz zur Entsolidarisierung. Anstatt die Reichen zu besteuern, reduziert die Regierung die Unterstützung für die Armen.
München – Armutsforscher sind wegen der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland zunehmend besorgt – und fordern die Regierung dazu auf, mehr Gleichheit durch stärkere Besteuerung von Superreichen zu schaffen. „Es gibt in Deutschland immer mehr Multimillionäre und Milliardäre, die ohne Weiteres höhere Steuern zahlen könnten. Aber dieses Thema wird von den etablierten Parteien tabuisiert“, sagte Armutsforscher Christoph Butterwegge der Augsburger Allgemeinen.
Regierung schaut beim Sparen „nach unten“: Steuersätze begünstigen Superreiche
Das Gesamtvermögen der Superreichen wird Untersuchungen zufolge erheblich unterschätzt, da in bisherigen Analysen das Vermögen meist teilweise unterbewertet wurde. Wie eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, umfassen allein die mehr als 200 Milliardenvermögen der superreichen Haushalte in Deutschland mindestens 1400 Milliarden Euro, also etwa ein Drittel des jährlichen Bruttoinlandproduktes (BIP). Dieses Vermögen verteilt sich auf nur 4300 Haushalte.
Die Untersuchung zeigt zudem, dass Regierungen den stetigen Vermögenszuwachs von Superreichen zusätzlich begünstigen. So seien wichtige Steuersätze zur Besteuerung der Erträge aus Milliardenvermögen seit 1996 deutlich gesenkt worden. Experte Butterwegge kritisiert daher das Vorgehen der Regierung, die aktuell unter Spardruck steht. Denn diese schaue beim Sparen nur „nach unten“. „Entsolidarisierungstendenzen haben in unserer Gesellschaft einen weiteren Höhepunkt erreicht.“ Von Sozialleistungen wie dem Kindergeld profitieren nicht nur arme Menschen, sondern auch die Mittelschicht.
Historischer Vermögensausbau von Milliardären: Kann Vermögenssteuer mehr Ausgleich schaffen?
Krisen wie die Corona-Pandemie, die Energiekrise infolge des Ukraine-Kriegs und die Inflation hätten ärmere Menschen und Teile der Mittelschicht stark getroffen, so der Armutswissenschaftler weiter. „Allein deshalb ist doch klar, dass in solchen Krisensituationen die Ausgaben des Staates steigen.“
Die Supereichen haben hingegen während der pandemischen Krisenjahre laut einer Oxfam-Studie von einem historischen Vermögensausbau profitiert. Die Organisation kritisiert das scheiternde Steuersystem im Hinblick auf die Privilegierung der Superreichen. So wird der Mittelstand in Deutschland mit 43 Prozent besteuert, wohingegen Milliardärinnen lediglich 26 Prozent effektive Steuer- und Abgabensätze davontragen. Grund dafür seien Sonderregelungen und Steuerprivilegien für hohe Vermögens- und Unternehmenseinkommen.
| Schweiz | Österreich | Deutschland | |
|---|---|---|---|
| Milliardäre | 32 Prozent | 26 Prozent | 26 Prozent |
| Multimillionäre | 19 Prozent | 30 Prozent | 29 Prozent |
| Mittelstandsfamilie | 15 Prozent | 42 Prozent | 43 Prozent |
| Höchststeuersätze für Einkommen | 22 - 41,5 Prozent | 55 Prozent | 47,5 Prozent |
In der Schweiz hingegen fallen auf Milliardenvermögen 32 Prozent und auf Mittelstandsfamilien 15 Prozent, weil hier die Vermögenssteuer für Ausgleich sorgt und damit eine progressive Besteuerung zum Mittelstand verstärkt. Eine Vermögenssteuer in Deutschland auf Schweizer Niveau könnte Mehreinnahmen von 73 Milliarden Euro schaffen, wie Oxfam schreibt.
Experte: Regierung vergreift sich bei Bürgergeldkürzungen an Schwächeren
Christoph Butterwegge besorgt zudem noch eine andere gesellschaftliche Entwicklung während der Krisenjahre: Die Angst vor dem sozialen Abstieg führe zum Herabschauen auf ärmere Menschen durch Mittelständler. Man wolle sich dadurch vermeintlich absichern, „weil man ja zu den Fleißigen gehört und die anderen ihre Armut angeblich selbst verschuldet haben“. Politiker nutzten diesen Mechanismus bewusst aus, so der Forscher.
Die Unterstellung, dass über 100.000 Bürgergeldempfänger „Totalverweigerer“ seien, wertet Butterwegge als „Sozialneid nach unten“. „Natürlich gibt es solche Menschen, die den Sozialstaat ausnutzen, aber nur in einer geringen Zahl. Eine rigide Sanktionspraxis, wie sie jetzt gefordert wird, träfe allerdings kaum Trickser und Täuscher, sondern hauptsächlich Menschen, die gesundheitliche oder psychische Probleme und so viel Angst vor dem Jobcenter haben, dass sie dessen Briefe gar nicht mehr öffnen.“
Superreiche sind bei der „komplizierten Steuergesetzgebung“ im Vorteil
Superreiche dagegen sieht der Experte bei der „komplizierte Steuergesetzgebung“ klar im Vorteil, weil viele diese ausnutzten, um dem Staat Geld vorzuenthalten. „Nur wird dieser Missbrauch so gut wie nie öffentlich thematisiert und problematisiert. Lieber vergreift man sich an Schwächeren, die weder Steuerberater noch Anwälte bezahlen können“, faucht der Armutsforscher Richtung Regierung.
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