Prof. Oliver Holtemöller ist stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). © Imago/Litzka
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Prof. Oliver Holtemöller ist stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). © Imago/Litzka

Gastbeitrag Prof. Oliver Holtemöller

Befindet sich Deutschland wirklich in einer Rezession?

  • Prof. Oliver Holtemöller
    VonProf. Oliver Holtemöller
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Die jüngsten Daten zum deutschen Wirtschaftswachstum im ersten Quartal haben für viel Aufsehen gesorgt. Das Bruttoinlandsprodukt ist zum Jahresauftakt das zweite Vierteljahr in Folge geschrumpft. Der Konjunkturchef des IWH, Prof. Oliver Holtemöller, mahnt.

Halle (Saale) – Das Statistische Bundesamt hatte Ende April die vorläufige Schnellschätzung für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal 2023 vorgelegt. Danach belief sich die Zuwachsrate auf 0,046 Prozent (gerundet 0,0 Prozent) nach -0,537 Prozent im vierten Quartal 2022. Mit der Veröffentlichung der detaillierten Ergebnisse für das erste Quartal wurde die Rate nun deutlich revidiert, auf jetzt ‑0,335 Prozent.

Eine verbreitete Definition besagt, dass eine Rezession vorliegt, wenn das preis-, saison- und kalenderbereinigte Bruttoinlandsprodukt zwei Quartale hintereinander zurückgegangen ist. Dies wäre also nach jetzigem Datenstand im Winterhalbjahr 2022/2023 der Fall.

Stimme der Ökonomen

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Rezessions-Daten können sich nachträglich verändern

In Echtzeit wissen wir allerdings gar nicht so genau, ob die Wirtschaftsleistung in den vergangen zwei Quartalen gesunken oder gestiegen ist. Die Berechnung des vierteljährlichen Bruttoinlandsprodukts wird vom Statistischen Bundesamt in der Regel bis zur Sommerrevision vier Jahre nach dem Berichtsjahr aktualisiert, weil bis dahin zusätzliche statistische Informationen eingehen. Dies führt regelmäßig zu mehr oder weniger großen Korrekturen.

Die durchschnittliche absolute Revision (unter Vernachlässigung des Vorzeichens) der Schnellschätzung für die vierteljährliche Veränderungsrate beträgt nach Daten aus der Echtzeitdatenbank der Deutschen Bundesbank, die mit dem Veröffentlichungsdatum Mai 2005 beginnt, 0,26 Prozentpunkte, und die Standardabweichung der Revisionen liegt bei 0,35 Prozentpunkten. Die aktuelle Revision um knapp 0,4 Prozentpunkte für das erste Quartal fällt also nicht deutlich aus dem üblichen Rahmen.

Das bedeutet auch, dass bei einer aktuellen Schätzung von ‑0,3 Prozent eine tatsächlich positive Rate keineswegs statistisch ausgeschlossen werden kann; und selbst der aktuelle Ausweis eines Rückgangs um ein halbes Prozent im vierten Quartal 2022 bietet keine Sicherheit, dass der finale Wert tatsächlich negativ sein wird. Einen Vorzeichenwechsel bei der Revision gab es zum Beispiel für das erste Quartal 2018: die Schnellschätzung betrug +0,3 Prozent, jetzt stehen ‑0,6 Prozent in der amtlichen Statistik.

Das 95-Prozent-„Prognose“-Intervall für die Zuwachsrate des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts (aktuelle Schätzung plus/minus zwei Standardabweichungen basierend auf früheren Revisionen) im vierten Quartal 2022 reicht von -1,1 Prozent bis +0,1 Prozent und für das erste Quartal 2023 von -1,0 Prozent bis +0,4 Prozent. Beide Intervalle beinhalten also positive wie negative Werte. Wir wissen somit schlicht nicht mit Sicherheit, ob wir gerade zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativen BIP-Raten hatten oder nicht.

Wirtschaftspolitik sollte sich nicht nach BIP-Schnellschätzung richten

Die statistische Unsicherheit lässt Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Frage nach einer gegenwärtigen Rezession aufkommen. Als Gradmesser für die aktuelle Wirtschaftspolitik taugt die BIP-Schnellschätzung jedenfalls nur bedingt. Hinzukommt, dass die Potenzialwachstumsrate der deutschen Wirtschaft (die Wachstumsrate bei Normalauslastung der Kapazitäten) nach Schätzung der Gemeinschaftsdiagnose von jahresdurchschnittlich 1,3 Prozent im Zeitraum 1996 bis 2022 auf 0,7 Prozent in den Jahren 2022 bis 2027 zurückgehen wird, unter anderem aufgrund des rückläufigen Arbeitsvolumens. Die vierteljährlichen Raten werden demnach ebenfalls sinken – von zuvor durchschnittlich gut 0,3 Prozent auf künftig knapp 0,2 Prozent –, sodass die ersten Schnellschätzungen häufiger in der Grenzregion um Null liegen werden.

Für mich ergeben sich daraus zwei Schlussfolgerungen: Erstens sollte sich die Wirtschaftspolitik nicht zu stark an der ersten Schnellschätzung für das Bruttoinlandsprodukt orientieren. Wichtiger ist es, die großen strukturellen Phänomene wie Demografie, Dekarbonisierung und Digitalisierung im Blick zu haben.

Zweitens wäre es sinnvoll, die Zuverlässigkeit der Schnellschätzungen zu verbessern. Dies ist keine Kritik an der methodischen Arbeit der statistischen Ämter. Vielmehr bräuchten wir mehr und vor allem aktuellere Daten für eine zuverlässigere Konjunktureinschätzung in Echtzeit. Aber selbst, wenn es gelänge, die Genauigkeit der Schnellschätzung zu erhöhen, ist es nicht sonderlich relevant, ob die Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes kurzfristig knapp unter oder knapp über Null liegt. Theoretisch aussagekräftiger ist der Vergleich mit der Potenzialwachstumsrate, sodass man die Veränderung des Auslastungsgrades der Wirtschaft beurteilen kann. Allerdings ist die Potenzialwachstumsrate in Echtzeit noch schwieriger zu schätzen als die tatsächliche Rate.

Zum Autor: Prof. Dr. Oliver Holtemöller ist stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und Professor für Volkswirtschaftslehre, insb. Makroökonomik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.