Lesung
Altbundespräsident Joachim Gauck wird in Nidderau für Plädoyer zur Ermächtigung der Bürger gefeiert
VonJan-Otto Weberschließen
Eine Lehrstunde in europäischer Geschichte, Demokratie und selbstbewusstem Staatsbürgertum erfuhren am Freitagabend mehr als 300 Gäste im ausverkauften Ostheimer Bürgerhaus. Gast des Abends: Bundespräsident a. D. Joachim Gauck.
Nidderau – Markus Bernard als Vertreter des Kulturbeirats der Stadt Nidderau zeigte sich „schon etwas stolz“ darauf, dass das Gremium den Bundespräsidenten a. D. Joachim Gauck für eine Lesung seines aktuellen Buches „Erschütterungen – Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“ gewinnen konnte.
Dabei bewies Gauck Showtalent. „Einige von Ihnen wollen sicher noch das Fußballländerspiel schauen. Wenn Ihnen mein Vortrag zu lange dauert, gehen Sie einfach. Denken Sie daran: Sie sind das Volk!“ Mit Einwürfen wie diesen erntete der 84-Jährige immer wieder Lacher und sorgte zwischendurch für Entspannung im Saal bei seinen sonst doch sehr ernsten Themen an diesem Abend: die Bedrohung der liberalen Demokratie durch radikale Kräfte wie die AfD und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Gauck berichtet Nidderauern von eigenen Lebenserfahrungen
„Eigentlich bin ich ja in Deutschland für das Thema Zuversicht zuständig“, eröffnete Gauck und las aus der Einleitung seines Buches, übrigens die einzige „Lesung“ des Abends. Denn die übrige Zeit sprach er, alleine am Pult auf der Bühne sitzend, in freier Rede.
„Dreimal stand sie mir vor Augen, auf je eigene Weise, unsere Demokratie“, schilderte der Altbundespräsident. Als er jung gewesen sei und in der „Diktatur“ der DDR lebte, sei die Demokratie das „ferne, leuchtende Sehnsuchtsziel“ gewesen. Mit 50 Jahren, nach der friedlichen Revolution, die er als Pastor und engagierter Systemgegner in Rostock mitgestaltet hatte, war sie erreicht, „fest gegründet und sicher“.
Gauck: „Demokratie zeigt ihre Schwächen.“
Nun, „am Abend meines Lebens“, habe sich das Gefühl der Sicherheit reduziert. „Die Demokratie zeigt jetzt deutlich ihre Schwächen.“ Die „liberale Demokratie“, von der er spreche, in der Merkmale wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Medienpluralität sowie der Schutz von Minderheiten erfüllt seien, sei aus sich heraus bedroht, da sie Möglichkeiten biete, durch Mehrheitsentscheidungen eben diese Grundlagen zu verändern.
Es gebe zwei Unwägbarkeiten, wie Gauck am Beispiel des früheren und nun wieder kandidierenden US-Präsidenten Donald Trump erklärte: Wie entscheiden sich die Wähler? Und wie entscheiden sich die Gewählten? „Wenn unser Land von innen angegriffen wird, muss es resistent werden gegen illiberale, fundamentalistische und populistische Kräfte aller Art“, konstatierte der frühere Bürgerrechtler. „Die gegenwärtigen Erschütterungen und Veränderungen können unsere Demokratie am Ende nur dann wirklich bedrohen, wenn wir, die Bürgerinnen und Bürger, allein mit Angst und Ignoranz reagieren.“
Größter Wandel in der Menschheitsgeschichte
Ausführlich ging Gauck auf die Gründe für die gegenwärtigen Erschütterungen ein. Mit Klimawandel, Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, Kriegen und Migrationsbewegungen erlebe die Menschheit den größten Wandel in ihrer Geschichte. Die Politik müsse in solchen Zeiten eine klare Führung zeigen.
So etwa in der Unterstützung für die Ukraine. Der Anteil der Militärausgaben in der Regierung Willy Brandt beispielsweise habe mindestens 3,5 Prozent betragen. Und dies trotz der irgendwann ausgehöhlten Annäherungspolitik an die Sowjetunion, die Gauck ebenso ausführlich analysierte wie Putins imperialistisches Streben nach dem Vorbild der Zaren sowie Lenins und Stalins.
Gegen „Putin-Propaganda“ und für Wehrfähigkeit
Der heutige Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius habe klare Forderungen, um die Bundeswehr wehrfähig zu machen. Der Zeitenwende-Rede von Kanzler Olaf Scholz müssten endlich Taten folgen, forderte Gauck. Dabei widersprach er der „Putin-Propaganda“, Russland wehre sich gegen eine zu dicht herangerückte Nato. Es habe nie eine vertragliche Zusicherung eines „Sicherheitskorridors“ für Russland gegeben.
Das Völkerrecht gelte für alle Staaten, jeder dürfe frei entscheiden. Putin habe Finnland und Schweden ja selbst erst in die Nato gedrängt. „Eine vorgebliche Friedenspolitik, die sich nicht wehrt, ist eine Einladung an den Aggressor. Auch Christenmenschen dürfen sich für die Verteidigung und die Bekämpfung von noch größerem Unrecht einsetzen“, sagte Gauck und erhielt kräftigen Beifall im Bürgerhaussaal.
Ein Drittel der Menschen hat „autoritäre Disposition“
Wehrhaftigkeit forderte der frühere Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen auch bezüglich des zweiten Themenkomplexes seines Buches, der Bedrohung der liberalen Demokratie. Die demokratischen Parteien müssten auch unbequeme Themen anpacken, sonst würden andere Kapital daraus schlagen. Wenn die Menschen Verunsicherung bei der Regierung spürten, verlören viele das Vertrauen und wendeten sich radikalen Kräften zu. Etwa 30 Prozent der Menschen in europäischen Gesellschaften hätten laut Studien eine solche vererbte oder früh erworbene „autoritäre Disposition“. Ihnen gelte Sicherheit mehr als Freiheit.
Dabei betonte Gauck: „Die Wähler der AfD sind nicht alle Nazis. Diese Menschen brauchen ein klares wertkonservatives Angebot, allerdings ohne in die Ressentimentkiste zu greifen“, appellierte er auch an die Union, ihre politische Aufgabe in diesen fragilen Zeiten verantwortlich zu erfüllen. Mit Verweis auf Muster-Demokratien wie die Schweiz oder Schweden betonte Gauck im Übrigen, dass das Erstarken des Rechtspopulismus kein rein deutsches oder gar ostdeutsches Problem sei.
Gauck: „Auf die Bürger kommt es an!“
Um die Demokratie als eine Ordnung der Freiheit und Gleichheit zu erhalten, müsse sie von einem verantwortungsstarken Geist ihrer Bürger getragen sein. „Wer hat denn dieses wunderbare Land aufgebaut? Doch nicht die Radikalen!“, rief Gauck den gebannten Zuhörern im Saal zu. „Wer sind wir denn, dass wir denen unsere Ängste schenken? Wir als Bürger sind es, auf die es ankommt!“
Und die derart ermutigten Bürger dankten ihrem Altbundespräsidenten mit stehenden Ovationen.
Infos zum Buch
„Erschütterungen – Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“. Joachim Gauck und Helga Hirsch, Siedler-Verlag, 240 Seiten, ISBN 978-3-8275-0181-3, 24 Euro. (Von Jan-Otto Weber)

