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„Rennen immer gegen die gleiche Wand“: Grünen-Politiker Marquardt fordert neue Migrations-Politik

  • Florian Naumann
    VonFlorian Naumann
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Schrille Töne, wenig Perspektive: Deutschland scheint mit seiner Migrationspolitik zu scheitern. Erik Marquardt fordert bei FR.de eine Neuausrichtung.

Brüssel/Frankfurt – Deutschlands Politiker überschlugen sich zuletzt mit neuen markigen Worten, Plänen, Forderungen zur Migrationsfrage. Die ersten Aufschläge der Ampel-Koalition dürften aber keinen großen Effekt haben – jedenfalls auf die Zahl der Ankünfte Asylsuchender und der Abschiebungen: 600 „Rückführungen“ pro Jahr soll das Abschiebepaket von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bringen. Zugleich fürchten Geflüchtetenvertreter aber massive Grundrechtseingriffe. Der teure Tunesien-Deal der EU scheint ebenfalls bereits vor dem Aus zu stehen.

Wie aber geht es besser? Experten fordern handfeste Abkommen mit Herkunftsstaaten. Kanzler Olaf Scholz (SPD), Faeser und der Ampel-Sonderbevollmächtigte Joachim Stamp (FDP) sind aktuell in Afrika unterwegs – auch um neue Vereinbarungen auszuhandeln.

Möglich aber, dass sie für erfolgreiche Verhandlungen einen neuen Ansatz bräuchten. Erik Marquardt, profilierter Migrationspolitiker der deutschen Grünen im Europaparlament, zieht im Gespräch mit FR.de von Ippen.Media eine bittere Bilanz der letzten Jahrzehnte hitziger Asyldebatten in Deutschland. Der EU um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen attestiert er „Naivität“ bei Verhandlungen mit Autokraten. Nötig und vor allem zielführend sei jetzt: An die Bedürfnisse der Menschen in potenziellen Partnerländern zu denken.

Deutschen Migrationsdebatte ein riskanter Irrweg: „Gefühlte Dauerkrise“

Ippen.Media: Herr Marquardt, was läuft aus Ihrer Sicht in der deutschen Migrationsdebatte falsch?
Erik Marquardt: Der Wettbewerb um die härteste Rhetorik über Rückführungen wird nur die Rechtspopulisten als Gewinner haben. Unser Einwanderungsland ist gefesselt in Bürokratie und Realitätsverweigerung, da helfen Debatten um Abschiebungen im großen Stil nicht. Die meisten Menschen, die kommen, dürfen bleiben. Es muss darum gehen, wie sie schnell Teil der Gesellschaft werden. Die letzten Jahrzehnte hat man immer wieder die gleichen Debatten über Abschreckung, Abschottung und Abschiebungen geführt. Das Ergebnis ist, dass wir tausende Regeln haben, bei denen niemand durchsieht, dass es an Geld für die Integration fehlt und dass wir in einer gefühlten Dauerkrise sind.
Wie würde es denn besser gehen?
Wir müssen jetzt mal den Schalter umlegen, statt immer wieder gegen die gleiche Wand zu rennen. Wer weniger Sozialleistungen ausgeben will, sollte erstmal alle Arbeitsverbote abschaffen. Und wenn man Migration wirklich ordnen will, braucht man nicht neue Regelungen in Deutschland, sondern Abkommen mit Drittstaaten, um irreguläre durch reguläre Migration zu ersetzen. Dazu muss man den Staaten ernsthaft etwas anbieten.
Viele Politiker sagen, dass es zu viel Migration gibt, aber das ist falsch. Wenn wir unser Rentensystem und unsere Wirtschaft erhalten wollen, brauchen wir mehr Migration. Aber wir müssen in die entsprechende Infrastruktur investieren und die Dinge besser steuern. Migrationsabkommen sind der zentrale Schlüssel dafür.
Der Grünen-Europaparlamentarier Erik Marquardt kritisiert im Ippen.Media-Interview die Stoßrichtung der Migrationsdebatte in Deutschland.

Migrations-Flop der EU in Tunesien? „Naiver kann man nicht verhandeln“

So ganz trivial scheint das aber auch nicht. Wer sollte solche Abkommen denn verhandeln? Ist das eine Angelegenheit für die EU – oder für den Ampel-Bevollmächtigten Joachim Stamp?
Wir haben als Grüne in der Bundesregierung keine Zuständigkeiten für die Migrationspolitik. Aber wir sollten es uns nicht so leicht machen und mit dem Finger auf andere zeigen. Es muss ein gemeinsames Verständnis davon geben, dass Migrationsabkommen in der Vergangenheit gescheitert sind, weil sie einseitig auf Rückführungen gesetzt haben. Aber wenn die Zahl der Asylanträge aus Ländern wie Tunesien sinken soll, braucht es ernsthafte Migrationsangebote und Perspektiven für die tunesische Bevölkerung und nicht ein paar Millionen für einen Diktator. Man sollte die Flucht aus afrikanischen Staaten nach Deutschland aber auch nicht überschätzen, sie macht nur etwa 12 Prozent der Asylanträge hier aus.

Wir sollten es uns nicht so leicht machen und mit dem Finger auf andere zeigen.

Erik Marquardt sieht beim Thema Migration auch seine Grünen in der Pflicht.
Die entscheidende Frage womöglich: Wie könnten solche „Angebote und Perspektiven“ denn konkret aussehen?
Migrationspolitik ist keine Showveranstaltung. Wenn man sich hinstellt und in Pressekonferenzen erklärt, dass eine Fluchtroute bald geschlossen wird, steigen natürlich die Zahlen. Naiver kann man nicht verhandeln. Und da man keinen Vertrag mit dem tunesischen Machthaber hat, treibt er jetzt den Preis hoch. Wenn Verhandlungen mit solchen schwierigen Partnern erfolgreich sein sollen, muss man nicht nur die eigenen Interessen, sondern die Interessen der Bevölkerung in Tunesien in den Blick nehmen. Wenn man hier ein ernsthaftes Angebot macht, zum Beispiel Visa-Erleichterungen, kann sich Diktator Saied dem schwer verweigern. Die Westbalkanregelung ist hier ein gutes Vorbild.

Die „Westbalkanregelung“

Seit 2016 können Bürgerinnen und Bürger der Westbalkanstaaten (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien) in ihrem Heimatland Arbeitserlaubnisse für Deutschland beantragen – wenn die Bundesagentur für Arbeit im Einzelfall zustimmt. Aktuell können 25.000 „Zustimmungen“ pro Jahr erteilt werden.

EU-Migrations-Deal mit „Autokrat“ Saied: „Natürlich wollen da viele weiter nach Europa“

Die EU ist mit ihren großen Hoffnungen in Tunesien also gescheitert?
Ja, das Abkommen mit Tunesien ist gescheitert. Es funktioniert nicht, Autokraten wie Kais Saied ganz viel Geld zu geben und dann zu hoffen, dass er alles macht, was die EU will. Saied ist ein Rassist, der die Stimmung gegen Schwarze Menschen in Tunesien so angeheizt hat, dass es zu pogromartiger Stimmung kam. Und noch bevor die Tinte unter seinem Deal mit Meloni und von der Leyen trocken war, hat er Schwarze Menschen in die Wüste bringen lassen, um sie dort ihrem Schicksal zu überlassen. Das sind keine Bedingungen, unter denen Geflüchtete in Tunesien bleiben können – natürlich wollen da viele weiter nach Europa und sind bereit dafür in Boote zu steigen und ihr Leben zu riskieren.
 

Interview: Florian Naumann

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