Nationale Sicherheitsstrategie
Russland auf absehbare Zeit „größte Bedrohung“: Wo Generalmajor Stahl alle Deutschen gefordert sieht
VonFlorian Pfitznerschließen
Der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Wolf-Jürgen Stahl, erklärt, welche Verantwortung die Zivilgesellschaft im Krisenfall trägt.
Berlin – Die Kriege und Krisen der Welt streifen inzwischen sogar harmlose Sommerfeste im Herzen der Republik – genauer gesagt: das Kunstfest Pankow. Seit ihrem Umzug in die Schlossanlage Schönhausen vor zwanzig Jahren beteiligt sich die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) engagiert für ihr Quartier. Zwischen Poesie und Plastiken stellte sie nun die Frage, ob sich die Festgäste in Europa sicher fühlen. Ungefähr 600 Menschen haben bei dem kleinen Meinungsbild mitgemacht, die meisten empfinden ein hohes Maß an Sicherheit. Nur etwa jeder zwölfte Befragte gab an, er fühle sich eher nicht sicher in Europa.
Wenige Tage nach dem Kunstfest empfängt Generalmajor Wolf-Jürgen Stahl zum Gespräch mit dieser Redaktion. Der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik hat sich seit der Zeitenwende eine klare Meinung zur Gefühlslage der Deutschen gebildet. „Wir sollten alle unsere Sinne schärfen“, rät Stahl, der mehrfach einen prägenden Satz des amtierenden Bundeskanzlers zitiert: „Ohne Sicherheit ist alles andere nichts.“
Russlands Ukraine-Krieg beunruhigt die Deutschen am meisten
Olaf Scholz (SPD) hat diesen Satz auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor den versammelten Staats- und Regierungschefs ausgesprochen. Für Generalmajor Stahl ist er zum Leitmotiv geworden. Er begrüßt es sehr, dass die Bundesregierung sich vor genau einem Jahr dazu durchgerungen hat, die erste Nationale Sicherheitsstrategie dieses Landes aufzusetzen. „Der Fall der Fälle muss ja nicht unbedingt ein militärischer Angriff sein“, erklärt Stahl. „Wir haben in Deutschland ja gerade erst Hochwasserkatastrophen und eine Pandemie erlebt.“
In der Nationalen Sicherheitsstrategie führt die Bundesregierung aus, wie sie auf äußere und innere Gefahren reagieren will. Die „größte Bedrohung“ sei auf absehbare Zeit Russland. Sicherheitspolitik sei jedoch mehr als die Summe aus Diplomatie und Militär und „auf jeden einzelnen Menschen ausgerichtet“, heißt es in dem Strategiepapier für ein widerstandsfähiges Deutschland: „Unverzichtbare Grundlage unserer Wehrhaftigkeit sind Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, ihren Beitrag hierzu zu leisten.“ Zum Schutz des Gemeinwesens setzt Scholz‘ rot-grün-gelbe Bundesregierung in Krisen- oder Katastrophenlagen auf ehrenamtliches Engagement und lebendige Nachbarschaften.
Die Verantwortung jedes Einzelnen: Der Generalmajor sagt‘s mit John F. Kennedy
Mit Generalmajor Stahl ist zum ersten Mal ein aktiver Bundeswehrsoldat Präsident der BAKS. Er begreift die bislang eher grob gefassten Regierungsvorgaben so: „Es sollte grundsätzlich jeden Menschen auf der Straße interessieren, dass er oder sie Verantwortung für die Sicherheit dieses Landes trägt.“ Wie das konkret gemeint ist? „Wenn der Einzelne aus dem zivilen Leben eine Fähigkeit hat“, erklärt Stahl, „ob in Zweitfunktion als ausgebildeter Rettungssanitäter oder als Maschinist bei der Freiwilligen Feuerwehr, kann er einen Beitrag für diese Gesellschaft leisten.“
Man könne es auch mit den Worten des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy sagen: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“
Stahl empfiehlt außerdem, im eigenen Haushalt für einen möglichen Krisenfall vorzubeugen. „Jeder muss in der Lage sein, sich eine gewisse Zeit versorgen zu können – bis staatliche Mechanismen greifen“, sagt er. „Es wäre also beispielsweise ratsam, sich für 14 Tage einen Vorrat an Wasser und Konserven zusammenzustellen.“
Umfrage zeigt Sicherheitsempfinden der Deutschen – Sorge vor Bedrohung durch Russland sinkt
Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr fragt regelmäßig nach dem Sicherheitsgefühl in Deutschland. Im Jahr 2023 habe sich das generelle Sicherheitsempfinden geringfügig verbessert, bleibe jedoch weiterhin deutlich unter dem Niveau vor dem Ukraine-Krieg, sagt der Politikwissenschaftler und Studienautor Timo Graf. Den jüngsten Ergebnissen seiner Befragung zufolge fühlt sich eine absolute Mehrheit von 61 Prozent persönlich sicher, zwei Jahre zuvor äußerten dies noch 72 Prozent. Weniger als die Hälfte der Befragten (46 Prozent) schätzt die Lage in Deutschland als sicher ein (2021: 61 Prozent). Die weltweite Sicherheitslage wird lediglich von 17 Prozent positiv bewertet (2021: 24 Prozent).
Im Vergleich zum ersten Kriegsjahr 2022 ist in Deutschland das Gefühl der Bedrohung durch den russischen Angriff laut der aktuellen Befragung gesunken (34 Prozent, -11 Prozentpunkte). Groß bleibt indes die Sorge vor Spannungen zwischen dem Westen und Russland (55 Prozent, -5 Prozentpunkte) und vor einem weltweiten militärischen Wettrüsten (43 Prozent; -1 Prozentpunkt). Die Deutschen beunruhigen eher jene Faktoren, die durch den Ukraine-Krieg verstärkt werden: Inflation und Zuwanderung.
Fazit mit Baerbock und Co.: Nationale Sicherheitsstrategie soll jetzt in die nächste Phase gehen
Anfang Juli ziehen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und weitere Mitglieder der Bundesregierung in der Schlossanlage Schönhausen ein erstes Fazit zur Nationalen Sicherheitsstrategie. „Das Strategiepapier muss jetzt weiterentwickelt werden“, fordert BAKS-Präsident Stahl. Im Krisen- oder Konfliktfall müsse es geordnete Abläufe geben. „Die Entscheidungsträgerinnen und -träger müssen nicht unbedingt in einem nationalen Sicherheitsrat sitzen, aber die Prozesse und Verfahren sollten im Ernstfall klar geregelt sein“, sagt der Generalmajor. „Es braucht jetzt haushaltspolitisch klare Prioritäten für die Sicherheit in diesem Land.“
Rubriklistenbild: © BAKS / Martin Stollberg
