Neue Studie

Armut in Deutschland: Ein Dauerzustand mit gefährlichen Folgen

Die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland öffnet sich weiter. Ein neuer Bericht zeigt alarmierende Trends und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Frankfurt – Armut ist für viele Menschen in Deutschland ein Dauerzustand, Reichtum auch: Wer arm ist, bleibt arm; wer reich ist, bleibt reich. Und in den krisenreichen Jahren der jüngeren Vergangenheit hat sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet – mit gefährlichen Folgen auch für die Demokratie. Dies zeigt der jährliche Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. „Wir sehen deutliche Indizien, dass die Krisen der letzten Jahre die Ungleichheit vergrößert haben“, sagte WSI-Forscherin Dorothee Spannagel bei der Vorstellung des Berichts am Donnerstag.

Die Armutsquote im Jahr 2022 lag mit 16,7 Prozent höher als vor Beginn der Pandemie.

Armutsquote in Deutschland höher als vor der Pandemie

So lag die Armutsquote im Jahr 2022 mit 16,7 Prozent höher als vor Beginn der Pandemie (15,9 Prozent 2019). Die Anteil der Menschen, die in strenger Armut leben, stieg ebenfalls: von 9,7 Prozent auf 10,1 Prozent. Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des Medieneinkommens zur Verfügung hat. Das sind etwa 1200 Euro pro Monat. Menschen in strenger Armut müssen mit 1000 Euro oder weniger über die Runden kommen.

„Der hohe Anteil armer Menschen ist besorgniserregend“, sagte Bettina Kohlrausch. Die wissenschaftliche Direktorin des WSI bezog sich dabei nicht nur auf die individuellen Folgen für Betroffene, sondern weitete den Blick: „Wir sehen eine Gesellschaft unter Druck“, sagte Kohlrausch in Bezug auf Pandemie, Inflation und Kriege. „Und die wachsende Armut hat das Potenzial, die Gesellschaft weiter unter Druck zu setzen.“

Armut geht einher mit Sorgen und einer latenten Unzufriedenheit

Denn, auch das zeigt die WSI-Studie, Armut ist ein Risiko für die Demokratie. Sie geht häufig einher mit Sorgen um die eigene Gesundheit und um die Rente, mit einer latenten Unzufriedenheit und einer fehlenden Wertschätzung, mit bröckelndem Vertrauen in Parteien, Polizei und Bundestag. Überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind laut WSI Arbeitslose, Minijobber und Minijobberinnen, Menschen in Ostdeutschland, Frauen, Alleinerziehende sowie Zugewanderte, Singles und Menschen mit niedrigen Schulabschlüssen.

Für die Studie wertete Spannagel gemeinsam mit ihrem Co-Autor Jan Brülle Daten aus zwei repräsentativen Umfragen aus: Für den Mikrozensus wurden rund 800 000 Menschen befragt, seine Daten reichen bis ins Jahr 2022. Die zweite Quelle ist das sozio-ökonomische Panel (SOEP) aus dem Jahr 2021, für das rund 15 000 Haushalte interviewt wurden.

Einige Schlaglichter: Im Jahr 2021, also vor der großen Teuerungswelle, fehlte knapp vier Prozent der dauerhaft Armen das Geld, die eigene Wohnung zu heizen. Neue Schuhe konnten sich knapp fünf Prozent der dauerhaft Armen nicht leisten. Dauerhaft arm ist, wer fünf oder mehr Jahre arm ist.

Der wirtschaftliche Mangel reicht aber auch in die Mittelschicht hinein: Knapp neun Prozent der Menschen mit mittleren Einkommen haben keine Rücklagen. 18,6 Prozent von ihnen sorgen sich um die eigene Altersversorgung, 8,7 Prozent haben „große Sorgen“ mit Blick auf die eigene wirtschaftliche Situation.

Arme erleben häufiger Geringschätzung als Reiche

Die WSI-Forscher:innen konnten auch zeigen, dass Arme häufiger Geringschätzung erleben als Reiche. Knapp 24 Prozent der dauerhaft Armen gaben an, „dass andere auf sie herabsehen“. Reiche spüren dagegen viel Wertschätzung. „Solche Unterschiede im Erleben von Anerkennung und Missachtung können eine Entfremdung unterer Einkommensklassen von der Gesellschaft, aber auch vom politischen System begünstigen“, warnen die WSI-Forschenden.

Tatsächlich gibt es unter den Reichen laut der WSI-Studie nur wenige Menschen, die der Polizei oder dem Rechtssystem misstrauen. Unter den dauerhaft Armen haben dagegen knapp 22 Prozent ein geringes Vertrauen in die Polizei und knapp 37 Prozent kaum Vertrauen in das Rechtssystem.

Für Bettina Kohlrausch steht der Vertrauensverlust in Institutionen in einem Zusammenhang mit dem Erstarken der AfD. Allerdings: Ein geringeres Vertrauen in Bundestag oder Parteien mache die Demokratie zwar poröser. „Aber nicht alle wählen automatisch die AfD.“ Es erhöhe lediglich die Wahrscheinlichkeit.

Was also tun? Für die WSI-Fachleute ist die Politik gefordert. „Jemand, der Bürgergeld bezieht, darf nicht mehr unterhalb der Armutsgrenze liegen“, sagte Spannagel. Die Grundsicherung müsse also auf ein armutsfestes Niveau angehoben werden. Ebenso brauche es einen höheren Mindestlohn, eine Stärkung der Tarifbindung und mehr Weiterbildungen. Und: „Wir müssen die Reichen wieder stärker an der Finanzierung des Gemeinwohls beteiligen“, sagte Spannagel, etwa durch eine Vermögensteuer oder durch das Schließen von Löchern bei der Erbschaftsteuer.

Forderung nach 14 Euro Mindestlohn

Auch die linke Bundestagsabgeordnete Susanne Ferschl fordert eine Stärkung der Tarifbindung und einen „armutsfesten gesetzlichen Mindestlohn“, der nicht unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens liegen dürfe. „Er müsste wenigstens auf 14 Euro erhöht werden, nur so können endlich alle Menschen von ihrer Hände Arbeit leben“, sagte Ferschl der FR. Außerdem müssten Betriebsräte besser geschützt werden. „Ohne wirksames Gegensteuern wird die gesellschaftliche Spaltung weiter zunehmen“, ist sich Ferschl sicher.

Für Stephan Stracke, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, geht der Ruf nach höheren Sozialleistungen dagegen „zielsicher in die falsche Richtung“. Denn durch sie sinke der Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen. „Ziel einer christlich orientierten Politik muss es aber sein, die Menschen dazu zu befähigen, sich aus der Bedürftigkeit zu befreien“, sagte Stracke der FR. Das gelinge aber nicht durch höhere Leistungen, sondern durch eine schnellere und dauerhafte Vermittlung in Arbeit.

Für Menschen im Niedriglohnsektor schlägt Stracke vor, Überstunden von der Steuer zu befreien und bei den Sozialabgaben auf die „Bremse“ zu treten. Denn: „Leistung und Fleiß müssen sich lohnen!“ Eine politische Erhöhung des Mindestlohns lehnt Stracke ab; dies sei Sache der Tarifpartner.

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