„Haus, das Verrückte macht“
Neues Gutachten fordert Reform von Bürgergeld & Co: Absurde Grafik zeigt „Sanierungsfall“ Sozialstaat
VonAmy Walkerschließen
Der Normenkontrollrat hat ein neues Gutachten mit Vorschlägen für eine Reform des Sozialstaats vorgelegt. Mit einer Grafik schildert er jedoch zunächst, wie groß die Probleme überhaupt sind.
Berlin – „Wege aus der Komplexitätsfalle“: So lautet der Titel eines neuen Berichts des Normenkontrollrats, das der Bundesregierung Möglichkeiten zur Vereinfachung des Sozialstaats aufzeigen soll. Allerdings muss zunächst einmal zusammengefasst werden, worin die Probleme liegen – und alleine da fängt einem der Kopf schon an zu rauchen. Denn durch viele kleine und große Reformen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ist ein extrem bürokratisches Konstrukt entstanden, durch das kaum einer durchblicken kann.
Grafik zeigt absurdes deutsches Sozialsystem
So fasst es auch die Beratungsgesellschaft Deloitte, die vom Normenkontrollrat beauftragt wurde, in ihren einleitenden Sätzen zusammen: „Über Jahrzehnte hinweg wurden dem Sozial- und Steuerrecht neue Regelungen, Instrumente und Leistungen hinzugefügt. Das Resultat ist ein umfangreiches Rechtsgefüge mit einem überaus komplexen Leistungssystem.“ Es sei daher selbst für Fachleute schwer zu verstehen, wie genau der deutsche Sozialstaat funktioniert. „Erschwerend kommt hinzu, dass der Rechtsrahmen eine Vielzahl unterschiedlicher und widersprüchlicher Rechtsbegriffe enthält,“ so die Autoren.
Im weiteren Verlauf des Gutachtens wird eine Grafik vorgestellt, die den Status Quo der Sozialleistungen zeigt, unter dem Titel „Sanierungsfall? Haus der sozialen Hilfe und Förderung“. Vielmehr sei das Haus aber, so lautet es im Gutachten, ein „Haus, das Verrückte macht“ – wie in dem bekannten Comic von Asterix und Obelix.
Der Normenkontrollrat besteht aus zehn ehrenamtlichen Mitgliedern und ist beim Bundesministerium der Justiz angesiedelt. Er hat den Auftrag, Gesetzesvorhaben hinsichtlich des damit verbundenen bürokratischen Aufwands zu prüfen.
Reform sei auch zum Schutz der Demokratie: „Wahrnehmung des Staates leidet“
Ein weiteres Problem beim aktuellen Sozialleistungssystem sei zudem, dass viele staatliche Hilfen nicht bei denjenigen ankommen, die Anspruch hätten. Das haben in Vergangenheit schon viele Ökonomen und Experten bemängelt. Insbesondere die fehlende Abstimmung zwischen Wohngeld und Bürgergeld führe in bestimmten Konstellationen dazu, dass Menschen, die mehr arbeiten wollen, bestraft werden. Zu diesem Schluss kam Anfang des Jahres eine Analyse des ifo-Instituts.
„Und auch die Wahrnehmung des Staates leidet. Wer von einer Behörde zur nächsten verwiesen wird und im Leistungsgeflecht vergeblich nach Orientierung sucht, kann sich leicht als Bittsteller fühlen und als Kurier zwischen unkoordiniert und wenig digital arbeitenden Behörden“, heißt es warnend im neuen Gutachten. Wer das Vertrauen in die Demokratie erhöhen wolle, müsse an einer Sozialleistungsreform interessiert sein. „Wenn sich durchschnittliche Familien nach der Geburt eines Kindes an vier Behörden wenden und fünf Leistungen beantragen müssen, bindet das auch aufseiten der Verwaltung unnötig Ressourcen“.
Im Wesentlichen führe kein Weg daran vorbei, das System gänzlich umzukrempeln – und am besten unter die Schirmherrschaft einer einzigen Behörde zu stecken. An vielen Stellen müsste eine Automatisierung eingeführt werden, die vieles vereinfachen und digitalisieren sollte. „Die Bündelung der federführenden Zuständigkeit für die Regelung aller Leistungen der sozialen Sicherung in einem Bundesministerium ist die logische Konsequenz“, so das Gutachten.
Kindergrundsicherung hat „Potenzial“ – schafft aber auch zusätzliche Probleme
Genau dieses Ziel verfolgt – zumindest theoretisch – die von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) vorangetriebene Kindergrundsicherung. Das Gutachten schreibt, dass der Entwurf dazu auch „Potenzial“ habe, das allerdings noch nicht „ausgeschöpft“ wurde, „weil Leistungsbestandteile nicht konsequent gebündelt, angrenzende Leistungen wie Bürgergeld und Wohngeld nicht ausreichend adressiert und Behördenkontakte nicht reduziert, sondern erhöht wurden.“
Der stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Andreas Audretsch, wertete das Gutachten dennoch als „Rückenwind“ für die Kindergrundsicherung. „Wir haben die Chance, die Grundlage zu legen für eine echte Modernisierung unseres Sozialstaates, wir setzen auf Bündelung von Leistungen und Transparenz, auf Digitalisierung der Abläufe und eine automatische Auszahlung“, erklärte er. Der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Pascal Kober, sieht die Koalition ebenfalls bereits auf dem Weg. „Um nicht in Bürokratie zu ersticken, müssen wir uns zudem vom absoluten Fokus auf jederzeitige Einzelfallgerechtigkeit verabschieden.“
In dem beauftragten Gutachten heißt es, aufgrund fehlender organisatorischer Vorgaben und technischer Standards verfüge der örtliche Sozialleistungsvollzug in der Regel über jeweils spezifische Strukturen, Prozesse und IT-Systeme. Angesichts des Fachkräftemangels sei es fraglich, ob die Handlungsfähigkeit der Sozialleistungsverwaltung langfristig sichergestellt werden könne.
Mit Material von dpa
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